Botschafter des Heils in Christo 1887
Der lebendige Gott und ein lebendiger Glaube (1)
Beinah auf jeder Seite des Buches Gottes und in jedem Abschnitt der Geschichte des Volkes Gottes tritt dem aufmerksamen Forscher eine Tatsache entgegen, die für alle Zeiten von außerordentlicher Tragweite und moralischer Kraft war, dies aber besonders ist in Zeiten der Finsternis, der Schwierigkeiten und der Entmutigungen, verursacht durch den schwachen Zustand derjenigen, welche auf der Seite des Herrn zu stehen bekennen. Diese Tatsache ist: Der Glaube kann stets auf Gott rechnen, und Gott wird dem Glauben immer antworten. Mit dieser gesegneten Tatsache wollen wir uns ein wenig beschäftigen, und wenden uns zu diesem Zweck zu dem 20. Kapitel des 2. Buches der Chronika, in welchem wir eine sehr schöne und treffende Darstellung derselben finden.
Dieses Kapitel zeigt uns den guten König Josaphat unter einem sehr schweren Druck, in einer Drangsal ungewöhnlicher Art. Ein dunkler Zeitpunkt in seiner Geschichte war gekommen.
„Und es geschah nach diesem, da kamen die Kinder Moab und die Kinder Ammon und mit ihnen von den Ammonitern gegen Josaphat zum Kampf. Und man kam und berichtete Josaphat und sprach: Eine große Menge ist gegen dich gekommen von jenseits des Meeres, von Syrien“ (20,1.2).
Das war keine geringe Schwierigkeit. Der heranziehende Feind bestand aus den Nachkommen Lots und Esaus; (vgl. 20,10) dieser Umstand konnte wohl in dem Herzen Josaphats zu tausend widerstreitenden Gedanken und unruhigen Fragen Anlass geben. Es waren nicht Ägypter und Assyrer, die heranrückten, in Betreff dieser Völker konnte sich keine Frage, kein Zweifel irgendwelcher Art erheben. Aber sowohl Lot als Esau standen in gewissen Beziehungen zu Israel, und da konnte sich ihm wohl die Frage aufdrängen, inwieweit diese Beziehungen anerkannt werden mussten.
Und das nicht allein. Der praktische Zustand des Volkes Israel, die ganze Lage des Volkes Gottes war derart, dass ernste Besorgnisse und Zweifel in dem Herzen Josaphats aufsteigen konnten. Israel stand dem einfallenden Feind nicht mehr in unerschütterter, geschlossener Front gegenüber. Ihre sichtbare Einheit war verschwunden. Eine klaffende Bresche war in ihre Mauern gelegt. Die zwölf Stämme waren auseinander gerissen; sie hatten sich in die zehn und zwei Stämme geteilt. Der Zustand der ersteren war schrecklich, und derjenige der letzteren betrübend genug.
Die Umstände des Königs Josaphat waren daher dunkel und äußerst entmutigend. Und was ihn selbst und seine bisherige Laufbahn betraf, so war er eben erst von den Folgen eines sehr demütigenden Falles (vgl. Kap. 18 und 19) wiederhergestellt. Der Blick auf seine Vergangenheit war deshalb nicht weniger trostlos, wie derjenige auf seine Umgebungen.
Aber gerade hier bietet sich die oben erwähnte wichtige Tatsache dem Blick des Glaubens dar und verbreitet Licht über die ganze Szene. Die Dinge sahen ohne Zweifel trübe aus, aber der Glaube konnte auf Gott rechnen. Gott ist eine nie verfliegende Hilfsquelle, eine große Wirklichkeit zu allen Zeiten und unter allen Umständen. „Gott ist uns Zuflucht und Stärke, eine Hilfe, reichlich gefunden in Drangsalen. Darum werden wir uns nicht fürchten, wenn auch die Erde gewandelt würde und wenn die Berge im Herzen des Meeres wankten, wenn seine Wasser tobten und schäumten, die Berge erbebten durch sein Ungestüm. Ein Strom – seine Bäche erfreuen die Stadt Gottes, das Heiligtum der Wohnungen des Höchsten. Gott ist in ihrer Mitte, sie wird nicht wanken; Gott wird ihr helfen beim Anbruch des Morgens. Es toben die Nationen, die Königreiche wanken; er lässt seine Stimme erschallen: Die Erde zerschmilzt. Der HERR der Heerscharen ist mit uns, eine hohe Festung ist der Gott Jakobs“ (Ps 46,2–8).
Hier lag denn auch Josaphats Hilfsquelle an dem Tag seiner Bedrängnis. Zu dieser Hilfsquelle nahm er unverweilt seine Zuflucht in jenem ernsten Glauben, der nie verfehlt, Kraft und Segnung von dem lebendigen und wahren Gott auf sich herniederzuziehen, um jedem Bedürfnis des Weges zu begegnen.
„Da fürchtete sich Josaphat und richtete sein Angesicht darauf, den HERRN zu suchen; und er rief ein Fasten aus über ganz Juda. Und Juda versammelte sich, um von dem HERRN Hilfe zu suchen; sogar aus allen Städten Judas kamen sie, um den HERRN zu suchen. Und Josaphat stand in der Versammlung Judas und Jerusalems im Haus des HERRN, vor dem neuen Vorhof; und er sprach: HERR, Gott unserer Väter, bist du es nicht, der da Gott im Himmel ist, und bist du nicht der Herrscher über alle Königreiche der Nationen? Und in deiner Hand ist Kraft und Macht; und niemand vermag gegen dich zu bestehen. Hast nicht du, unser Gott, die Bewohner dieses Landes vor deinem Volk Israel vertrieben und es den Nachkommen Abrahams, deines Freundes, gegeben auf ewig?“ (20.3–7).
Das sind die herrlichen Äußerungen eines lebendigen Glaubens, eines Glaubens, der die Seele stets befähigt, sich auf den höchsten Boden zu stellen. Es kam nicht im Geringsten darauf an, welche unerledigten Fragen zwischen Esau und Jakob bestehen mochten, zwischen Abraham und dem allmächtigen Gott gab es deren keine. Gott hatte das Land Abraham, seinem Freund, gegeben. Auf wie lange? Auf immer! Das war genug. „Die Gnadengaben und Berufungen Gottes sind unbereubar.“ Gott wird seine Berufung niemals ungültig machen, noch jemals eine Gabe zurücknehmen. Das ist ein unabänderlicher Grundsatz, auf welchem der Glaube allezeit mit fester Entschiedenheit seinen Stand nimmt. Der Feind mochte tausend Einwürfe machen, und das arme Herz tausend Fragen aufwerfen. Es mochte als Vermessenheit und eitle Einbildung erscheinen, wenn Josaphat seinen Fuß auf einen so erhabenen Boden setzte. Ja, hätte man fragen können, alles das war recht und passend in den Tagen eines David, eines Salomo, oder eines Josua, als die Einheit der Nation noch nicht gebrochen war, und das Panier des HERRN triumphierend über den zwölf Stämmen Israels wehte. Aber steht es jetzt, wo die Dinge sich in so trauriger Weise verändert haben, einem Mann in Josaphats Umständen nicht schlecht an, eine so erhabene Sprache zu führen und sich einen so hohen Standpunkt anzumaßen?
Doch wie lautet die Antwort des Glaubens auf alle diese Einwürfe und Fragen? Sie ist einfach, aber voller Kraft, und lautet: Gott verändert sich nie. „Er ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit“ (Heb 13,8). Hatte Er nicht Abraham das Land Kanaan zum Geschenk gemacht? Hatte Er es nicht seinem Samen für immer verliehen? Hatte Er diese Gabe nicht durch sein Wort und seinen Eid bekräftigt, durch jene beiden unveränderlichen Dinge, wobei es unmöglich ist, dass Gott lügen könnte? Unzweifelhaft. Aber was sagte das Gesetz dazu? Hatte die Einführung des Gesetzes die Sache nicht verändert? Keineswegs, soweit es sich um Gottes Gaben und Verheißungen handelte. Vier Jahrhunderte bevor das Gesetz gegeben wurde war der große Bund zwischen dem allmächtigen Gott und Abraham, seinem Freund, abgeschlossen und bestätigt worden und das für immer! Was hätte diesen Bund daher antasten können? Keinerlei gesetzliche Bedingungen waren dem Abraham bei jener Gelegenheit auferlegt worden; alles war reine und unumschränkte Gnade. Gott gab seinem Knecht das Land Kanaan durch Verheißung und nicht durch ein Gesetz in irgendwelcher Art oder Form.
Nun, auf diesen ursprünglichen Standpunkt stellte sich Josaphat; und er tat recht daran. Es war das Einzige, was er zu tun hatte und tun konnte. Er hatte nicht einen Zentimeter breit festen Boden unter seinen Füßen, außer in jenen goldenen Worten: „Du hast es den Nachkommen Abrahams, der dich liebte, gegeben auf ewig.“ Entweder hatte er dies oder gar nichts. Ein lebendiger Glaube ergreift stets den lebendigen Gott. Er blickt nicht auf Menschen oder Umstände, er zieht nicht die Veränderungen und Wechselfälle des menschlichen Lebens in Rechnung. Er lebt und bewegt sich in der unmittelbaren Gegenwart des lebendigen Gottes, er erfreut sich an dem wolkenlosen Licht seines gesegneten Antlitzes. Er geht mit seinen ungekünstelten Urteilen in das Heiligtum und zieht aus den dort entdeckten Tatsachen seine glücklichen Schlussfolgerungen. Er erniedrigt nicht seinen Maßstab nach dem Zustand der Dinge um ihn her, sondern stellt sich kühn und entschieden gerade auf den höchsten Standpunkt.
Eine solche Handlungsweise des Glaubens ist für das Herz Gottes immer kostbar. Der lebendige Gott hat seine Wonne an einem lebendigen Glauben. Wir dürfen völlig versichert sein, dass es Gott umso willkommener und wohlgefälliger ist, je kühner der Glaube zugreift. Wir brauchen nicht zu denken, dass Gott jemals durch die Handlungen eines gesetzlichen Geistes erfreut oder verherrlicht werde. Nein, es erfreut sein Herz, wenn man rückhaltlos und ohne irgendeinen Zweifel auf Ihn vertraut. Je tiefer die Not und je finsterer die Wolke der Umstände ist, desto mehr wird Er durch den Glauben, der auf Ihn rechnet, verherrlicht.
Wir dürfen deshalb mit vollkommener Gewissheit behaupten, dass das Verhalten und die Worte Josaphats in der vorliegenden Szene in völliger Übereinstimmung mit den Gedanken Gottes standen. Es ist außerordentlich schön zu sehen, wie er gleichsam den ursprünglichen Vertrag zur Hand nimmt und seinen Finger auf jene Bestimmung legt, kraft welcher Israel für immer der Besitzer des Landes Kanaan sein sollte. Nichts konnte diese Bestimmung aufheben oder diesen Vertrag brechen, alles war für immer geordnet und bestimmt. „Du hast es den Nachkommen Abrahams, der dich liebte, gegeben auf ewig“ (vgl. 20,7).
Das war ein fester Boden, der Boden Gottes, der Boden des Glaubens, der keine Macht des Feindes je zu erschüttern vermochte. Wohl mochte der Feind den König an Sünde und Torheit, an Fehltritte und Untreuen erinnern. Ja, er konnte ihm vorhalten, dass gerade die Tatsache des drohenden feindlichen Einfalls den traurigen Zustand Israels beweise; denn wäre Israel treu gewesen, hätte es in den Geboten des HERRN gewandelt, so würde es keinen Feind für sie gegeben haben. Aber auch hierfür hatte die Gnade eine Antwort vorgesehen, und zwar eine Antwort, die der Glaube sich wohl anzueignen verstand. Josaphat erinnert den HERRN an das Haus, welches Salomo seinem Namen gebaut hatte.
„Sie haben dir ein Heiligtum gebaut für deinen Namen und gesagt: Wenn Unglück über uns kommt, Schwert, Strafgericht oder Pest oder Hungersnot, und wir treten vor dieses Haus und vor dich – denn deine Name ist in diesem Haus – und schreien zu dir aus unserer Bedrängnis, so wirst du hören und retten. Und nun, siehe, die Kinder Ammon und Moab und die vom Gebirge Seir, unter die zu kommen du Israel nicht gestattet hast, als sie aus dem Land Ägypten kamen, sondern sie sind ihnen ausgewichen und haben sie nicht vertilgt – siehe da, sie vergelten es uns, indem sie kommen, um uns aus deinem Besitztum zu vertreiben, das du uns zum Besitz gegeben hast. Unser Gott, willst du sie nicht richten? Denn in uns ist keine Kraft vor dieser großen Menge, die gegen uns kommt; und wir wissen nicht, was wir tun sollen, sondern auf dich sind unsere Augen gerichtet“ (20,8–12).
Hier verhandelt wahrlich ein lebendiger Glaube mit dem lebendigen Gott. Das ist kein leeres Bekenntnis, kein lebloser Glaube, keine kalte, einflusslose Theorie. Wir haben hier nicht einen Mann, der da „sagt, er habe Glauben.“ Solche Dinge werden am Tag des Kampfes nie standhalten. Sie mögen genügen, wenn alles ruhig und friedlich ist, wenn kein Wölkchen den Horizont verdunkelt. Aber wenn es Schwierigkeiten zu bekämpfen gibt, wenn es gilt, dem Feind Auge in Auge entgegenzutreten, so wird jeder bloße Wortglaube, jedes bloße Lippenbekenntnis sich als kraft- und haltlos erweisen; es wird herbstlichen Blättern gleichen, die der Wind dahintreibt. Nichts wird die Probe eines wirklichen Kampfes bestehen, als nur ein lebendiger persönlicher Glaube an einen lebendigen persönlichen Heiland-Gott. Das ist es, was wir brauchen. Ein solcher Glaube allein kann das Herz aufrechthalten, komme auch, was da wolle. Er bringt Gott in die Umstände hinein, und siehe da, alles ist Kraft, Sieg und vollkommener Friede.
So war es mit dem König von Juda in den Tagen von 2. Chr 20. „In uns ist keine Kraft, und wir wissen nicht, was wir tun sollen, sondern auf dich sind unsere Augen gerichtet.“ Das ist die Art und Weise, wie man den Boden Gottes betritt, indem die Augen auf Ihn selbst gerichtet sind. Das ist das wahre Geheimnis aller Standhaftigkeit und alles Friedens. Satan wird nichts unversucht lassen, um uns von diesem Boden zu vertreiben, auf welchem wir als Christen in diesen letzten Tagen stehen sollten. In uns selbst ist nicht die geringste Kraft ihm gegenüber. Unsere einzige Hilfsquelle ist in dem lebendigen Gott. Aber wenn unsere Augen auf Ihn gerichtet sind, so kann uns nichts verletzen. „Dem festen Sinn bewahrst du vollkommenen Frieden; denn er vertraut auf dich.“
Mein Leser, stehst du auf dem Boden Gottes? Kannst du für die Stellung, die du in diesem Augenblick einnimmst, ein: „So spricht der Herr!“ anführen? Bist du dir bewusst, dass du auf dem unerschütterlichen Boden der Heiligen Schrift stehst? Oder gibt es in deinen Überlegungen und Verbindungen etwas Zweifelhaftes? Erwäge diese Fragen ernstlich in der Gegenwart Gottes. Sei versichert, dass sie gerade jetzt von Wichtigkeit sind. Wir durchleben kritische Zeiten. Überall bilden sich Parteien; böse Grundsätze sind wirksam und kommen zum Ausbruch. Nie war es nötiger, in durchaus klarer und unzweideutiger Weise auf der Seite des Herrn zu stehen, als gerade jetzt. Josaphat hätte nie den Ammonitern, Moabitern und Edomitern entgegentreten können, wenn er nicht überzeugt gewesen wäre, dass sein Fuß gerade auf dem Boden stand, welchen Gott dem Abraham gegeben hatte. Hätte der Feind sein Vertrauen im Bild auf diesen Bund erschüttern können, so würde er einen leichten Sieg gehabt haben. Aber Josaphat wusste, wo er sich befand. Er kannte den Boden, auf dem er stand, und konnte deshalb mit Vertrauen seine Augen auf den lebendigen Gott richten. Er hatte keinerlei Zweifel betreffs seiner Stellung. Er sagte nicht, wie so mancher es heutzutage tut: „Ich bin nicht ganz sicher, ich hoffe wohl, auf göttlichem Boden zu stehen, aber zuweilen ziehen Wolken über meine Seele und machen mich zweifelhaft, ob ich wirklich da bin, wo Gott mich haben will.“ O nein, mein Leser, der König von Juda würde eine solche Sprache nicht verstanden haben. Alles war klar für ihn. Sein Auge ruhte auf der ursprünglichen Verheißung und Gabe Gottes. Er war gewiss, dass er auf dem wahren Boden des Israels Gottes stand. Mochte auch nicht ganz Israel dort mit ihm vereinigt sein, so war doch Gott bei ihm, und das war genug. Er besaß einen lebendigen Glauben an den lebendigen Gott.
Wahrlich, mein Leser, das ist sehr bemerkenswert und verdient unsere eingehende Betrachtung. Josaphats Fuß stand fest auf dem Boden Gottes, seine Augen waren fest auf Gott gerichtet, und zugleich besaß er ein tiefes Gefühl von seinem eigenen völligen Nichts. Es gab bei ihm nicht den Schatten eines Zweifels betreffs der Tatsache, dass er sich im Besitz des Erbteils befand, welches Gott ihm gegeben hatte. Er wusste, dass er an seinem richtigen Platz war. Er hoffte nicht, noch weniger zweifelte er. Nein, er war sich seiner Sache völlig gewiss. Er konnte sagen: „Ich glaube und bin überzeugt.“ Das ist von der größten Wichtigkeit. Es ist unmöglich, dem Feind gegenüber standzuhalten, wenn es in unserer Stellung etwas Zweideutiges gibt. Wenn irgendein geheimer Zweifel da ist, ob wir uns auch an dem richtigen Platz befinden, wenn wir nicht ein: „So spricht der Herr!“ anführen können für die Stellung, die wir einnehmen, den Weg, den wir wandeln, die Verbindungen, in welchen wir uns befinden, und für die Arbeit, mit der wir beschäftigt sind, so wird ganz gewiss in der Stunde des Kampfes sich Schwäche offenbaren. Satan wird sicher aus dem geringsten Zweifel in unsrer Seele Nutzen ziehen. Wenn nicht ein unbedingtes Vertrauen betreffs unserer Stellung vor Gott vorhanden ist, so wird der Feind einen Sieg davontragen.
Doch gerade in dieser Beziehung zeigt sich eine große Schwachheit unter den Kindern Gottes. Verhältnismäßig sind nur sehr wenige klar, fest und bestimmt in Betreff ihres Glaubensgrundes; sehr wenige selbst sind fähig, mit voller Zuversicht und Gewissheit zu sagen, dass sie in dem Blut Christi gewaschen und mit dem Heiligen Geist versiegelt sind. Zu Zeiten hoffen sie, dass es so sei. Wenn alles mit ihnen gut steht, wenn sie sich der Nähe Gottes im Gebet oder bei dem Gehorchen des Wortes erfreut oder einer klaren, eindringlichen Predigt des Wortes beigewohnt haben, wenn ihr Gewissen frei ist und ihr Herz sie nicht verurteilt – in solchen Augenblicken wagen sie es vielleicht, hoffnungsfreudig über sich zu reden. Aber sehr bald ballen sich von neuem dunkle Wolken über ihrem Haupt zusammen. Sie fühlen die Wirksamkeit der innewohnenden Sünde, ihre Gedanken schweifen hierhin und dorthin, anstatt mit Jesu beschäftigt zu sein, vielleicht haben sie sich auch zu irgendeiner Leichtfertigkeit oder Heftigkeit verleiten lassen. Was nun? Die hoffnungsfreudige Stimmung ist verschwunden, die glücklichen Gefühle sind vorüber und sie beginnen, sich selbst zu untersuchen und zu fragen, ob sie wirklich Kinder Gottes seien. Und aus diesem Untersuchen und Fragen versinken sie sehr leicht in wirklichen Unglauben und fallen dann in das tiefe Dunkel des Kleinmuts, der an Verzweiflung grenzt.
Das alles ist höchst traurig. Es verunehrt Gott und zerstört zu gleicher Zeit den Frieden der Seele, von Fortschritten ist in einem solchen Zustand keine Rede mehr. Denn wie kann eine Seele im göttlichen Leben wachsen, wenn sie noch steten Zweifeln ausgesetzt ist, ob sie dieses Leben überhaupt besitze?
Doch vielleicht möchte der eine oder andere unserer Leser geneigt sein, zu fragen: „Wie kann ich denn gewiss sein, dass ich auf dem Boden Gottes stehe? – dass ich in dem Blut Jesu gewaschen und mit dem Heiligen Geist versiegelt bin?“ Wir erwidern darauf: Woher weißt du, dass du ein verlorener Sünder bist? Nur, weil du es fühlst? Ist ein bloßes Gefühl der Grund deines Glaubens? Wenn es so ist, dann ist es kein göttlicher Glaube, keine göttliche Überzeugung. Ein wahrer Glaube ruht allein auf dem Zeugnis der Heiligen Schrift. Ohne Zweifel kann dieser lebendige Glaube nur durch die gnädige Wirksamkeit des Heiligen Geistes hervorgebracht werden und zur Ausübung kommen. Doch wir reden jetzt von dem wahren Grund des Glaubens, von der Autorität der Grundlage, auf welcher er ruht. Diese Grundlage ist einfach die Heilige Schrift, welche, wie der inspirierte Apostel sagt, fähig ist, uns weise zu machen zur Errettung, und die selbst ein Kind verstehen kann ohne die Beihilfe der Kirche, der Kirchenväter, der Concilien, der Universitäten oder irgendeiner anderen Art menschlicher Vermittlung.
„Abraham glaubte Gott.“ Da war ein göttlicher Glaube vorhanden, es war nicht eine Sache des Gefühls. Wahrlich, wenn Abraham durch seine Gefühle beeinflusst worden wäre, so würde er ein Zweifler gewesen sein und nicht ein Mann des Glaubens. In welcher Beziehung konnte er auf sich selbst rechnen? „Sein eigner Leib war schon erstorben.“ Gewiss, ein armseliger Boden, um darauf seinen Glauben an die Verheißung eines unzählbaren Samens zu gründen! Aber es wird uns gesagt: „Er sah nicht seinen eigenen, schon erstorbenen Leib, an“ (Röm 4,19). Was sah er denn an? Sein Blick richtete sich auf das Wort des lebendigen Gottes, auf diesem Wort ruhte er. Nun, das ist Glaube. Deshalb sagt auch der Apostel: „Er zweifelte nicht an der Verheißung Gottes durch Unglauben, sondern wurde gestärkt im Glauben, Gott die Ehre gebend, und war der vollen Gewissheit, dass er, was er verheißen hatte, auch zu tun vermag. Darum ist es ihm auch zur Gerechtigkeit gerechnet worden“ (Röm 4,20–23).
Aber, wird der ängstliche Leser einwenden, was hat das alles mit meinem Fall zu tun? Ich bin kein Abraham; ich kann nicht eine besondere Offenbarung von Seiten Gottes erwarten. Wie kann ich wissen, dass Gott zu mir gesprochen hat? Wie kann ich diesen kostbaren Glauben besitzen? – Nun, mein lieber Freund, höre, was der Apostel weiter sagt: „Es ist aber nicht allein seinetwegen geschrieben, dass es ihm zugerechnet worden ist, sondern auch unseretwegen, denen es zugerechnet werden soll, die wir“ – was? fühlen? verwirklichen? oder irgendetwas in uns erfahren? nein, sondern – „die wir an den glauben, der Jesus, unseren Herrn, aus den Toten auferweckt hat, der unserer Übertretungen wegen hingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist“ (Röm 4,23–25).
Liegt in diesen Worten nicht wahre Erquickung und der reichste Trost? Sie versichern den ängstlichen Frager, dass er als Grundlage seiner Ruhe genau dieselbe Autorität besitzt wie Abraham, und zwar mit einem unendlich höheren Maß von Licht, insofern Abraham berufen wurde, an eine Verheißung zu glauben, während wir das Vorrecht haben, eine vollendete Tatsache vor uns zu sehen. Er musste vorwärts blicken auf etwas, das noch geschehen musste. Wir blicken zurück auf etwas, das geschehen ist, ja, auf eine vollbrachte Erlösung, bezeugt durch die Tatsache, dass unser Herr und Heiland auferstanden und zur Rechten der Majestät in den Himmeln verherrlicht ist.
Die einzige Autorität, die einzige Grundlage des Glaubens ist also, wir wiederholen es, das Wort Gottes, die Heilige Schrift. Eine andere Grundlage gibt es nicht. Ein Glaube, der auf menschlicher Überlieferung, auf der Autorität der Kirche, der Priester oder der Gelehrten ruht, ist nichts als Aberglaube. Es ist ein Glaube, der „in der Weisheit der Menschen“ und nicht „in der Kraft Gottes“ ist (vgl. 1. Kor 2,5).
Es ist unmöglich, die Wichtigkeit dieses Grundsatzes eines lebendigen Glaubens gerade für die gegenwärtige Zeit zu überschätzen. Er ist das göttliche Gegenmittel gegen die Irrlehren, Übel und feindlichen Einflüsse unserer Tage. Eine schreckliche Erschütterung geht um uns her vor sich. Die Gemüter sind erregt. Zerstörende Kräfte sind in Tätigkeit. Grundlagen, die bis dahin für unerschütterlich galten, lockern sich. Alte Einrichtungen, an welche der menschliche Geist sich anklammert, beginnen zu wanken; viele sind bereits gefallen und Tausende von Seelen, die einst Schutz in ihnen fanden, irren erschreckt umher und wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen. Manche sagen: „Die Ziegelsteine sind gefallen, aber wir wollen mit behauenen Steinen wieder aufbauen.“
Doch das ist nicht alles. Viele, sehr viele bekennende Christen gibt es, wie wir schon bemerkten, die sich weniger um den Zustand und das Schicksal religiöser Einrichtungen und kirchlicher Systeme bekümmern, als um den Zustand und das Schicksal ihrer eigenen kostbaren Seele, um die eine große Frage: „Was muss ich tun, um errettet zu werden?“ Was sollen wir zu solchen sagen? Worin besteht das wahre Bedürfnis ihrer Seele? Einfach in einem lebendigen Glauben an den lebendigen Gott. Das ist es, was alle jene Seelen benötigen, egal, ob sie durch das, was sie um sich her sehen, oder durch das, was sie in sich fühlen, beunruhigt werden. Unsere unfehlbare Hilfsquelle ist in dem lebendigen Gott und in Seinem Sohn Jesus Christus, wie Er sich durch den Heiligen Geist in den Schriften offenbart hat. Hier ist der wahre Ruheplatz des Glaubens, und wir laden jeden ängstlichen Leser dringend ein, zu diesem Ruheplatz seine Zuflucht zu nehmen. Wir bitten ihn, sich voll und ganz auf das Wort Gottes zu stützen. Hier haben wir eine Autorität für alles, was wir zu wissen, zu glauben und zu tun haben.
Mein Leser! Bist du in Betreff deiner ewigen Errettung noch in Unruhe? Lausche dann auf folgende kostbare Worte: „Es ist in der Schrift enthalten: „Siehe, ich lege in Zion einen Eckstein, einen auserwählten, kostbaren; und wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden“ (1. Pet 2,6).
Welch einen kräftigen Trost, welch eine tiefe Ruhe bieten diese Worte jeder ängstlichen Seele! Gott hat den Grund gelegt, und dieser Grund besteht in nichts Geringerem als in seinem eigenen Sohn, in Ihm, der von Ewigkeit her in seinem Schoß war. Diese Grundlage ist in jeder Hinsicht geeignet, das sichere Fundament aller Ratschlüsse und Vorsätze der ewigen Dreieinigkeit zu bilden, sowie allen Anforderungen der Natur, des Charakters und des Thrones Gottes zu begegnen. Und weil dies so ist, so muss sie selbstredend und vollkommen geeignet sein, allen Bedürfnissen einer ängstlichen Seele zu begegnen, welcher Art diese auch sein mögen. Wenn Christus genug für Gott ist, so muss Er notwendigerweise auch genug sein für den Menschen, und dass Er genug ist, wird gerade durch die eben angeführte Stelle bewiesen. Als der auserwählte, kostbare Eckstein Gottes bildet Er die Grundlage und den Mittelpunkt jenes glorreichen Gebäudes triumphierender Gnade, welches in dem Wort „Zion“ dargestellt wird (vgl. Heb 12,22–24). Christus stieg in die dunklen Wasser des Todes hinab, trug das schwere Gericht und den Fluch Gottes über die Sünde, beraubte den Tod seines Stachels und Sieges, und machte den zunichte, der die Macht des Todes hatte. Er entwand der Hand des Feindes jene schreckliche Waffe, mit der die Sünde ihn bewaffnet hatte und machte gerade sie zum Werkzeug der ewigen Niederlage Satans. Und nachdem Er dies alles getan hatte, kehrte Er in die Herrlichkeit zurück und setzte sich zur Rechten der Majestät in den Himmeln.
Das ist die Grundlage Gottes, auf welche Er in Gnade die Aufmerksamkeit eines jeden richten will, der wirklich die Notwendigkeit eines göttlich soliden Bodens fühlt, auf welchen er bauen kann, gegenüber den ernsten Wirklichkeiten der Ewigkeit. Mein teurer Leser! Gott redet jetzt zu dir und fordert dich auf, auf diese Grundlage zu bauen. Sei versichert, dass dies für dich ebenso zuverlässig ist, als wenn du eine Stimme aus dem Himmel persönlich zu dir reden hörtest. Das Wort des lebendigen Gottes richtet sich an „die ganze Schöpfung, die unter dem Himmel ist.“ „Wer da will“ wird eingeladen, zu kommen. Das Buch Gottes ist in deine Hand gegeben und vor deinen Augen offengelegt worden. Trotz der Sünde in allen ihren Formen und Folgen, trotz der Macht und Bosheit Satans hat Gott geredet. Er hat seine Stimme erhoben, um in dieser finsteren, sündenbeladenen Welt gehört zu werden. Und was hat Er gesagt? „Siehe, ich gründe einen Stein in Zion.“ Wie wunderbar ist das! Es ist, als ob unser gesegneter, gnadenreicher Gott zu uns sagte: Nachdem die Sünde alles verdorben hat, habe ich von neuem begonnen. Ich habe in der Erlösung eine Grundlage gelegt, die nichts je anzutasten vermag, weder Sünde noch Satan, noch irgendeine Macht im Himmel und auf Erden. Ich habe die Grundlage gelegt, und ich verpfände mein Wort, dass, wer da glaubt – wer sich in kindlicher, nicht zweifelnder Zuversicht meiner Grundlage anvertraut, wer da ruht in meinem Christus, wer mit meinem kostbaren, bewährten Eckstein zufrieden ist – dass ein solcher nie, nein niemals beschämt, nie getäuscht werden, nie verloren gehen kann.
Mein lieber Leser, trägst du immer noch Bedenken? Wahrlich, du hast nicht den Schatten eines Grundes dazu. Wenn da irgendeine Bedingung gemacht wäre, wenn Gott irgendeine Frage erheben würde, so würdest du Grund haben, Bedenken zu tragen. Wenn nur das Geringste durch dich in Ordnung gebracht werden müsste, wenn du irgendetwas zu erfahren, zu fühlen oder zu tun hättest, dann würdest du mit Recht zögern und überlegen. Aber es gibt durchaus nichts derart. Da ist der Christus Gottes, das Wort Gottes und – was dann? „Wer da glaubt, wird nicht beschämt werden.“ Kurz, es ist einfach „ein lebendiger Glaube an den lebendigen Gott.“ Es handelt sich darum, Gott bei seinem Wort zu nehmen; zu glauben, was Er sagt, weil Er es sagt; das zu tun, was Abraham tat, als er Gott glaubte und es ihm zur Gerechtigkeit gerechnet wurde; oder das, was Josaphat tat, als er seinen Fuß fest auf jenen unerschütterlichen Boden setzte: „Du gabst es den Nachkommen Abrahams, der dich liebte, auf ewig.“ Es handelt sich darum, ruhig und still auf dem unerschütterlichen Felsen der Heiligen Schrift zu ruhen und so die göttliche Kraft dessen zu erfahren, was nie jemanden, der darauf vertraute, im Stich gelassen hat, noch jemals lassen wird.
Wie unaussprechlich gesegnet ist es, eine solche Grundlage zu haben in einer Welt, wo der Stempel des Todes und des Verfalls auf alles gedrückt ist; wo die zartesten Bande der Freundschaft in einem Augenblick durch des Todes raue Hand zerrissen werden; wo alles, was dem natürlichen Auge dauerhaft erscheint, der Gefahr ausgesetzt ist, plötzlich durch die hereinbrechende Flut der Revolution der Völker hinweggefegt zu werden; wo es nichts gibt, worauf das Herz sich stützen und dann sagen kann: Ich habe jetzt dauernde Ruhe gefunden! Welch eine Gnade, auf einem solchen Schauplatz einen lebendigen Glauben an den lebendigen Gott zu besitzen!
„Die auf mich harren, werden nicht beschämt werden.“ Das ist das wahrhaftige Zeugnis des lebendigen Gottes, bestätigt durch die Erfahrung aller derer, welche je in einem lebendigen Glauben gewandelt haben. Doch vergessen wir nicht, was diese drei Worte „auf mich harren“ bedeuten. Das Harren muss eine Wirklichkeit sein. Es genügt nicht, zu sagen, dass wir auf Gott harren, während unser Auge auf irgendeine menschliche Stütze blickt. Wir müssen mit uns selbst völlig zu Ende gekommen und ohne Ausweg sein, um erfahren zu können, was ein Leben des Glaubens ist und wie unerschöpflich die Hilfsquellen Gottes sind. Gott und die Natur können nie nebeneinander Platz finden. Gott allein muss es sein. „Nur auf Gott vertraut still meine Seele, von ihm kommt meine Rettung. Nur er ist mein Fels und meine Rettung“ (Ps 62,6.7).