Betrachtung über Titus (Synopsis)
Kapitel 3
Was das Verhalten der Christen gegenüber der Welt betrifft, so hat die Gnade alle Gewalttätigkeit und den Geist der Auflehnung und des Widerstandes beseitigt – den Geist, der die Herzen der Ungläubigen bewegt und seine Quelle hat in dem eigenen Willen, der sein Recht anderen gegenüber behaupten will. Der Christ hat sein Teil, sein Erbe, anderswo, nicht in der Welt; er ist ruhig und unterwürfig hienieden, stets bereit, Gutes zu tun. Selbst wenn er durch die Gewalttätigkeit und Ungerechtigkeit anderer zu leiden hat, erträgt er es, indem er daran denkt, dass er selbst früher nicht anders gewesen ist. Freilich ist es keine leichte Aufgabe, das zu lernen; denn das Herz wird durch die Gewalttätigkeit und Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren, leicht aufgebracht. Aber der Gedanke, dass jede Ungerechtigkeit Sünde ist, und dass auch wir einst Sklaven der Sünde waren, erzeugt Geduld und Langmut. Gnade allein hat den Unterschied zwischen jetzt und früher in uns bewirkt, und dieser Gnade gemäß haben wir gegen andere zu handeln.
Der Apostel entwirft hier in kurzen Worten ein trauriges Charakterbild des Menschen nach dem Fleisch, das, was wir einst waren. Die Sünde war Unverstand, sie war Ungehorsam; wir gingen in der Irre, waren Sklaven der Lüste und erfüllt mit Bosheit und Neid, hassenswürdig und einander hassend. Das ist der durch die Sünde gekennzeichnete Mensch. Aber die Güte Gottes, eines Heiland-Gottes, sein Wohlwollen und seine Menschenliebe (welch ein lieblicher und kostbarer Charakterzug Gottes!) sind erschienen. Gott hat den Charakter eines Heilandes angenommen – ein Name, den Er besonders in diesen drei Briefen an Timotheus und Titus sich beilegt, damit unser Wandel das Gepräge dieses Charakters trage und unser Geist davon durchdrungen sei. Denn unser Wandel in der Welt und unser Benehmen gegen andere hängt von den Grundsätzen unserer Beziehungen zu Gott ab. Der zwischen uns und anderen bestehende Unterschied beruht nicht auf irgendeinem Verdienst oder irgendeinem persönlichen Vorzug, dessen wir uns rühmen könnten; wir waren einst geradeso wie sie. Nein, es ist die zärtliche Liebe und Gnade des Gottes der Barmherzigkeit, welche die Veränderung bewirkt hat. Er ist gütig und barmherzig gegen uns gewesen, wir haben diese Barmherzigkeit kennen gelernt und sind daher jetzt auch barmherzig gegen andere. Allerdings ist die Barmherzigkeit Gottes, indem sie uns reinigte und erneuerte, nach einem gänzlich neuen Grundsatz und in dem Bereich eines ganz neuen Lebens tätig gewesen, so dass wir nicht mehr, wie früher, mit der Welt wandeln können. Aber wir handeln gegen die anderen, die sich noch in dem Kot dieser Welt befinden, wie Gott gegen uns gehandelt hat, um uns herauszuziehen und uns in den Genuss heiliger, himmlischer und göttlicher Dinge zu bringen; wir wünschen nach demselben Grundsatz der Gnade, dass auch andere diese Dinge genießen möchten. Das Gefühl von dem, was wir einst waren, und darüber, wie Gott mit uns gehandelt hat, vereinigt sich, um uns in unserem Verhalten gegen andere zu leiten.
Nun aber war die Güte eines Heiland-Gottes, als sie erschien, nicht etwas Unbestimmtes und Ungewisses; Gott hat uns errettet, nicht durch Werke der Gerechtigkeit, die wir getan hätten, sondern nach seiner Barmherzigkeit, indem Er uns gewaschen und erneuert hat. Diese letzten Worte drücken den doppelten Charakter des Werkes in uns aus; es sind dieselben beiden Punkte, die in Joh 3 in der Unterredung des Herrn mit Nikodemus hervorgehoben werden. Indes wird hier noch hinzugefügt, was jetzt infolge des Werkes Christi stattgefunden hat, dass nämlich der Heilige Geist reichlich über uns ausgegossen ist, um die Kraft jenes neuen Lebens zu sein, dessen Quelle Er ist. Der Mensch ist gewaschen, gereinigt – gewaschen im praktischen Sinn von seinen früheren Gewohnheiten, Gedanken und Wünschen. Man wäscht etwas, das bereits besteht. Der Mensch war von Natur, nach seinem inneren und äußeren Leben, böse und verunreinigt. Gott hat uns errettet, indem Er uns reinigte. Auf eine andere Weise konnte Er uns nicht retten; denn wir bedurften, um mit Ihm in Verbindung zu sein, der praktischen Reinheit.
Aber diese Reinigung betraf nicht nur die Außenseite des Gefäßes, sie war gründlich. Es war eine Reinigung mittelst der Wiedergeburt, ohne Zweifel gleichbedeutend mit der Mitteilung eines neuen Lebens, das die Quelle neuer Gedanken in Verbindung mit der neuen Schöpfung Gottes ist und die Fähigkeit hat, die Gegenwart und das Licht des Angesichts Gottes zu genießen. In sich selbst ist die Wiedergeburt ein Hinübergehen aus dem Zustand, in dem wir waren, in einen ganz neuen Zustand, ein Hinübergehen aus dem Fleisch durch den Tod in die Stellung eines auferstandenen Christus.
Doch es gibt eine Kraft, die in diesem neuen Leben wirkt und dasselbe in dem Christen begleitet. Es handelt sich nicht nur um eine subjektive Veränderung, wie man es nennt, sondern da ist eine wirkende göttliche Kraft in dem Gläubigen, der Heilige Geist selbst, der etwas Neues mitteilt, dessen Quelle Er selbst ist. Es ist der in dem Geschöpf wirkende Gott; denn es ist immer der Heilige Geist, durch welchen Gott unmittelbar auf das Geschöpf wirkt, und so wirkt Er auch in diesem Werk der Erneuerung unter dem Charakter des Heiligen Geistes. Da ist eine neue Quelle von Gedanken in Verbindung mit Gott – nicht nur eine Lebensfähigkeit, sondern eine Kraft, die das hervorbringt, was neu ist in uns.
Man hat gefragt, wann diese Erneuerung durch den Heiligen Geist stattfinde, ob im Beginn des Wirkens Gottes oder nach der Wiedergeburt 1, von der der Apostel spricht. Ich denke, dass es sich hier einfach um den Charakter des Werkes handelt, und dass der Apostel hinzufügt: „über uns ausgegossen“ (das Kennzeichen der Gnade des gegenwärtigen Zeitabschnitts), um zu zeigen, dass es noch eine weitere Wahrheit gibt, nämlich dass die Tätigkeit des Geistes fortdauert, um uns durch seine Kraft in dem Genuss des Verhältnisses, in das Er uns gebracht hat, zu erhalten. Der Mensch ist gereinigt in Verbindung mit der neuen Ordnung der Dinge; aber der Heilige Geist ist die Quelle eines ganz neuen Lebens und ganz neuer Gedanken – nicht nur die Quelle eines neuen sittlichen Wesens, sondern auch der Mitteilung alles dessen, worin dieses neue Wesen sich offenbart. Wir können die Natur nicht von den Wirkungen trennen, in denen sie sich offenbart, und die den Bereich ihres Daseins bilden und sie kennzeichnen.
Der Heilige Geist ist es, der die Gedanken gibt und das ganze sittliche Wesen des neuen Menschen schafft und bildet. Der Gedanke und das, was denkt, können nicht voneinander getrennt werden, wenn das Herz mit dem Gedanken beschäftigt ist. Der Heilige Geist ist in dem erretteten Menschen die Quelle von allem; und weil Er es ist, darum ist der Mensch endgültig errettet. Der Heilige Geist gibt uns nicht nur eine neue Natur, sondern Er gibt sie uns in Verbindung mit einer ganz neuen Ordnung der Dinge, „einer neuen Schöpfung“, und erfüllt unsere Gedanken mit den Dingen, die sich in dieser neuen Schöpfung befinden. Aus diesem Grund ist auch, obgleich wir ein für allemal in die neue Schöpfung eingeführt sind, dieses Werk hinsichtlich der Wirksamkeit des Heiligen Geistes fortdauernd, weil Er uns stets mehr und mehr die Dinge der neuen Welt, in die Er uns eingeführt hat, mitteilt. Er nimmt von den Dingen Christi, dem alles gehört, was der Vater hat, und zeigt sie uns. Ich glaube, dass die Erneuerung des Heiligen Geistes dies alles umfasst, weil der Apostel sagt, dass Gott „ihn reichlich über uns ausgegossen habe“. Wir sind also nicht allein aus Ihm geboren, sondern Er wirkt auch in uns, indem Er uns alles das mitteilt, was wir in Christo besitzen.
Der Heilige Geist ist reichlich über uns ausgegossen durch Jesum Christum, unseren Heiland, damit wir, gerechtfertigt durch die Gnade dieses Heilandes, Erben würden nach der Hoffnung des ewigen Lebens. Ich glaube, dass die Worte „damit wir“ sich an „die Waschung der Wiedergeburt und Erneuerung des Heiligen Geistes“ anschließen, und dass der Satz: „den er reichlich über uns ausgegossen hat durch Jesus Christus, unseren Heiland“, eine zusätzliche Einschaltung bildet, um uns zu zeigen, dass wir den Vollgenuss dieser Dinge durch die Kraft des Heiligen Geistes besitzen.
Gott hat uns also durch diese Erneuerung errettet, damit wir Erben würden nach der Hoffnung des ewigen Lebens. Es handelt sich hier nicht um etwas Äußerliches, Irdisches, Leibliches; die Gnade hat uns ewiges Leben gegeben. Um dieses zu besitzen, sind wir gerechtfertigt worden durch die Gnade Christi 2. So haben wir hier Energie, Kraft und Hoffnung durch die reiche Gabe des Heiligen Geistes. Um derselben teilhaftig zu werden, sind wir durch die Gnade Christi gerechtfertigt worden, und unser Erbteil ist in der unvergänglichen Freude des ewigen Lebens. Gott hat uns nicht durch Werke oder mittelst dessen, was wir sind 3, errettet, sondern durch seine Barmherzigkeit. Er hat also gegen uns gehandelt nach dem Reichtum seiner Gnade, nach den Gedanken seines eigenen Herzens.
Der Apostel wünscht, dass Titus sich mit diesen Dingen beschäftige – mit dem, was uns unter Danksagung in praktische Verbindung mit Gott selbst bringt und uns fühlen lässt, was unser Teil, unser ewiges Teil, vor Ihm ist. Das Bewusstsein der Stellung, die wir vor Ihm haben, wirkt auf unser Gewissen, erfüllt uns mit Liebe und guten Werken und lässt uns alle Beziehungen, deren Mittelpunkt Gott selbst ist, hoch achten. Wir stehen in Beziehung zu Gott, seinen Rechten gemäß; wir sind vor Ihm, und Er bewirkt, dass wir alles, was Er selbst eingerichtet hat, durch das Gewissen in Ehren halten. Törichte Streitfragen und Zänkereien über das Gesetz sollte Titus, vermeiden sowie alles, was die Einfachheit unseres Verhältnisses zu Gott, wie Er es uns durch die unmittelbare Offenbarung seiner selbst und seines Willens in Christo Jesu mitgeteilt hat, zerstören könnte. Es ist hier wieder das gnostische Judentum, das sich gegen die Einfachheit des Evangeliums auflehnt; es ist das Gesetz und die menschliche Gerechtigkeit sowie das, was durch die Einführung vermittelnder Wesen die Einfachheit und den unmittelbaren Charakter unserer Beziehungen zu dem Gott der Gnade zerstört.
Wenn jemand seine eigenen Meinungen geltend machen wollte und dadurch Parteien in der Versammlung zu bilden versuchte, so sollte man ihn nach einer ein- und zweimaligen Ermahnung abweisen als einen, der sündigte, der von sich selbst verurteilt und dessen Glaube verkehrt war. Ein solcher begnügt sich nicht mit der Versammlung Gottes und der Wahrheit Gottes; er will aus sich selbst eine Wahrheit aufstellen. Warum ist er ein Christ, wenn das Christentum, wie Gott es gegeben hat, ihm nicht genügt? Indem er eine Partei für seine eigenen Meinungen zu machen sucht, verurteilt er sich selbst.
Am Ende des Briefes finden wir einen kurzen Überblick über die durch die Liebe Gottes erzeugte christliche Tätigkeit und die der Herde gewidmete Sorgfalt, damit diese von all den Hilfsquellen genießen möchte, die Gott der Versammlung erschlossen hat. Paulus wünschte, dass Titus zu ihm käme; da aber die Christen in Kreta seines Dienstes bedurften, so wollte der Apostel, dass er dieses Arbeitsfeld nicht eher verließe, bis Artemas oder Tychikus (welch letzterer wohlbekannt ist durch die Dienste, die er Paulus erwiesen hatte) angekommen wäre. Auch finden wir, dass Zenas, ein Gesetzgelehrter, und Apollos, der seinen tätigen Eifer bereits zu Ephesus und Korinth entfaltet hatte, geneigt waren, sich mit dem Werk des Herrn in Kreta zu beschäftigen.
Man beachte auch, dass wir hier die beiden schon anderswo erwähnten Arten von Arbeitern haben – nämlich solche, die mit dem Apostel als dessen Mitarbeiter in persönlicher Verbindung standen, die ihn begleiteten und die er aussandte, um anderswo das von ihm begonnene Werk fortzusetzen, wenn er selbst daran verhindert war, und solche, die frei und unabhängig von ihm arbeiteten. Allein diese doppelte Art der Tätigkeit verursachte keine Eifersucht. Der Apostel vernachlässigte nicht die ihm teuren Herden und freute sich, wenn irgendjemand, der gesund im Glauben war, die Pflanzen begoss, die er gepflanzt hatte. Er ermuntert Titus, solchen Männern alle Liebe zu beweisen und sie mit allem, was sie auf der Reise bedurften, zu versorgen. Dieser Gedanke veranlasst ihn zu der Ermahnung: „Lass auch die Unsrigen lernen, für die notwendigen Bedürfnisse (sowohl für diejenigen anderer als auch für ihre eigenen) gute Werke zu betreiben, damit sie nicht unfruchtbar seien.
Der Apostel schließt seinen Brief mit den Grüßen, welche die christliche Liebe immer hervorbringt. Doch finden wir hier nicht, wie wir schon im Anfang des Briefes gesehen haben, denselben Herzenserguss wie in den Mitteilungen des Apostels an Timotheus. Die Gnade ist überall dieselbe; aber es gibt besondere Zuneigungen und Beziehungen in der Versammlung Gottes.
Fußnoten
- 1 Das hier gebrauchte Wort drückt nicht einfach das Wiedergeborensein (anagennaein) aus; wir finden es außer in dieser Stelle nur in Mt 19,28 , wo es auf das 1000-jährige Reich angewandt ist. Die Erneuerung des Heiligen Geistes ist etwas anderes als die Wiedergeburt. Letztere ist die Umwandlung eines Zustandes in einen anderen.
- 2 Das im 7. Verse durch „seine“ übersetzte griechische Wort deutet an, dass die Bezugnahme auf Christum ist, nicht auf Gott.
- 3 Die Verantwortlichkeit des Menschen und Gottes errettende Gnade, durch die der Ratschluss auch ausgeführt worden ist, werden hier wie überall deutlich unterschieden.