Ein Vermächtnis wird zum Appell
Ermunterung zum Dienst
Das erste Kapitel bildet eine Einführung in den Brief. Nach den Grußworten kommt Paulus unmittelbar auf eines der zentralen Anliegen des Briefes zu sprechen: Er erinnert Timotheus daran, dass er die von Gott gegebene Gnadengabe anfachen soll. Damit appelliert er an ihn, seine Aufgabe zum Dienst nicht zu vernachlässigen, sondern im Gegenteil seine Bemühungen in der Arbeit für den Herrn zu intensivieren. Dabei verweist er auf sein eigenes Beispiel. Paulus hatte im Dienst nicht resigniert und Timotheus sollte es genauso wenig tun.
Neben dem Appell zum Dienst spricht Paulus von der Wichtigkeit, die von Gott gegebene Wahrheit nicht aufzugeben, sondern daran festzuhalten. Das Glaubensgut, das Timotheus bewahren sollte, war ein schönes und anvertrautes Gut. Gerade weil es Menschen gab, die in Gefahr standen, dieses Glaubensgut aufzugeben, sollte Timotheus seinerseits unter allen Umständen daran festhalten.
Das Kapitel lässt sich nicht ganz einfach strukturieren. Folgende Einteilung ist jedoch möglich:
- Verse 1–5: Grußworte an Timotheus
Die Grußworte sind sehr persönlich gehalten. Paulus erinnert sich dankbar an Timotheus. Er spricht von seinen eigenen Eltern sowie von der Mutter und Großmutter des Timotheus. Es wird klar, wie eng diese beiden Diener des Herrn miteinander verbunden waren. - Verse 6–14: Ein Appell an Timotheus
Paulus fordert Timotheus auf, seine Gnadengabe nicht zu vernachlässigen und sich des Zeugnisses nicht zu schämen. Er soll an der Wahrheit festhalten und das Glaubensgut nicht aufgeben. Paulus untermauert seine Appelle mit der Erinnerung an die große Errettung, die Gott uns geschenkt hat. Gleichzeitig stellt er sein eigenes Beispiel vor. Paulus hatte einen besonderen Auftrag von Gott bekommen. Er war ein Herold, ein Apostel und ein Lehrer. In diesem Dienst hatte er bis zum Ende nicht aufgegeben. - Verse 15–18: Leid und Freude für Paulus
Paulus hatte im Dienst manche Enttäuschung erlebt. Alle, die in Asien waren, hatten ihn verlassen. Das schmerzte ihn. Deshalb gab Gott ihm eine besondere Ermunterung durch das Verhalten von Onesiphorus.
Die Einzelheiten sind lehrreich und nützlich für uns. Wir lernen sowohl von den Appellen an Timotheus als auch von dem Beispiel des Paulus.
Das Apostelamt des Paulus
Vers 1: Paulus, Apostel Christi Jesu durch Gottes Willen, nach Verheißung des Lebens, das in Christus Jesus ist.
Der Verfasser des Briefes ist uns gut bekannt. Dennoch stellt er sich hier in einer besonderen Weise vor, die wir an anderen Stellen so nicht finden. Paulus macht deutlich, wer ihn zum Apostel berufen hatte, was ihm die Autorität zu seinem Apostelamt gab und welchen Charakter sein besonderer Dienst hatte. Er tat das nicht etwa, weil Timotheus daran irgendeinen Zweifel hegte. Die Gründe sind vielmehr darin zu sehen, dass er erstens seinem jüngeren Mitbruder Mut machen wollte, nicht zu verzagen und aufzugeben. Zweitens wird allen, die diesen ernsten Brief heute lesen, klar dokumentiert, dass er eine verbindliche Botschaft hat. Es ist eine Botschaft, der wir nicht ohne Folgen ausweichen können.
Die Berufung zum Apostelamt
Der besondere Auftrag und Dienst von Paulus wurde dadurch gekennzeichnet, dass er der einzige Apostel war, der durch den verherrlichten Herrn vom Himmel her berufen wurde. Die entscheidende Begegnung fand vor den Toren von Damaskus statt. In Damaskus bekam er dann seinen Auftrag. Damit unterschied sich Paulus‘ Dienst von dem aller anderen Apostel. Die übrigen Apostel waren von einem auf der Erde lebenden Herrn berufen worden. Sie hatten Ihn hier gesehen und erlebt. Paulus hingegen hatte den verherrlichten Herrn im Himmel gesehen. Deshalb war ihm besonders das „Evangelium der Herrlichkeit“ (1. Tim 1,11) anvertraut worden. Der Inhalt dieses Evangeliums war bis zu diesem Zeitpunkt ein Geheimnis. Die Tatsache, dass er von der himmlischen Herrlichkeit aus berufen wurde, ist der Grund, warum es hier heißt: „Apostel Christi Jesu“ – und nicht „Apostel Jesu Christi“.
Petrus nennt sich in den einleitenden Worten seiner beiden Briefe jeweils „Apostel Jesu Christi“. Der Unterschied in der Reihenfolge der Namen bei Petrus und Paulus scheint nicht ganz ohne Bedeutung zu sein. Paulus wurde durch den erhöhten und verherrlichten Sohn des Menschen berufen. Dieser hatte einst in Niedrigkeit auf dieser Erde gelebt und war jetzt von Gott zum „Herrn und Christus“ gemacht worden. Petrus hingegen weist uns in seinem Dienst besonders auf den hin, dessen Weg durch Leiden (Jesus) zur Herrlichkeit (Christus) ging. Deshalb die andere Reihenfolge1. Paulus wusste nicht nur, wem er geglaubt hatte, sondern er wusste ebenso, wer ihn berufen hatte. Es war „Christus Jesus“, der verherrlichte Herr im Himmel, der ihm auf dem Weg nach Damaskus begegnet war.
Die Grundlage des Apostelamts
Paulus war sich darüber hinaus bewusst, auf welches Fundament sich sein Apostelamt und sein Dienst abstützten: „durch Gottes Willen“. Er wusste, was ihm die notwendige Autorität gab. Die ersten Verse des Galaterbriefes machen das sehr deutlich. Dort musste Paulus seine Autorität besonders betonen, weil die Galater in großer Gefahr standen und er sie ernstlich zurechtweisen musste. Der Wille Gottes steht hier im Gegensatz zu dem Willen der Menschen. Paulus hatte sein Apostelamt nicht von einem Menschen bekommen, sondern von Gott selbst. „Durch Gottes Willen“ bedeutet „aufgrund von Gottes Willen“. Das gab Paulus einerseits die notwendige Autorität und andererseits den Mut, seinen Dienst auszuüben. Später erinnert er Timotheus daran, dass seine Gnadengabe ebenfalls eine von Gott gegebene Gabe war. Allerdings bestand der Unterschied zu Paulus darin, dass es im Fall von Timotheus spezielle Weissagungen über seine Gabe gab (1. Tim 1,18; 4,14). Seine Gnadengabe – obwohl sie natürlich ebenso ihren Ursprung in Gott hatte – wurde durch Paulus vermittelt und die Ältesten machten sich durch Auflegen der Hände damit eins. Das war bei Paulus anders. Bei ihm war kein anderer Mensch irgendwie daran beteiligt.
Der Charakter des Apostelamts
Paulus formuliert den Charakter seines Apostelamts hier so: „... nach Verheißung des Lebens, das in Christus Jesus ist“. Es handelt sich dabei nicht um eine irdische, sondern um eine ewige Verheißung. Sie steht mit dem Himmel in Verbindung. Es ist eine Verheißung des Vaters an den Sohn. Gemeint ist das ewige Leben, das „Gott, der nicht lügen kann, verheißen hat vor ewigen Zeiten“ (Tit 1,2). Dieses ewige Leben ist in niemand anderem als in Christus Jesus. In Titus 1,2 spricht Paulus von der „Hoffnung des ewigen Lebens“. Das bedeutet nicht, dass es im Blick auf das ewige Leben irgendeine Unsicherheit geben könnte. Ganz im Gegenteil: Die Tatsache, dass es „in Christus Jesus“ ist, macht die Verheißung völlig sicher. „Und dies ist das Zeugnis: dass Gott uns ewiges Leben gegeben hat, und dieses Leben ist in seinem Sohn“ (1. Joh 5,11). Das ewige Leben ist bei Paulus – im Unterschied zu den Schriften von Johannes – in den meisten Fällen etwas, das noch vor uns liegt. Wir besitzen es grundsätzlich heute schon, werden es in seiner ganzen Fülle allerdings erst dann genießen können, wenn wir in der Heimat dieses ewigen Lebens – das ist das Vaterhaus – sind. Das Wörtchen „nach“ meint „im Hinblick auf“ und deutet eben dieses Ziel an. Paulus hatte den sicheren Tod vor Augen. Timotheus befand sich in schwierigen Umständen. Der Verfall hatte eingesetzt. Da war die Erinnerung an das Ziel ein echter Trost. Timotheus sollte daran denken, dass der Dienst von Paulus auf dieses Leben hin orientiert war.
F. B. Hole schreibt dazu: „In der Natur ist das Leben eine ungeheure Kraft, aber das Leben Christi Jesu ist unbesiegbar. Das natürliche Leben in all seinen Formen, das Leben Adams – also das menschliche Leben – eingeschlossen, unterliegt letztendlich im Wettkampf und wird vom Tod besiegt. Das Leben in Christus ist außerhalb der Reichweite des Todes, denn als Gestorbener und Auferstandener wurde Er zur Quelle des Lebens für andere. Dieses Leben war vor der Entstehung der Welt verheißen (Tit 1,2) und ist durch das Evangelium ans Licht gebracht worden (V. 10). Seine Frucht wird in zukünftigen Zeiten zu sehen sein. Deshalb wird hier von dem Leben als von einer Verheißung gesprochen.“2
Ein besonderes Verhältnis
Vers 2: Timotheus, meinem geliebten Kind: Gnade, Barmherzigkeit, Friede von Gott, dem Vater, und Christus Jesus, unserem Herrn!
Das Verhältnis von Paulus und Timotheus war durch ein besonderes Band der Liebe gekennzeichnet. Er nennt ihn sein „geliebtes“ Kind. Er wusste nicht nur, dass Timotheus von Gott geliebt war, sondern er selbst hatte Timotheus von Herzen lieb. Ganz sicher hat er mit großer Freude an ihn gedacht.
Paulus war der Ältere, Timotheus der Jüngere. Gemeinsam hatten sie dem Herrn gedient. Kaum jemand hatte so viel von dem Apostel Paulus gelernt wie gerade Timotheus. Der Ausdruck „Kind“ lässt uns einerseits an Abstammung und andererseits an Beziehung denken. In diesem Sinn spricht Paulus zum Beispiel von seinem Kind Onesimus, den er in den Fesseln, d. h. im Gefängnis, gezeugt hatte (Phlm 1,10). Die neue Geburt ist natürlich immer ein Werk Gottes, Paulus war dabei sozusagen „Geburtshelfer“ geworden.
Bei Timotheus sind uns die Umstände, wie er zum Glauben kam, nicht bekannt. Man kann also nicht zwingend annehmen, dass Paulus das Werkzeug zu seiner Bekehrung war. Timotheus wird zum ersten Mal in Apostelgeschichte 16,1 erwähnt, als Paulus nach Derbe und Lystra kam. Der Bericht lässt keinen Zweifel, dass Timotheus zu diesem Zeitpunkt bereits ein Gläubiger war.
Dennoch war Paulus in einem anderen Sinn der geistliche Vater von Timotheus. Er hatte dazu beigetragen, dass dieser geistlich gewachsen war und gute Fortschritte gemacht hatte. Paulus nennt ihn an anderer Stelle sein „geliebtes und treues Kind im Herrn“ (1. Kor 4,17). In Philipper 2,22 spricht er von seiner Bewährung, „dass er, wie ein Kind dem Vater, mit mir gedient hat an dem Evangelium“. Für Paulus war das keine leere Redensart. Der Ausdruck zeugt vielmehr von seiner inneren Zuneigung zu diesem jüngeren Bruder. Auf diese Weise konnten der Zuspruch des Paulus und seine Warnungen auf fruchtbaren Boden fallen. Davon können wir in unseren geschwisterlichen Beziehungen – besonders zwischen Älteren und Jüngeren – lernen.
Gnade, Barmherzigkeit und Friede
Nun folgen die Grüße, die in der damaligen Zeit nicht am Ende, sondern zu Beginn eines Briefes formuliert wurden. Wir sind häufig geneigt, diese Grüße zügig zu überlesen. Ihr Studium ist allerdings der Mühe wert. Gerade in den Unterschieden zwischen den einzelnen Briefen werden wir interessante Hinweise finden.
Hier nennt Paulus – wie an anderen Stellen – Gnade, Barmherzigkeit und Friede. Die drei Begriffe gehören eng zusammen. Der Sünder hat sie nötig, um vor Gott bestehen zu können. Jemand hat es einmal in etwa so formuliert: Gnade ist für Wertlose. Barmherzigkeit ist für Hilflose. Friede ist für Ruhelose. Solche waren wir von Natur aus alle. Deshalb die Notwendigkeit von Gnade, Barmherzigkeit und Frieden. Indes schreibt Paulus hier an Timotheus und damit an jemand, der längst errettet war; es geht hier also um Gläubige. Timotheus lebte täglich aus der Gnade, er brauchte Barmherzigkeit und sollte den Frieden im Herzen tragen. Kein Christ kann ohne Gnade, Barmherzigkeit und Frieden glücklich leben. Auf Gläubige angewandt ist mit Recht gesagt worden: Gnade benötigen wir für den Dienst, Barmherzigkeit für unser Versagen. Frieden haben wir für unsere Umstände nötig.
- Gnade ist unverdiente Zuwendung Gottes an uns. Sie steht zu Recht immer am Anfang solcher Aufzählungen. Gnade entspringt dem Herzen Gottes. Er ist der „Gott aller Gnade“ (1. Pet 5,10). Das gilt für unsere Vergangenheit, für die Gegenwart und für die Zukunft. Hier geht es um Gnade, die wir an jedem Tag unseres Lebens nötig haben. Gnade ist nicht nur eine Anfangserfahrung junger Christen. Sie ist vielmehr ein beständiger Strom, den wir im ganzen Leben nicht ausschöpfen können. Römer 5,2 sagt uns, dass wir in der Gnade Gottes stehen. Petrus schreibt von der wahren Gnade Gottes, in der wir stehen (1. Pet 5,12). Sie begleitet uns täglich. Sie gibt uns Fundament und Festigkeit für unser Glaubensleben. Wir benötigen – gerade in Zeiten von Rückgang und Niedergang – ein deutlicheres Empfinden dafür, mit welchen Gedanken Gott an uns denkt – mit Gedanken der Güte und der Liebe. Gott sieht in Gnade auf uns. „Gnade“ kann man auch mit „Gunst“ oder „Wohlgefallen“ übersetzen. Das zeigt, mit welchen Empfindungen Gott in dem Herrn Jesus auf uns blickt. Die Bibel endet nicht ohne Grund mit den Worten: „Die Gnade des Herrn Jesus Christus sei mit allen Heiligen“ (Off 22,21). Wir alle haben dieses tiefe Empfinden nötig, dass die Gnade Gottes uns jeden Tag trägt.
- Barmherzigkeit ist das Mitempfinden Gottes in elenden Umständen. Gnade und Barmherzigkeit liegen in ihrer Bedeutung nahe beieinander. Beides ist nur in Gott zu finden. Beides ist völlig unverdient. Barmherzigkeit hat – wie Gnade – mit unserer Vergangenheit, mit der Gegenwart und mit der Zukunft zu tun. Dennoch besteht ein Unterschied. Barmherzigkeit setzt – im Unterschied zu der Gnade – unbedingt einen bemitleidenswerten und elenden Zustand voraus. Barmherzigkeit kann nur geübt werden, wenn jemand da ist, der sich in Not befindet. Was die Barmherzigkeit tut, wird vortrefflich in Lukas 10 in dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter vorgestellt. Gott ist der Gott aller Gnade – und zwar unabhängig davon, ob die Gnade einen Gegenstand findet oder nicht. Barmherzigkeit hingegen sucht notwendigerweise einen Gegenstand, an dem sie sich erweisen kann. Deshalb wird Gott nicht der „Gott aller Barmherzigkeit“ genannt. Allerdings lesen wir, dass Er „reich ist an Barmherzigkeit wegen seiner vielen Liebe“ (Eph 2,4). Dieser Gedanke macht uns glücklich. Der Reichtum seiner Barmherzigkeit hat uns gerettet. Der Reichtum seiner Barmherzigkeit steht uns jetzt an jedem Tag unseres Lebens zur Verfügung. Unsere Lebensumstände mögen sehr unterschiedlich sein. Dennoch lebt jeder von uns täglich von der Barmherzigkeit Gottes. Wir denken an die Zeitverhältnisse, in denen wir leben. Wir denken an unser persönliches und gemeinschaftliches Fehlverhalten im Blick auf das Haus Gottes. Wir denken an den Verfall um uns herum und bei uns selbst. Wo wären wir ohne die Barmherzigkeit? Der Schreiber des Hebräerbriefes gibt folgende Ermunterung: „Lasst uns nun mit Freimütigkeit hinzutreten zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu rechtzeitiger Hilfe“ (Heb 4,16).
- Frieden hat mit der Ruhe in Gott und mit der Ruhe in den Umständen zu tun. Der Gläubige hat grundsätzlich Frieden mit Gott (Röm 5,1). Was unsere Stellung betrifft, gibt es nichts, was zwischen uns und einem heiligen Gott steht. Doch Gott will uns mehr schenken. Philipper 4,7 spricht von dem Frieden Gottes, der allen Verstand übersteigt. Dieser Friede Gottes kann durch nichts erschüttert und gestört werden. Kolosser 3,15 erwähnt den Frieden des Christus, der in unseren Herzen regieren und entscheiden soll. Als der Herr Jesus auf dieser Erde war, sagte Er den Jüngern: „Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch“ (Joh 14,27). Dieser Friede, den Er uns gibt, ist der Friede des Christus. Damit sind wir – selbst in schwierigen Umständen – völlig ruhig. Paulus genoss diesen Frieden selbst im Kerker in Rom. Er wünschte seinem Kind Timotheus – und damit uns – diesen Frieden. In dem Frieden Gottes zu leben, ist der beste Schutzwall gegen alle Angriffe des Teufels. Frieden ist im Übrigen das Ergebnis von Gnade und Barmherzigkeit. Deshalb wird Friede immer nach Gnade bzw. nach Barmherzigkeit genannt – nie vorher. Nur wer im tiefen Bewusstsein der Gnade und der Barmherzigkeit lebt, kann den Frieden Gottes wirklich genießen. Wer den „Gott aller Gnade“ nicht kennt, weiß wenig oder nichts von „dem Gott des Friedens“.
Von Gott, dem Vater, und Christus Jesus, unserem Herrn
Gnade, Barmherzigkeit und Friede sprudeln aus einer Quelle hervor. Diese Quelle ist Gott, der Vater. „Vater“ hat im Neuen Testament mindestens eine dreifache Bedeutung: An einigen Stellen spricht es von Unterscheidung, an anderen Stellen von Beziehung und wieder an anderen Stellen von Ursprung. Im Sinn von Unterscheidung finden wir den Begriff zum Beispiel in Matthäus 28,19. Dort werden die Jünger aufgefordert, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes zu taufen. Die Bedeutung der Beziehung finden wir zum Beispiel an den Stellen, wo uns gezeigt wird, dass der große Gott in dem Herrn Jesus jetzt unser Vater ist, der uns liebt. Besonders Johannes stellt uns in seinen Schriften diese Seite vor. Der Gedanke an Ursprung kommt zum Beispiel in Epheser 1,17 vor. Dort ist die Rede von dem „Vater der Herrlichkeit“. Damit ist gemeint, dass Gott der Ursprung der Herrlichkeit ist.
Der Gedanke an Beziehung steht in unserem Vers sicherlich im Vordergrund. Paulus erinnert Timotheus daran, dass Gott in dem Herrn Jesus jetzt unser Vater geworden ist. Das ist eine unermessliche Segnung. Die Tatsache, dass hier eigentlich „Gott Vater“ steht, lässt dabei parallel den Gedanken an Ursprung zu. Gnade, Barmherzigkeit und Friede finden eben ihre Quelle in Ihm.
„... und Christus Jesus, unserem Herrn“. Es gibt keine Abstufung zwischen Gott, dem Vater, und Christus Jesus, unserem Herrn. Jesus Christus, der Sohn Gottes, ist genauso Gott wie der Vater. Beide Personen stehen hier nebeneinander. Dennoch werden beide unterschieden. Vielleicht können wir sagen, dass der Gedanke an Christus Jesus, unseren Herrn, uns an den einzigen Weg (oder das „Mittel“) erinnert, auf dem Gnade, Barmherzigkeit und Friede zu uns gelangen. Hätte derjenige, der jetzt zur Rechten Gottes verherrlicht ist, nicht einst als Mensch in Niedrigkeit auf dieser Erde gelebt – wir hätten nichts davon erfahren.
Paulus war ein Gefangener Roms. Die politischen Autoritäten konnten scheinbar willkürlich mit ihm verfahren. Sie hatten die Verfügungsgewalt. Dennoch hatte Paulus ein tiefes Empfinden dafür, dass dieser Christus Jesus der Herr und damit die höchste Instanz ist. Deshalb sah er sich als seinen Gefangenen. Das sollte Timotheus nicht vergessen. Wir benötigen ebenfalls das tiefe Empfinden, dass unserem Herrn im Himmel alle Gewalt gegeben ist. Er ist nicht nur unser Heiland, sondern Er ist der Herr unseres Lebens. Was immer geschehen mag, Er hat zu allem das letzte Wort zu sagen. Ihm läuft gar nichts aus der Hand.
Gebet
Verse 3.4: Ich danke Gott, dem ich von meinen Voreltern her mit reinem Gewissen diene, wie unablässig ich deiner gedenke in meinen Gebeten Nacht und Tag, voll Verlangen, dich zu sehen, indem ich mich an deine Tränen erinnere, damit ich mit Freude erfüllt sein möge.
Nach den einleitenden Worten beginnt Paulus nun mit einem Dankgebet. Paulus hatte ein sehr reichhaltiges Gebetsleben. Es bestand nicht nur aus Bitten, sondern daneben vor allem aus Danksagung. Dabei geht der Dank häufig der Bitte voraus. Wenn Paulus seinem Gott dankte – und das wird Timotheus gewusst haben –, war das keine „Pflichtübung“ oder reine Gewohnheit, sondern ein tief im Herzen empfundener Dank. Wir können davon lernen.
Das Wort „Dank“ unterscheidet sich an dieser Stelle von dem, was wir zu Beginn anderer Briefe finden. Es ist ein zusammengesetztes Wort, das man anders mit „Gnade haben“ übersetzen könnte. In 1. Timotheus 1,12 wird der gleiche Ausdruck benutzt. Paulus empfand es offenbar als eine besondere Gnade, an Timotheus im Gebet zu denken. Das ist ein Beweis des besonderen Verhältnisses dieser beiden Diener Gottes, das uns als Vorbild dient.
Paulus betete unablässig oder unaufhörlich. Das bedeutet nicht, dass er nichts anderes tat als zu beten, sondern meint vielmehr, dass er es regelmäßig, d. h. immer wieder, tat. Es war ihm eine – im positiven Sinn des Wortes – gute Gewohnheit, der er immer wieder nachging. Darin ist Paulus uns bis heute ein Vorbild.
Paulus betete Nacht und Tag. Es ist sicher nicht von ungefähr, dass die Nacht vor dem Tag erwähnt wird. Das deutet die Intensität an, mit der Paulus betete. Natürlich hatte er im Gefängnis mehr Zeit dazu als im aktiven Dienst. Dennoch tat Paulus auch im aktiven Dienst und in Freiheit gewisse Dinge „Nacht und Tag“:
- In Apostelgeschichte 20,31 lesen wir, dass er die Gläubigen Nacht und Tag mit Tränen ermahnt hatte.
- Die Thessalonicher erinnerte er zweimal daran, dass er Nacht und Tag gearbeitet hatte, um niemand auf der Tasche zu liegen (1. Thes 2,9; 2. Thes 3,8)
- In 1. Thessalonicher 3,10 finden wir ihn – wie hier – ebenfalls im Gebet. Dort flehte er Nacht und Tag, um anderen geistlich helfen zu können
Tränen
Paulus erwähnt nun die Tränen des Timotheus. Er hatte sie gut in Erinnerung. Wir fragen uns, wann Timotheus wohl geweint haben mag. Es wird uns nicht gesagt. Wir können uns gut vorstellen, dass Timotheus weinte, als Paulus sich von ihm verabschiedete. Seine Tränen waren kein Zeichen von Schwachheit. Sie zeigten vielmehr, dass Timotheus als gereifter Mann tiefe Empfindungen und geistliche Übungen hatte. Niemand von uns muss sich seiner Tränen schämen – selbst nicht im Dienst für den Herrn. Der Herr Jesus selbst hat geweint, als Er auf dieser Erde war. Das zeigt, wie vollkommen Er Mensch war. Paulus weinte ebenfalls. Als er Abschied von den Ältesten von Ephesus nahm, erwähnt er diesen Umstand gleich zweimal (Apg 20,19 und 31). Wir sollten Tränen nicht als ein Zeichen von Schwäche werten. Wer keine inneren Empfindungen hat, ist als Diener kaum nützlich.
Freude
Paulus befand sich in äußeren Umständen, die wenig Anlass zur Freude gaben. Wir fragen uns, wie er als ein Todgeweihter überhaupt von Freude sprechen kann. Er denkt hier nicht an die Freude, einmal bei seinem Herrn zu sein – eine Freude, die er ohne Zweifel gehabt hat (vgl. Kap 4,6–8). Er denkt nicht direkt an die „Freude im Herrn“ (Phil 4,4), die ebenfalls sein Teil war. Den Grund für die Freude gibt er an: Es war die Freude, Timotheus noch einmal wiederzusehen. Er war voll Verlangen, ihn zu sehen. Das Wort „Verlangen“ wird an anderen Stellen mit „Sehnen“ oder „begierig sein“ wiedergegeben. Das zeigt, wie sehr Paulus wünschte, sein Kind im Glauben noch einmal zu sehen. Wir erkennen, dass Paulus keineswegs abgestumpft war, sondern seine Einsamkeit tief empfand. Es würde für ihn eine Freude sein, Timotheus noch einmal bei sich zu haben, bevor er zu seinem Herrn gehen würde.
Als Paulus auf der ersten Reise nach Rom war – ebenfalls als Gefangener –, kamen ihm Brüder entgegen. Als Paulus sie sah, „dankte er Gott und fasste Mut“ (Apg 28,15). Wir lernen, welche positive Wirkung von der Gegenwart eines Bruders oder einer Schwester ausgehen kann, wenn sich jemand in misslichen Umständen befindet.
Das reine Gewissen des Paulus
Der Zwischensatz in Vers 3 ist nicht ganz einfach zu verstehen. Paulus spricht hier offensichtlich von der Zeit vor seiner Bekehrung und sagt, dass er Gott von seinen Voreltern her mit reinem Gewissen gedient hatte. In seiner Verteidigungsrede in Jerusalem vor dem Volk hatte Paulus gesagt: „Ich bin ein jüdischer Mann, geboren in Tarsus in Zilizien; aber auferzogen in dieser Stadt, zu den Füßen Gamaliels, unterwiesen nach der Strenge des väterlichen Gesetzes, war ich, wie ihr alle heute seid, ein Eiferer für Gott“ (Apg 22,3). Das wirft ein wenig Licht auf diese Aussage in unserem Vers. Wir könnten es vielleicht so erklären, dass Paulus hier seine eigene Beurteilung der Sache abgibt – so wie er es empfunden hatte. Gott sah das, was Paulus tat, natürlich nicht für richtig an. Paulus selbst verurteilt es an anderer Stelle deutlich. Was er tat, tat er dennoch – aus seiner damaligen Sicht – mit einem reinen Gewissen. Er war sich keiner Schuld bewusst – was ihn selbstverständlich nicht unschuldig machte. Er glaubte aufgrund seiner Ausbildung und Zurüstung tatsächlich, Gott einen Dienst zu erweisen, indem er die Gläubigen verfolgte.
Gott hat jedem Menschen ein Gewissen gegeben. Dafür sollten wir Ihm dankbar sein. Wir lernen allerdings, dass unser Gewissen allein kein geeigneter Maßstab ist. Es gleicht einer Waage, die geeicht sein muss, damit man etwas mit ihr anfangen kann. So müssen wir unser Gewissen am Wort Gottes ausrichten. Das Gewissen kann weder die eindeutigen Aussagen der Bibel noch die Leitung durch den Heiligen Geist ersetzen. Wir tun gut daran, dem Beispiel von Paulus zu folgen: Nachdem er gläubig geworden war, bemühte er sich, „ein Gewissen ohne Anstoß zu haben vor Gott und den Menschen“ (Apg 24,16). Das Neue Testament spricht vom „guten“ und „bösen“ Gewissen, vom „reinen“ und vom „schwachen“ Gewissen. Das Gewissen ist in der Tat das innere Überwachungs- und Steuerungsinstrument im Menschen, das die Fähigkeit der Unterscheidung hat (Heb 10,2; Röm 2,15; 9,1; 2. Kor 1,12). Ohne das Wort Gottes und ohne den Heiligen Geist kann es uns trotzdem in die Irre führen.
Wir fragen uns, warum Paulus diesen Tatbestand gerade an dieser Stelle erwähnt. Eine mögliche Erklärung ist, dass er Timotheus daran erinnern will, dass dieser ihm etwas voraus hatte. Timotheus war anders erzogen worden als Paulus. Seine eigene Erziehung – selbst wenn sie von seinen Eltern gut gemeint war – hatte ihn auf einen falschen Weg geführt. Timotheus hingegen hatte eine Mutter und eine Großmutter, die ihm echten Glauben vorgelebt hatten. Davon spricht Paulus in Vers 5. Dieser ungeheuchelte Glaube war mehr wert als das reine Gewissen, auf das schon die Eltern von Paulus Wert gelegt hatten.
Ungeheuchelter Glaube
Vers 5: ... indem ich den ungeheuchelten Glauben in dir in Erinnerung habe, der zuerst in deiner Großmutter Lois und deiner Mutter Eunike wohnte, ich bin aber überzeugt, auch in dir.
Paulus erinnerte sich nicht nur an seine eigenen Voreltern. Er hatte ebenso eine Erinnerung – und zwar eine gute – an die Mutter und die Großmutter von Timotheus. In drei Generationen fand er ungeheuchelten Glauben. Dabei ist klar, dass es hier nicht um den jüdischen, sondern um den christlichen Glauben geht. Timotheus' Mutter war zwar Jüdin (Apg 16,1), aber sie war gläubig geworden. Sie glaubte also an den Herrn Jesus. Dieser ungeheuchelte Glaube war nicht einfach da, sondern Paulus war überzeugt, dass er in diesen drei Personen wohnte, d. h., er hatte dort einen festen Platz, ein „Zuhause“.
Der Glaube verbindet uns mit Gott. Er ist nicht nur die Hand, die das Heil ergreift, das Gott uns in Christus anbietet. Er ist gleichzeitig die Hand, die uns als Gläubige in ständiger Verbindung mit dem Himmel hält. Nur durch den Glauben sind wir in der Lage, den Segen zu genießen, den Gott uns gibt, um als himmlische Menschen auf der Erde zu leben. Deshalb soll dieser Glaube wachsen (2. Thes 1,3). Es ist nicht damit getan, einmal geglaubt zu haben. Durch den Glauben bleiben wir in dieser ständigen Beziehung nach oben. Dieser Glaube war bei Timotheus, bei seiner Mutter und bei seiner Großmutter vorhanden.
Dann wird der Charakter ihres Glaubens vorgestellt: Er war ungeheuchelt. Das Gegenteil ist ein geheuchelter Glaube. Das Wort „heucheln“ beschreibt zum Beispiel einen Schauspieler, der auf der Bühne etwas vorspielte, was nicht den Tatsachen und dem eigenen Charakter der Person entsprach. Solche Schauspieler gaben vor, jemand anderes zu sein, als sie in Wirklichkeit waren. Das ist eine Falschheit, die bei Timotheus und seinen weiblichen Vorfahren nicht gefunden wurde.
An uns geht ebenfalls die Aufforderung, einen „echten“ und „ungeheuchelten“ Glauben zu haben. Wir sollen in unserem Denken, Reden und Handeln echt, aufrichtig und transparent sein. Jede geistliche Schauspielerei gehört sich für einen Christen nicht. Wir sollen keine Maske tragen.
Paulus hatte im ersten Brief an Timotheus von Personen geschrieben, die vom Glauben abfallen werden (Kap. 4,1). Er hatte Menschen erwähnt, die in Bezug auf den Glauben Schiffbruch erlitten hatten (Kap. 1,19). Im Verlauf des zweiten Briefes spricht er von Menschen, die den Glauben anderer zerstörten (Kap. 2,18). Wie muss es ihn da gefreut haben, hier echten und ursprünglichen Glauben zu finden.
Das Neue Testament spricht in 1. Timotheus 1,5 noch einmal vom ungeheuchelten Glauben. Darüber hinaus lesen wir von der ungeheuchelten Liebe (Röm 12,9; 2. Kor 6,6), von der ungeheuchelten Bruderliebe (1. Pet 1,22) und von der ungeheuchelten Weisheit (Jak 3,17).
Die Familie des Timotheus
Glaube ist etwas ganz Persönliches. Glaube kann nicht vererbt werden. Dennoch ist es der erklärte Wille Gottes, dass der Glaube nicht bei einem Einzelnen bleibt, sondern in der Familie entwickelt wird. Das nimmt nichts von der persönlichen Verantwortung weg. Der Gedanke Gottes ist immer „du und dein Haus“. In der Familie des Timotheus – zumindest bei den Frauen – hatte sich ein gutes geistliches Klima entwickelt. Timotheus hatte gleich zwei Vorbilder, von denen er lernen konnte. Der Vater wird bezeichnenderweise nicht erwähnt. In Apostelgeschichte 16,1 wird lediglich gesagt, dass Timotheus der Sohn einer jüdischen gläubigen Frau war und dass er einen griechischen Vater hatte. Wir können daraus eventuell die Schlussfolgerung ziehen, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht errettet war.
Auf uns übertragen heißt das, wir sind gefordert, ein gesundes geistliches Klima in unseren Familien zu entwickeln. Kinder beobachten ihre Eltern. Sie merken sehr schnell, ob der Glaube echt oder geheuchelt ist. Es ist wichtig, dass wir von unserem Glauben reden. Es ist wichtiger, unseren Glauben zu leben. Beides hat seinen Platz. Das „Vorleben“ haben wir hier. Später, in Kapitel 3,15, spricht Paulus von dem, was in der Familie des Timotheus „geredet“ wurde. Timotheus kannte von Kind auf die Heiligen Schriften. Wie war das möglich? Indem sie zu Hause gelesen wurden und Timotheus sie hören konnte.
Die Gnadengabe des Timotheus
Vers 6: Aus diesem Grund erinnere ich dich daran, die Gnadengabe Gottes anzufachen, die in dir ist durch das Auflegen meiner Hände.
Paulus kommt jetzt mit einem ersten Appell zu Timotheus. Er hatte diesen Appell durch das, was er einleitend gesagt hatte, gut vorbereitet. Deshalb sagt er: „Aus diesem Grund...“. Zugleich trägt er sein Anliegen in einer sehr milden Form vor. Es ist eine Erinnerung, die zwar den Charakter einer Ermahnung trägt, dabei jedoch gleichzeitig eine Ermunterung für Timotheus war.
Timotheus hatte eine besondere Gnadengabe von Gott empfangen. Dabei handelte es sich nicht – wie manchmal gesagt wird – um den Heiligen Geist, sondern es war eine ganz bestimmte geistliche Befähigung und zugleich ein Auftrag zum Dienst. Timotheus war wohl in erster Linie Evangelist (Kap 4,5). Zugleich hatte er einen Dienst als Hirte und Lehrer im Volk Gottes (1. Tim 4,13–16). Diese Gnadengabe sollte er anfachen.
Von der Gnadengabe des Timotheus werden zwei Dinge gesagt: erstens, dass sie von Gott kommt; zweitens, dass sie durch das Auflegen der Hände von Paulus vermittelt wurde. Die erste Aussage gilt für jede Gnadengabe. Die zweite Aussage bildet eine Ausnahme. Wir finden in den beiden Briefen an Timotheus mehrmals einen Hinweis auf seine Gnadengabe. Nur wenn wir diese Hinweise zusammen betrachten, ergibt sich ein vollständiges und damit richtiges Bild:
- Der Ursprung der Gnadengabe des Timotheus ist ohne jede Frage Gott. Sie wird in unserem Vers „Gnadengabe Gottes“ genannt, was auf den Ursprung hinweist.
- 1. Timotheus 1,18 und 4,14 machen deutlich, dass es spezielle Weissagungen über seine Gnadengabe gegeben hat. Wem diese Weissagungen gegeben waren und wer sie ausgesprochen hat, wird nicht gesagt. Timotheus wird es sicher im Nachhinein gewusst haben.
- Vermittelt wurde die Gnadengabe offensichtlich durch Paulus. Er hatte Timotheus die Hände aufgelegt, d. h., er hatte sich mit ihm einsgemacht. Paulus war also das Instrument, durch das die Gnadengabe in Timotheus tatsächlich wirksam wurde. Ihr Ursprung jedoch bleibt selbstverständlich Gott.
- Die Ältesten seiner Heimatversammlung hatten sich mit ihm einsgemacht. Wir lesen in 1. Timotheus 4,14: „mit Auflegen der Hände der Ältestenschaft“. Das war ein Ausdruck der Gemeinschaft. Sie erkannten die Gnadengabe Gottes in Timotheus an und freuten sich darüber.
Exkurs: Gnadengaben heute
Das Thema „Gnadengaben“ ist ein aktuelles Thema, das viele Christen beschäftigt. Deshalb dazu einige kurze Gedanken:
Das griechische Wort für „Gnadengabe“ ist von dem Wort für „Gnade“ abgeleitet und bedeutet so viel wie eine „wohlwollend gespendete Gabe“, ein „Gnadengeschenk“. An den meisten Stellen im Neuen Testament wird damit eine von Gott geschenkte geistliche Befähigung und Aufgabe zum Dienst bezeichnet. Die Bedürfnisse der einzelnen Glieder am Leib Christi sind ganz unterschiedlich. Deshalb hat Gott verschiedene Gnadengaben gegeben. Eine Gnadengabe sollten wir nicht mit einer natürlichen Befähigung verwechseln. Natürliche Fähigkeiten sind durchaus eine Gabe Gottes, jedoch keine Gnadengabe im eigentlichen Sinn. Ungläubige Menschen haben selbstverständlich ebenfalls von ihrem Schöpfer natürliche Fähigkeiten bekommen.
Eine Hilfestellung dazu gibt uns Matthäus 25,14.15. Dort spricht der Herr Jesus von den Talenten, die Er seinen Dienern anvertraut hatte. Diese unterschiedlichen Talente könnte man ebenfalls eine Aufgabe zum Dienst nennen und mit einer Gnadengabe vergleichen. Diese Talente werden je nach eigener Fähigkeit gegeben. Die eigene Fähigkeit können wir mit den natürlichen Befähigungen vergleichen, die Gott als Schöpfer uns gegeben hat (zum Beispiel die Fähigkeit, mit Kindern oder alten Leuten umzugehen, Sprach- und Redefähigkeit usw.). Die natürliche Fähigkeit eines Christen ist sozusagen das Gefäß, in das Gott eine Gnadengabe hineinlegt. Wer zum Beispiel nicht gut reden kann, dem wird Gott kaum die Gabe des Lehrens geben, es sei denn, er kann gut schreiben. Wer nicht gut mit Menschen umgehen kann, wird kaum die Gabe eines Hirten bekommen.
In der Christenheit hat man heute kaum mehr eine biblisch fundierte Kenntnis über die Gnadengaben. Der Grund dafür liegt darin, dass in vielen Kirchen und Gemeinden offizielle Amtsträger eingestellt worden sind, die die unterschiedlichen Dienste übernehmen sollen. Selbst da, wo man die Freiheit des Geistes im Dienst kennt, hat man oft eine eingeschränkte Sichtweise der von Gott gegebenen Gnadengaben. Es wäre falsch, hierbei nur an Hirten, Lehrer und Evangelisten zu denken. Es ist wohl wahr, dass diese drei Gnadengaben in Epheser 4 genannt werden. Man muss allerdings erstens bedenken, dass in Epheser 4 für „Gabe“ ein anderes Wort als für „Gnadengabe“ benutzt wird. Zweitens ist es wichtig zu beachten, dass es in Epheser 4 die Personen selbst sind, die der erhöhte Herr der Versammlung als „Gabe“ gegeben hat. Das Ziel wird dabei wie folgt angegeben: „zur Vollendung der Heiligen, für das Werk des Dienstes, für die Auferbauung des Leibes des Christus“ und zwar „bis wir alle hingelangen zu der Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zu dem erwachsenen Mann“ (Eph 4,12.13).
Wenn wir ein richtiges Bild über die Verschiedenheit der Gnadengaben haben wollen, müssen wir Römer 12 und 1. Korinther 12 lesen. Dort sehen wir die Vielfalt der Gnadengaben in unterschiedlichen Bereichen. An beiden Stellen wird die Versammlung mit einem menschlichen Körper verglichen, der aus vielen Gliedern besteht. So wie an diesem Körper jedes Glied seinen eigenen Platz und seine besondere Funktion hat, so ist es auch in dem (geistlichen) Leib Christi. Beide Texte nennen eine Vielzahl von verschiedenen Gnadengaben, wobei die Aufstellung immer nur beispielhaft und nicht vollständig ist. In Römer 12 werden zum Beispiel sieben Gnadengaben ausdrücklich genannt: Weissagung, Dienst, Lehre, Ermahnung, Geben, Vorstehen, Ausüben von Barmherzigkeit.
Bis heute gibt es von Gott gegebene Gnadenaufgaben. Sie sind notwendig, damit das christliche Zeugnis weiter ausgebreitet wird und aufrechterhalten bleiben kann. Wenn wir die verschiedenen Abschnitte, in denen von Gnadengaben die Rede ist (besonders Röm 12 und 1. Kor 12) im Zusammenhang besehen, dann können wir die Belehrung über dieses Thema wie folgt kurz zusammenfassen:
- Der Ursprung einer Gnadengabe ist immer Gott. Deshalb ist es keine menschliche Gnadengabe, sondern eine Gnadengabe Gottes (2. Tim 1,6).
- Der Geber ist der verherrlichte Herr im Himmel. Er sorgt vom Himmel aus dafür, dass für jede Aufgabe die notwendige Gnadengabe vorhanden ist (Eph 4,11).
- Der Heilige Geist teilt ebenso die Gnadengaben aus. Zugleich gibt er Kraft zur Ausübung. Ohne seine Kraft ist es nicht möglich, eine Gnadengabe richtig auszuüben (1. Kor 12,11).
- Die Gnadengaben werden in Verantwortung dem Herrn gegenüber (1. Kor 12,5) und unter der Leitung des Heiligen Geistes ausgeübt (Apg 13,2). Der Heilige Geist gibt nicht nur die Kraft, eine Gnadengabe zu praktizieren, sondern Er leitet uns in der tatsächlichen Ausübung.
- Es sind verschiedene Gnadengaben, die der Herr gibt (1. Kor 12,4). Niemand könnte von sich behaupten, alle Gnadengaben in sich zu vereinen. Die Folge ist, dass wir einander nötig haben (1. Kor 12,21).
- Es gibt niemand im Volk Gottes, der nicht eine Gnadengabe empfangen hätte (1. Pet 4,10). Daraus folgt, dass jeder an seinem Platz gebraucht wird.
- Der Besitz einer Gnadengabe ist einerseits ein großer Segen. Er zieht andererseits die Verantwortung nach sich, sie richtig und angemessen zum Nutzen anderer und zur Ehre des Herrn auszuüben (1. Kor 12,7).
Die Gnadengabe anfachen
Timotheus wird nun aufgefordert, die Gnadengabe anzufachen, die in ihm war. Dieser Hinweis scheint mehr vorbeugend als korrigierend zu sein. Das Wort „anfachen“ wird im Neuen Testament nur an dieser Stelle verwendet. Das Bild ist gut verständlich: Es geht um ein Feuer, das man wieder anfacht, wenn es auszugehen droht. Die Glut soll wieder entflammt werden bzw. das Feuer soll brennend erhalten werden. Die benutzte Zeitform weist darauf hin, dass es nicht um eine einmalige, sondern um eine beständige Handlung geht. Gaben werden durch ständige Benutzung aktiviert bzw. aktiv gehalten. Bei Nichtgebrauch verschwinden sie zwar nicht, verlieren allerdings ihre Wirkung.
In 1. Timotheus 4,14 hatte Paulus bereits einen ähnlichen Hinweis gegeben. Dort wird Timotheus aufgefordert, die Gnadengabe nicht zu vernachlässigen. Eine Gnadengabe wird dann vernachlässigt, wenn sie nicht aktiv eingesetzt wird. Hier drückt Paulus sich positiv aus: Er sollte die Gnadengabe anfachen. In der konkreten Situation, in der er sich befand, hatte Timotheus diesen Hinweis nötig. Zum einen war Timotheus wahrscheinlich durch eine natürliche Zurückhaltung und Demut geprägt. Diese an und für sich positiven Eigenschaften konnten ihn daran hindern, seine Gnadengabe mit Mut und Elan auszuüben. Dazu kamen die nicht einfachen äußeren Umstände. Unter den Gläubigen war sicher bekannt, dass er treu zu Paulus stand. Insofern wird man ihn als Freund von Paulus unter Umständen eher kritisch betrachtet haben. In seiner Arbeit als Evangelist konnte er leicht mutlos werden, da es durchaus gefährlich war, sich öffentlich auf die Seite der Christen zu stellen.
Der Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit
Vers 7: Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Furchtsamkeit gegeben, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.
Paulus spricht jetzt nicht länger nur von Timotheus, sondern er schließt sich mit ein. „Gott hat uns nicht einen Geist der Furchtsamkeit gegeben.“ Das gilt für jeden, der eine Gnadengabe bekommen hat. Wenn Gott eine Gnadengabe gibt, dann gibt Er ohne Zweifel gleichzeitig die Kraft, sie auszuüben.
Es stellt sich die Frage, ob mit „Geist“ der Heilige Geist oder der Geist des Menschen gemeint ist. Das für „Geist“ benutzte griechische Wort bezieht sich manchmal auf den Heiligen Geist und manchmal auf den menschlichen Geist. Hier steht es ohne Artikel, was ein Hinweis darauf sein mag, dass es sich nicht um den Heiligen Geist, sondern um den menschlichen Geist handelt, genauer gesagt um die Geisteshaltung des Christen, die natürlich wieder nur durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes hervorgerufen wird. Insofern ist eine Trennung nicht ganz einfach.
Furchtsamkeit meint Feigheit. Das Wort kommt im Neuen Testament nur an dieser Stelle vor und hat einen negativen Beigeschmack. Es ist das Gegenteil von Entschlossenheit und Beherztheit. Timotheus benötigte geistliche Entschiedenheit, um in einer schweren Zeit das Evangelium zu predigen und für die Wahrheit einzustehen. Gleiches gilt für uns heute. Die benötigten Hilfsquellen sind vorhanden. Gott hat uns einen Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit gegeben. Das sind keine natürlichen Qualitäten des Menschen, sondern eine innere Haltung, die Er durch seinen Geist in uns schafft. Schauen wir sie uns kurz im Einzelnen an:
- Kraft: Wir sahen, dass Gott nicht nur die Gnadengabe gibt, sondern gleichzeitig die nötige Kraft, um sie auszuüben. Wir haben moralische und vor allem geistliche Kraft nötig. Wir können diese nur bekommen, wenn wir unsere eigene Schwäche eingestehen. Paulus hatte das selbst erfahren. Ihm wurde gesagt, dass die Kraft des Herrn in Schwachheit vollbracht wird. Nachdem Paulus das gelernt hatte, sagte er selbst: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“ (2. Kor 12,10). Die Kraft, die wir haben, ist nicht unsere eigene Kraft. Es ist die Kraft des Heiligen Geistes (vgl. Apg 1,8).
- Liebe: Die Liebe muss das Motiv zur Ausübung jeder Gnadengabe sein. Es ist zuerst die Liebe zu Gott, dem Geber der Gabe. Es ist dann zweitens die Liebe zu unseren Mitgeschwistern und darüber hinaus die Liebe zu allen Menschen. Es soll die Liebe des Christus sein, die uns drängt. Kraft allein kann egoistisch und emotionslos ausgeübt werden. Deshalb gehört Liebe unbedingt dazu.
- Besonnenheit: Besonnenheit meint „Selbstbeherrschung“, „Nüchternheit“, „gesunder Sinn“. Zur Kraft und Liebe kommt diese dritte Eigenschaft hinzu. Kraft und Liebe allein können den Diener schwärmerisch und unnüchtern machen. Die Besonnenheit benutzt den Verstand, den Gott uns gegeben hat. Kein Christ wird dazu aufgefordert, den Verstand ausschalten. Wir sollen uns zwar nicht auf unseren Verstand stützen, ihn jedoch sehr wohl einsetzen. Wir sollen am Verstand Erwachsene (Vollkommene) werden (1. Kor 14,20). Es ist bemerkenswert, wie häufig im Buch der Sprüche über den Verstand gesprochen wird. Es ist wieder die Gnade, die uns zur Besonnenheit unterweist (Tit 2,12).
Man kann von diesem Vers aus eine gewisse Parallele zu 1. Korinther 12–14 ziehen. In diesen drei Kapiteln wird das Thema der geistlichen Gnadengaben ausführlich behandelt. In Kapitel 12 geht es um den Geist der Kraft, d. h., um die Kraft, in der die Gaben ausgeübt werden. Kapitel 13 spricht von der Liebe, dem wahren Motiv für jeden Dienst. Kapitel 14 zeigt uns den Geist der Besonnenheit, der bei der Ausübung der Gaben nicht fehlen darf.
Schäme dich nicht
Vers 8: So schäme dich nun nicht des Zeugnisses unseres Herrn noch meiner, seines Gefangenen, sondern leide Trübsal mit dem Evangelium, nach der Kraft Gottes.
Timotheus stand aufgrund seines Umfeldes in einer gewissen Gefahr, sich zu schämen. Die benutzte Zeitform macht klar, dass es sich um eine vorbeugende Warnung handelt. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Timotheus sich bereits geschämt hatte. Er befand sich möglicherweise in einer bestimmten Gefahr, der Paulus vorbeugen wollte. Deshalb hatte er in Vers 7 von dem Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit gesprochen. Die angesprochene Gefahr gilt für uns ebenso. In Segenszeiten fällt es nicht so schwer, stark zu sein und sich zu dem Herrn zu bekennen. Wenn der Wind uns allerdings entgegenbläst und wir zum Beispiel in ungläubiger Umgebung auf uns allein gestellt sind, mag es schnell anders aussehen.
Als mögliche Ursache für die Scham des Timotheus nennt Paulus zwei Gründe: erstens das Zeugnis des Herrn und zweitens sich selbst, den Gefangenen des Herrn.
Das „Zeugnis des Herrn“ kann man auf zweierlei Weise verstehen: Zum einen kann es sich um das Zeugnis handeln, das der Herr uns gegeben hat. Dann ist die christliche Lehre, das Glaubensgut, gemeint, das wir predigen und weitergeben. Da es hier mit dem Evangelium verbunden wird, geht es wohl konkret um die uns anvertraute Botschaft des Heils in Christus. Zum anderen kann man an das Zeugnis denken, das wir von unserem Herrn und über Ihn ablegen (vgl. Apg 4,33). Beide Seiten sind eigentlich nicht zu trennen. Das Evangelium der Gnade ist genauso untrennbar mit der Person unseres Herrn Jesus verbunden wie die christliche Glaubenswahrheit.
Paulus war ein Gefangener Roms. Dennoch bezeichnet er sich weder hier noch an anderen Stellen so, sondern nennt sich ein Gefangener des Herrn. Sich zu diesem Gefangenen zu bekennen, konnte für Timotheus unangenehme Folgen haben. Einerseits hatten alle Gläubigen in Asien sich von Paulus abgewandt. Andererseits war er ja gerade aufgrund seines Glaubens ein Gefangener in Rom.
Paulus selbst war ein Vorbild für Timotheus. In Römer 1,16 schreibt er, dass er sich des Evangeliums nicht schämte. In Vers 12 unseres Kapitels wiederholt er diese Aussage. Onesiphorus war ebenfalls ein positives Beispiel (Kap 1,16), und in Kapitel 2,15 wird Timotheus gesagt, dass er sich befleißigen sollte, sich als ein Arbeiter Gott bewährt darzustellen, der sich nicht zu schämen hat.
Leide Trübsal
Timotheus wird dann aufgefordert, mit dem Evangelium Trübsal zu leiden. Der Kontrast ist auffällig. Sich nicht zu schämen wird dem „Trübsal leiden“ gegenübergestellt. Dreimal spricht Paulus in diesem Brief davon. In Kapitel 2,3 wird Timotheus aufgefordert, als ein guter Streiter Christi Jesu an den Trübsalen teilzunehmen. In Kapitel 4,5 wird gesagt: „Leide Trübsal, tu das Werk eines Evangelisten, vollführe deinen Dienst.“
Wir alle nehmen gern an dem Segen des Evangeliums teil – und das ist richtig so. Unser Herr erwartet dabei gleichzeitig, dass wir bereit sind, mit dem Evangelium zu leiden. In dem Evangelium zu kämpfen, kann in der Tat Trübsal und Unannehmlichkeiten mit sich bringen. Es geht im Evangelium ohnehin nicht primär um den äußerlichen Erfolg. Wir können nicht erwarten, dass die Menschen begeistert sind und uns zustimmen. Wir sind sicher dankbar, wenn Gott uns Frucht unserer Arbeit sehen lässt; das ist jedoch nicht der Hauptgedanke. Von außen betrachtet war das Leben von Paulus durchaus nicht von bleibendem Erfolg gekrönt. Er war im Gefängnis, und diejenigen, die er zum Herrn geführt hatte, wandten sich von ihm ab. War das ein Beweis für erfolgreiche Arbeit? Oberflächlich betrachtet nicht.
Wir schauen nicht primär nach den Ergebnissen aus. Wir wollen das festhalten, was der Herr uns gegeben hat und die Predigt nicht aufgeben. Die Ergebnisse zeigen sich vielleicht nicht auf der Erde, aber ganz gewiss im Himmel. Da sehen wir, dass jedes Werk Gottes erfolgreich war. Hier auf der Erde kann es sogar sein, dass wir Trübsal leiden werden.
Es ist augenscheinlich, dass wir dazu ebenfalls Kraft nötig haben. Diese Kraft steht uns tatsächlich zur Verfügung. Wir leiden Trübsal mit dem Evangelium (oder für das Evangelium). Wir tun es „nach der Kraft Gottes“.
Ein Einschub
Vers 9: ... der uns errettet hat und berufen mit heiligem Ruf, nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem eigenen Vorsatz und der Gnade, die uns in Christus Jesus vor ewigen Zeiten gegeben ...
Bevor Paulus in Vers 12 weiter über das Thema Scham und Trübsal spricht, gibt er in den Versen 9–11 einen knappen Überblick über herrliche Tatsachen, die mit diesem Evangelium in Verbindung stehen. Man hat fast den Eindruck, dass er Timotheus daran erinnern will, dass äußere Trübsal nur eine mögliche Begleiterscheinung dieses Evangeliums ist. Für den Christen selbst eröffnet sich im Evangelium eine gewaltige Fülle an inneren Schönheiten und Segnungen, die Paulus hier nur mit knappen Worten andeutet.
Wenn wir einen Beweis für die Kraft Gottes suchen, dann finden wir ihn unter anderem im Evangelium. Das Evangelium ist „Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden“ (Röm 1,16).
Es ist Gott, der uns sowohl berufen als auch errettet hat. Beides finden wir im Evangelium offenbart und vorgestellt. Das große Thema des Evangeliums ist ja gerade das Heil (die Errettung) Gottes. Gott ist ein Heiland-Gott, der alle retten will. Damit beginnt Paulus hier. Er spannt dann einen Bogen, der über die Ewigkeit vor der Zeit („vor ewigen Zeiten“) in die Gegenwart („jetzt aber offenbart worden ist“) hineinreicht und schließlich sogar in die Zukunft geht („an jenem Tag“ in V. 12).
Errettet und berufen
Gott hat uns erstens errettet und zweitens berufen. Errettung und Berufung sind zwei Segnungen, die wir wohl unterscheiden, jedoch nicht voneinander trennen können.
- Errettung ist mehr als die Vergebung der Sünden – so groß und gewaltig diese an sich schon ist. Als das Volk Israel unter dem Blut des Passahlamms stand, waren sie von dem Gericht befreit, das die Ägypter traf. Damit waren sie allerdings noch nicht aus dem Machtbereich des Pharaos gerettet. Das war erst der Fall, als sie am anderen Ufer des Roten Meers standen und das Lied der Erlösung anstimmten. Die Befreiung von Strafe und Gericht ist eine Seite des Evangeliums. Die Rettung aus dem Machtbereich Satans und die Befreiung von dem Zwang, sündigen zu müssen, ist eine andere Seite. Beides besitzen wir durch das Werk des Herrn Jesus am Kreuz. Das macht der Römerbrief in seinem lehrmäßigen Teil (Kapitel 1–8) sehr klar.
- Wenn von Errettung die Rede ist, wird uns häufig gezeigt, wovon wir errettet sind und woher wir kamen. Wir sind gerettet aus der Gewalt der Finsternis (Kol 1,13). Wir werden gerettet von dem kommenden Zorn (1. Thes 1,10). Wir sind gerettet aus der Hand unserer Feinde (Lk 1,74). Wir sind gerettet von dem bösen und verkehrten Geschlecht (Apg 2,40). Diesen Blick zurück tun wir mit großer Dankbarkeit, weil wir wissen, in welcher Gefahr wir alle standen.
- Gott hat uns nicht nur gerettet. Er hat uns ebenfalls berufen – und zwar mit heiligem Ruf. Lässt uns die Errettung eher nach hinten sehen, so richtet sich der Blick im Gedanken an unsere Berufung eher nach vorn. Wenn von Berufung die Rede ist, wird uns an manchen Stellen gezeigt, wozu wir berufen sind. Wir sind berufen zu seinem wunderbaren Licht (1. Pet 2,9). Wir sind berufen, Segen zu erben (1. Pet 3,9). Wir sind zur Freiheit berufen (Gal 5,13). Wir sind zur Herrlichkeit berufen (1. Pet 5,10; 2. Thes 2,14). Wir sind zum ewigen Leben berufen (1. Tim 6,12). Wenn es um das Ausmaß unserer Berufung geht, dann lernen wir in Epheser 1, dass wir zur Kindschaft und zur Sohnschaft berufen sind. Das alles ist dazu angetan, den Diener Gottes in schwerer Zeit zu ermuntern. Es gibt jedoch ebenfalls eine Berufung für diese Zeit. In Apostelgeschichte 13,2 lesen wir ausdrücklich, dass Barnabas und Paulus von dem Heiligen Geist zu einem besonderen Werk berufen waren. Es ist denkbar, dass Paulus diesen Gedanken hier ebenfalls vor Augen hat und die Berufung mit der Gnadengabe des Timotheus und dem Zeugnis unseres Herrn verbindet, wovon er vorher gesprochen hat.
- Dabei wird noch etwas deutlich: Paulus erinnert daran, dass wir mit (oder zu) heiligem Ruf berufen worden sind. Der Ursprung unserer Berufung ist himmlisch (Heb 3,1). Das Ziel der Berufung Gottes ist „nach oben“ (Phil 3,14). Der Charakter – und das steht hier vor uns – ist „heilig“ (vgl. 1. Pet 1,15; 1. Thes 4,7). Wir sind zur Heiligkeit berufen. Heilig bedeutet nicht nur, dass wir von der Welt getrennt sind, sondern es bedeutet, dass Gott uns für sich haben will. Gott hat von Anfang an Licht und Finsternis geschieden (1. Mo 1,3). Daran wird Timotheus hier erinnert, weil sich viele seiner Zeitgenossen dieser heiligen Berufung nicht würdig erwiesen.
Nicht aus Werken
Errettung und Berufung sind nicht aus uns. Wir konnten und können dazu nichts beitragen. Römer-, Galater- und Epheserbrief machen das ganz deutlich (vgl. z. B. Röm 3,20; Gal 2,16; Eph 2,9). Errettung und Berufung sind niemals die Belohnung für eigenes Tun. Sie haben ihre Quelle ausschließlich in Gott. Der ungläubige Mensch kann gar kein gutes Werk tun. Seine Werke sind tote Werke. Gott kann sie nicht anerkennen.
Dennoch hat Gott in seiner Gnade gehandelt. Paulus zeigt nun die Absicht Gottes, das Motiv Gottes und den Weg Gottes, den Er gegangen ist.
- Die Absicht Gottes: Wir sind errettet und berufen nach seinem eigenen Vorsatz, d. h., sein Handeln wurde bestimmt von dem Plan, den Er in der Ewigkeit vor der Zeit gefasst hat. Es war der ewige Plan (Vorsatz, Absicht) Gottes, es so zu machen. Längst vor dem Sündenfall hatte Gott es in seinem Herzen, Menschen zu sich zu bringen. In Bezug auf sein irdisches Volk Israel hatte Gott einen zeitlichen Ratschluss gefasst. In Bezug auf sein himmlisches Volk lesen wir von einem ewigen Vorsatz (Eph 3,11). Der Vorsatz selbst geht weiter als Errettung und Berufung. Wir werden – dem Bild seines Sohnes gleichförmig – als Kinder und Söhne Gottes im Vaterhaus sein (Röm 8,29). Um diesen Ratschluss Wirklichkeit werden zu lassen, musste Gott uns erretten und berufen. Der Ausdruck „nach seinem eigenen Vorsatz“ zeigt die Souveränität Gottes. Niemand konnte Ihn daran hindern, diesen Ratschluss zu fassen und ihn dann auszuführen.
- Das Motiv Gottes: Er hat in Gnade mit uns gehandelt. In uns gab es nichts, was Gott hätte veranlassen können, uns zu retten und zu berufen. Es waren seine Gnade und seine Barmherzigkeit – Ausfluss seiner Liebe. Diese Gnade ist uns in Christus Jesus vor ewigen Zeiten gegeben. Das will sagen, in dem ewigen Ratschluss Gottes war diese Gnade bereits in der Ewigkeit vor der Zeit vorhanden. Tatsächlich offenbart wurde sie in der Zeit in der Person des Herrn Jesus. In Ihm ist die Gnade Gottes erschienen. Wir sehen hier, dass Gnade viel weiter geht, als nur eine Antwort auf das Problem der Sünde zu geben. Schon vor dem Sündenfall gab es Gnade – sie war nötig, wenn der Ratschluss Gottes erfüllt werden sollte.
- Der Weg Gottes: Es gibt nur einen Weg zum Heil. Dieser Weg ist der Herr Jesus. Das Heil ist uns „in (oder durch) Christus Jesus“ gegeben. Bereits in der Ewigkeit vor der Zeit stand fest, dass die Gnade uns nur auf diesem Weg erreichen konnte. Dazu war es nötig, dass Er Mensch wurde und das Werk am Kreuz vollbrachte. Deshalb ist Er zugleich das Lamm Gottes, das zuvor erkannt ist vor Grundlegung der Welt (1. Pet 1,20), aber offenbar geworden am Ende der Zeiten. Das führt dann direkt zu Vers 10.
Die Erscheinung unseres Heilandes Jesus Christus und ihre Folgen
Vers 10: ... jetzt aber offenbart worden ist durch die Erscheinung unseres Heilandes Jesus Christus, der den Tod zunichtegemacht, aber Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht hat durch das Evangelium.
„Erscheinung“ nimmt immer Bezug auf etwas, das erkennbar wird, sei es eine Sache oder eine Person. In Verbindung mit dem Herrn Jesus geht es darum, dass Er sichtbar „offenbar“ wird. Mit Ausnahme unserer Stelle nimmt „Erscheinung“ an allen anderen Stellen im Neuen Testament Bezug auf seine Erscheinung in Macht und Herrlichkeit vor der Aufrichtung des 1000-jährigen Friedensreiches (1. Tim 6,14; 2. Tim 4,1; 2. Tim 4,8; Tit 2,13; 2. Thes 2,8). Nur hier ist es anders. Paulus erinnert daran, dass die Gnade Gottes in Christus erschienen ist. In Ihm ist die Gnade Gottes erschienen, „Heil bringend für alle Menschen“ (Tit 2,11).
„Jetzt aber...“ meint in der Haushaltung der Gnade, die ihren Anfang nahm, als der Herr Jesus als Heiland auf dieser Erde sichtbar für alle Menschen erschien. Er tritt hier als der „Heiland Jesus Christus“ vor uns. Heiland bedeutet Retter. Jesus ist sein Name als Mensch. „Du sollst seinen Namen Jesus nennen“ (Mt 1,21). Als Christus ist Er nach vollbrachtem Werk jetzt zur Rechten Gottes hoch erhoben. Gott hat Ihn zum „Herrn und zum Christus gemacht“ (Apg 2,36).
Tod und Verwesung sind Folgen des Sündenfalls. Sie sind der Beweis, dass die Sünde zu allen Menschen durchgedrungen ist. Gott hatte das Gericht angekündigt, bevor der Mensch in Sünde fiel. Seit dem Sündenfall gibt es auf dieser Erde Tod und Verwesung. Das Gesetz konnte daran nichts ändern. Es ließ die Sünde allerdings umso deutlicher hervortreten. Doch dann kam der Heiland Jesus Christus auf diese Erde. In Ihm war Leben. Er ging freiwillig in den Tod. Die Tatsache, dass der Tod der Lohn der Sünde ist, galt nicht für Ihn. Er starb nicht als Folge eigener Sünde. Er tat es für uns. Dadurch hat Er den Tod besiegt. Der Tod herrscht nicht mehr über uns. Er ist unser „Diener“, nicht mehr unser „Herr“. Der Herr Jesus hat „durch den Tod den zunichtegemacht, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel“ (Heb 2,14).
„Zunichtemachen“ bedeutet so viel wie außer Kraft und Wirksamkeit setzen. Das Wort wird ebenfalls in Hebräer 2,14 benutzt. Der Tod ist noch nicht abgeschafft. Es gibt ihn immer noch. Für uns ist er jedoch wirkungslos gemacht. Der Tod wird der „König der Schrecken“ genannt (Hiob 18,14). Für Gotteskinder hat er seinen Schrecken (seinen Stachel) verloren. Erst im ewigen Zustand wird es den Tod gar nicht mehr geben (Off 21,4). Gleiches gilt für die Verweslichkeit. Triumphierend schreibt Paulus an die Korinther: „Wenn aber dieses Verwesliche Unverweslichkeit anziehen und dieses Sterbliche Unsterblichkeit anziehen wird, dann wird das Wort erfüllt werden, das geschrieben steht: ‚Verschlungen ist der Tod in Sieg‘“ (1. Kor 15,54).
Ans Licht gebracht durch das Evangelium
Von alledem hätten wir nichts gewusst, wenn das Evangelium nicht zu uns gekommen wäre. Evangelium bedeutet „gute Botschaft“. Es ist die gute Botschaft Gottes an uns Menschen. „Ans Licht gebracht“ geht weiter, als nur einfach etwas zu sehen oder zu zeigen. Es meint, dass durch das Evangelium diese Dinge in ihrem wahren Charakter dargestellt und offenbart worden sind. Diese „gute Botschaft“ umfasst viel mehr als „nur“ Vergebung von Sünden – so unendlich groß und gewaltig sie als solche bereits ist. Im Alten Testament war das in dieser Form nicht bekannt. Israel wusste etwas von einem Erlöser. Die gläubigen Juden warteten darauf, dass Er kommen und sie von ihren Feinden retten würde. Das allerdings, was jetzt im Evangelium offenbar gemacht ist, geht weit darüber hinaus.
Ein besonderer Auftrag
Vers 11: ... zu dem ich bestellt worden bin als Herold und Apostel und Lehrer der Nationen.
Paulus spricht jetzt von seinem besonderen Auftrag. Ihm war das Evangelium der Herrlichkeit des seligen Gottes anvertraut (1. Tim 1,11). Hier spricht er davon, dass er dazu bestellt, d. h. bestimmt oder gesetzt worden war. Paulus hatte sich nicht selbst dazu gemacht. Er war nicht von anderen dazu „ordiniert“ worden. Der Gedanke einer Ordination durch Menschen liegt dem Wort Gottes völlig fern. Nein, Paulus war von Gott dazu bestimmt worden. Er sollte dieses Evangelium verkünden und verbreiten – und er hat es getan. Er tat es als Herold, als Apostel und als Lehrer der Nationen.
- Ein Herold ist ein Prediger oder Verkündiger einer Botschaft (vgl. 1. Tim 2,7; 2. Pet 2,5). Ein kaiserlicher Herold im Römischen Reich war ein Ausrufer öffentlicher Botschaften. Die Vollmacht des Herolds liegt nicht so sehr in seiner Person, sondern in der Botschaft, die er bringt. Ein guter Herold würde die Botschaft seines Herrn nie verändert haben. So verkündigte Paulus die Botschaft genau so, wie sie ihm von seinem Auftraggeber gegeben worden war. Er tat nichts hinzu. Er nahm nichts weg. Er veränderte nichts.
- Als Apostel (Gesandter) Christi Jesu durch Gottes Willen brachte er die Botschaft mit göttlicher Autorität. Sie war ihm offenbart worden und er gab sie mit allem Nachdruck weiter.
- Als Lehrer der Nationen verkündigte Paulus das Evangelium nicht nur mit Autorität, sondern er erklärte es. Seine Botschaft galt nicht nur den Menschen aus dem Volk Israel, sondern sie richtete sich an alle Menschen. Paulus war der Apostel und Lehrer der Nationen (vgl. Röm 11,13; Gal 2,8). Bei seiner Berufung war ihm das klar gesagt worden (vgl. Apg 9,15). Diesen Auftrag hat er bis zum Ende seines Lebens nicht vergessen.
Die Glaubenszuversicht des Paulus
Vers 12: Aus diesem Grund leide ich dies auch; aber ich schäme mich nicht, denn ich weiß, wem ich geglaubt habe, und bin überzeugt, dass er mächtig ist, das ihm von mir anvertraute Gut auf jenen Tag zu bewahren.
Paulus nimmt an dieser Stelle den Faden wieder auf, den er in den Versen 9–11 kurz verlassen hatte. Er stellt sich jetzt selbst als Beispiel vor seinen jüngeren Freund und Bruder. Paulus war ein Gefangener in Rom. Dennoch litt er nicht als ein Krimineller. Er litt nicht wegen eigenen Fehlverhaltens. Er litt vielmehr wegen der Verkündigung des Evangeliums. So war es schon bei seiner ersten Haft in Rom gewesen. Davon schreibt er mehrfach. In Epheser 3,1 bringt er seine Haft in Verbindung mit der Verkündigung des Geheimnisses von Christus und seiner Versammlung. In Epheser 6,19.20 schreibt er, dass er wegen des Geheimnisses des Evangeliums ein Gesandter in Fesseln war. Von Anfang an war ihm klar gesagt worden, dass er für den Namen des Herrn leiden würde (Apg 9,16). Diese Leiden waren schon während seines hingebungsvollen Dienstes sein Teil, aber jetzt war er im Gefängnis und hatte den Tod vor Augen. Hinzu kam, dass ihn alle in Asien verlassen hatten. Darunter litt Paulus ebenfalls sehr. Es gab zudem Widerstand gegen die Wahrheit (Kap. 2,25) und Verfolgung durch böse Menschen (Kap. 3,11–13; 4,14). Dennoch wurde Paulus nicht mutlos. Er schämte sich nicht. Er verfiel nicht in zweifelnde Überlegungen und stumpfes Grübeln. Andererseits lehnte er sich nicht gegen sein Schicksal auf. Wir finden bei ihm weder Resignation noch Depression oder gar Opposition.
Wir fragen uns: Wie kann es sein, dass Paulus, obwohl er so unendlich litt, dennoch voll Zuversicht war? Die Antwort gibt er selbst: „Ich weiß, wem ich geglaubt habe.“ Es geht an dieser Stelle nicht so sehr darum, was Paulus glaubte, sondern wem er glaubte. Beides ist natürlich wichtig. In Kapitel 3,14 wird Timotheus aufgefordert: „Du aber bleibe in dem, was du gelernt hast und wovon du völlig überzeugt bist.“ Hier hingegen geht es nicht zuerst um die Lehre und die Glaubenswahrheit, sondern um die Person, die das Zentrum dieser Wahrheit ist. Es geht um den Herrn Jesus selbst. Was Paulus hier ausdrückt, ist tiefes Vertrauen. Sein Herr hatte ihn nie verlassen und Er würde es ganz sicher in der Zukunft nicht tun. Paulus stützte sich nicht auf seinen Auftrag und auf seinen Dienst. Sonst hätte er vielleicht doch einen Grund gefunden, mutlos zu werden und sich zu schämen. Nein, Paulus setzte sein ganzes Vertrauen allein auf den Herrn.
Paulus „wusste“, wem er geglaubt hatte. „Wissen“ und „Kennen“ sind nahe beieinander, aber doch nicht identisch. Das Wort „Kennen“ bedeutet, dass man etwas durch Erfahrung gelernt hat. „Wissen“ hingegen drückt mehr eine innere Überzeugung aus. Paulus war bei seiner Bekehrung vor Damaskus zum Glauben an den Herrn Jesus gekommen. Das Wort „glauben“ steht hier in einer Zeitform, die auf einen in der Vergangenheit zustande gekommenen Glauben hinweist, der immer noch andauerte. Paulus sagt mit anderen Worten: Ich habe geglaubt, mit dem Ergebnis, dass mein Glaube bis heute ganz fest ist.
Die Glaubensüberzeugung des Paulus
Paulus hatte nicht nur ein festes Glaubensvertrauen, sondern er drückt gleichzeitig seine Glaubensüberzeugung aus. Er war überzeugt, dass sein Herr mächtig war, das Ihm von Paulus anvertraute Gut zu bewahren. Paulus konnte sich darauf ganz fest verlassen. Der Herr ist mächtig, d. h., Er ist stark und fähig, das zu bewahren, was Paulus Ihm anvertraut hatte. In Vers 7 war von der Kraft die Rede, die der Geist Gottes vermittelt. In Vers 8 hatte Paulus von der Kraft Gottes selbst gesprochen. Hier nun verweist er auf die Macht (oder Kraft) des Herrn Jesus, der fähig sein würde, das Ihm anvertraute Gut zu bewahren. Bewahren bedeutet so viel wie vor Raub oder vor Verlust schützen. Paulus vertraute der göttlichen Macht, dass nichts verloren gehen würde.
Was meint Paulus konkret mit diesem anvertrauten Gut? Die Formulierung kommt in unserem Abschnitt zweimal vor (V. 12, V. 14) und dann noch einmal in 1. Timotheus 6,20. Zweimal wird von einem Gut gesprochen, das der Herr uns anvertraut hat. Einmal – nämlich in unserem Vers – ist es ein Gut, das Paulus dem Herrn anvertraut hatte. Wörtlich übersetzt bedeutet der Ausdruck „Niedergelegtes“. Es ist etwas, das man einem anderen zur treuen Verwahrung bzw. Verwaltung übergeben hat.
Es ist möglich, dass Paulus an die Errettung denkt, von der er vorher gesprochen hat. Die vollständige Errettung, die den Körper des Gläubigen einschließt, liegt noch vor uns, so dass Paulus die Überzeugung ausdrückt, diese Errettung am Ende tatsächlich zu erreichen. Wahrscheinlicher ist, dass wir diesen Ausdruck allgemein auffassen müssen, d. h., Paulus bringt die Überzeugung zum Ausdruck, dass alles, was ihn betrifft, in der Hand seines Herrn gut aufgehoben ist und nicht verloren gehen wird. Paulus folgte den Spuren seines Herrn, der sich in allem dem übergab, der gerecht richtet (1. Pet 2,23). Was immer mit Paulus geschehen würde, wie immer die Umstände sich entwickeln würden, selbst wenn seine Glaubensgeschwister ihn verlassen mochten – Paulus übergab alles in die Hand seines Herrn. Selbst wenn es den Anschein hatte, als ob die Ergebnisse seines Dienstes ihm am Ende seines Lebens wie Sand durch die Finger zerronnen – er wusste, dass nichts von dem, was er für seinen Herrn getan hatte, verloren sein würde. Am Richterstuhl des Christus würde es zur Ehre des Herrn wiedergefunden werden. Der Herr würde es bewahren. Das gab Paulus Mut und das sollte jetzt Timotheus motivieren.
An jenem Tag
„Jener Tag“ ist ohne Zweifel ein Hinweis auf die Erscheinung des Herrn Jesus in Macht und Herrlichkeit und den damit verbundenen Richterstuhl des Christus. Paulus richtete den Blick nach vorn. Er spricht hier nicht von dem Kommen des Herrn für uns – so sehr Paulus darauf gewartet haben wird –, sondern von seinem Erscheinen zur Aufrichtung des Reiches Gottes auf dieser Erde. Es ist der Tag, an dem das Werk eines jeden offenbar werden wird (1. Kor 3,13). Es ist der Tag, an dem Er verherrlicht werden wird „in seinen Heiligen und bewundert werden wird in all denen, die geglaubt haben“ (2. Thes 1,10). An diesem Tag wird alles in das richtige, nämlich göttliche Licht gestellt werden. Dann wird alles zur Ehre und Verherrlichung des Herrn Jesus sein.
Das Bild gesunder Worte
Vers 13: Halte fest das Bild gesunder Worte, die du von mir gehört hast, in Glauben und Liebe, die in Christus Jesus sind.
Es folgt eine weitere Aufforderung an Timotheus. Er sollte das Bild gesunder Worte festhalten. Alternativ kann man übersetzen: „Habe eine Form (ein Muster) gesunder Worte“. Gesunde Worte können wir in Verbindung bringen mit dem „Zeugnis unseres Herrn“, von dem Paulus in Vers 8 gesprochen hatte. Dieses Zeugnis ist in sich gesund und es führt zu einem gesunden geistlichen Zustand. Timotheus hatte während der gemeinsamen Reisen viel von Paulus gehört und gelernt. Daran sollte er unbedingt festhalten und es nicht aufgeben. In Kapitel 3,14 wird Timotheus noch einmal aufgefordert, in dem zu bleiben, was er gelernt hatte und wovon er völlig überzeugt war. Für uns heute gilt die Aufforderung, an dem ganzen überlieferten Wort Gottes festzuhalten. Wir sollen nichts davon aufgeben – weder in der Lehre noch in der Praxis. In Kolosser 1,25 schreibt Paulus, dass er – was den Umfang und Inhalt betrifft – das Wort Gottes vollendet hat. Es ist unsere Verantwortung, dieses vollendete Wort Gottes zu bewahren, d. h., seine Autorität und Unfehlbarkeit anzuerkennen und im Leben umzusetzen.
Es geht um das Bild gesunder Worte. Der Ausdruck „Bild“ bedeutet hier so viel wie „Skizze“, „Vorbild“ oder „zusammengefasste Darstellung“. J. N. Darby schreibt, dass es eine Zusammenfassung oder Gliederung ist, um klar und definitiv sagen zu können, was Timotheus glaubte. Von Menschen aufgestellte Glaubensbekenntnisse mögen an ihrem Platz durchaus gut und nützlich sein. Doch darum geht es Paulus nicht. Was zählt, ist die Gesamtheit der göttlich inspirierten Wahrheit. Darauf kommt Paulus im Verlauf seines Briefes erneut zu sprechen.
Es ist bis heute unbedingt erforderlich, die göttliche Lehre in der Form zu bewahren, in der sie uns gegeben worden ist. Das betrifft nicht nur die göttliche Wahrheit an sich, sondern ebenso die Form und die Worte, in der sie uns in der Bibel übermittelt worden ist. Daraus wird deutlich, wie wichtig es ist, eine gute Bibelübersetzung zu benutzen. Freie Bibelübersetzungen (Übertragungen) können dieses „Bild gesunder Worte“ niemals vermitteln. Sie zeigen im Gegenteil ein verzerrtes Bild der Wahrheit und führen so leicht in die Irre.
Wir werden nur dann ein Bild gesunder Worte haben und bewahren, wenn wir den Text eines Bibelabschnitts in seiner Beziehung zu anderen Texten interpretieren. Wir müssen erkennen, was Gott uns an einer bestimmten Stelle sagen möchte und was nicht. Nur so erkennen wir die Zusammenhänge und großen Linien des Wortes Gottes in der richtigen Art und Weise. Kein Teil der Bibel widerspricht dem anderen. Zusammen bilden sie ein harmonisches Ganzes. Beim Studium der Bibel ist es deshalb wichtig, das Ganze im Auge zu behalten. Andernfalls besteht die große Gefahr, dass wir uns ein eigenes „Bild“ machen und das „Bild gesunder Worte“ dabei verlieren. So ist es zum Beispiel fatal, wenn wir die Unterschiede zwischen dem Volk Gottes im Alten Testament (Israel) und dem Volk Gottes im Neuen Testament (Versammlung) nicht erkennen, oder wenn wir das Zeitalter des Gesetzes mit dem der Gnade verwechseln oder die Seite der Gnade Gottes nicht von der Seite unserer persönlichen Verantwortung unterscheiden.
Natürlich hat zum Beispiel das Studium der Details seinen Platz. Dennoch müssen wir dabei aufpassen, die großen Linien nicht zu verlieren. Jemand hat das „Bild gesunder Worte“ einmal mit einem großen Baum verglichen. Der Baum hat einen dicken Stamm, größere und kleinere Äste und Zweige und schließlich die Blätter. Wenn wir einen solchen Baum kennenlernen wollen, beschäftigen wir uns zuerst mit dem Stamm und den dickeren Ästen. Dann kommen wir zu den Zweigen und schließlich zu den Blättern. Auf diese Weise erkennen wir die Wahrheit Gottes. Wir beginnen mit den großen Linien und Strukturen der Schrift und kommen dann zu den Einzelheiten. Es umgekehrt zu machen und bei den „Zweigen und Blättern“ zu beginnen, birgt das Risiko, das Bild gesunder Worte zu verlieren.
In Glauben und Liebe
Nicht ohne Grund fügt Paulus hinzu: „... in Glauben und Liebe, die in Christus Jesus sind.“ Die Gefahr besteht, dass wir das Bild gesunder Worte nur in unserem Kopf haben. Verstand und Gedächtnis sind ohne Frage Gaben Gottes, sie sind jedoch nicht alles. Wir sollen das Bild gesunder Worte nicht nur intellektuell festhalten. Täten wir es trotzdem, bestände die Gefahr, in eine tote Orthodoxie zu verfallen. Das Bild gesunder Worte müssen wir zuerst mit dem Herzen festhalten. Deshalb sind Glauben und Liebe, die in Christus Jesus sind, dazu unerlässlich. Christus ist nicht nur der Gegenstand von Glauben und Liebe, sondern Er ist ihre Quelle und ihr Ursprung.
Ein schönes und anvertrautes Gut
Vers 14: Bewahre das schöne anvertraute Gut durch den Heiligen Geist, der in uns wohnt.
In Vers 12 ist es der Herr, der etwas bewahrt, d. h., vor Schaden und vor Angriffen schützt. Er bewahrt das, was wir für Ihn erarbeiten. Er enttäuscht dabei nicht. Jetzt wird Timotheus aufgefordert, etwas zu bewahren, nämlich das schöne anvertraute Gut. Dieses Gut ist das anvertraute Zeugnis, die Glaubenswahrheit, oder das Bild gesunder Worte.
Es ist erstens ein schönes Gut. Das bedeutet, dass es wertvoll ist. Die Glaubenswahrheit ist ein kostbarer Schatz, dessen Wert wir nicht hoch genug einschätzen können. Es ist etwas, das bewahrt werden will. Natürlich ist es Gott, der über sein Wort wacht. Es wird immer ausrichten, wozu es gesandt ist. Unter dem Gesichtspunkt unserer Verantwortung sollen wir dieses Wort bewahren wie einen kostbaren Schatz. Wir dürfen nicht zulassen, dass dieses Wort durch unser Verhalten in den Schmutz gezogen wird.
Es ist zweitens ein anvertrautes Gut. Judas spricht in seinem Brief davon, dass der Glaube (das Glaubensgut, die Glaubenswahrheit) einmal den Heiligen überliefert worden ist (Jud 3). Der Ursprung des Glaubensguts ist Gott. Es ist nicht unser Glaubensgut, sondern es ist seine Wahrheit. Sie ist uns lediglich zur Bewahrung anvertraut und wir sollen geistlichen Nutzen daraus ziehen. Es ist uns nicht gestattet, die Wahrheit zu verändern, ihr etwas hinzuzufügen oder etwas wegzunehmen. Das war im Alten Testament ausdrücklich untersagt (5. Mo 13,1) und das ist im Neuen Testament ausdrücklich untersagt (Off 22,18.19). Wir belassen das Glaubensgut so, wie es ist. Der Querverweis auf den Vers im Judasbrief macht überdies deutlich, dass zum Bewahren des Glaubensgutes die Bereitschaft gehört, dafür zu kämpfen.
Durch den Heiligen Geist bewahren
„Bewahren“ bedeutet so viel wie einen Wertgegenstand an einem sicheren Ort aufbewahren. „Anvertrauen“ bedeutet „deponieren“ oder „hinterlegen“. Das Wort wurde dann benutzt, wenn ein kostbarer Schatz der Fürsorge eines anderen anvertraut wurde, um ihn dann nach einer Zeit auf Verlangen dem Eigentümer zurückzugeben. Das Wort wurde ebenso gebraucht, um die Aufgabe eines Wächters zu beschreiben. Ein Wächter darf nicht schläfrig werden, sondern muss wach bleiben und aufpassen. Bewahren schließt also Wachsamkeit unbedingt ein. Man kann das eine nicht vom anderen trennen. Beides gehört zusammen. Es gibt falsche Lehre und Irrlehre. Davor müssen wir in jeder Weise auf der Hut sein. Irrlehren mögen sich gut und intelligent anhören, so dass wir in jedem Fall nahe beim Wort Gottes bleiben müssen, um den Irrtum erkennen zu können.
Wie können wir nun dieses Gut so bewahren, dass es nicht lediglich ein äußeres Festhalten an der Wahrheit ist, was zu einer toten Orthodoxie führen würde? Es muss uns klar sein, dass eine Form allein nicht reicht. Eine Form der Gottseligkeit haben viele Menschen, die sich Christen nennen. Diese allein hält die Wahrheit nicht lebendig. Eine äußere Form mag zu gut formulierten Glaubensbekenntnissen führen. Das allein hilft uns allerdings nicht weiter. Nur durch den Heiligen Geist erhält die Wahrheit die innere Kraft. Er ist die Kraft und Er gibt uns die Kraft. Allein können wir das Glaubensgut nicht bewahren. Wir haben diese göttliche Person nötig, die in uns wohnt und uns mit Kraft erfüllt. Deshalb sagt Paulus am Ende des Verses: „...durch den Heiligen Geist, der in uns wohnt.“
Es ist eine der fundamentalen Wahrheiten der christlichen Haushaltung, dass der Heilige Geist einerseits in der Versammlung und andererseits in jedem einzelnen Gläubigen wohnt. Wenn es um uns geht, so lernen wir, dass der Heilige Geist
- uns versiegelt hat, was unsere Errettung betrifft (Eph 1,13; 4,30)
- unser Unterpfand (Anzahlung) ist, wenn es um das Erbe geht, das wir mit Christus antreten werden (Eph 1,14)
- unsere Salbung ist, wenn es um die Kenntnis der Dinge geht, die von Gott sind (1. Joh 2,20.27)
Der Heilige Geist ist uns also unter anderem deshalb gegeben, damit wir das Glaubensgut bewahren. Unser Gut ist bei Gott völlig sicher, weil Er es bewahrt. Sein Gut bei uns ist dann ebenfalls sicher, wenn wir dem Heiligen Geist in uns Raum geben und sein Wirken nicht behindern.
Am Anfang von Kapitel 2 werden wir finden, dass wir das Glaubensgut nicht nur bewahren, sondern an die nächste Generation weitergeben sollen. Dort lesen wir, dass Timotheus das Glaubensgut treuen Männern anvertrauen sollte, die wiederum fähig sein würden, andere zu belehren (V. 2). Das dort für „anvertrauen“ benutzte Wort hat den gleichen Wortstamm wie in unserem Vers. Was uns „anvertraut“ worden ist, sollen wir wiederum der nächsten Generation „anvertrauen“.
Bevor Paulus diesen Gedanken jedoch weiter ausführt, wendet er sich in den nächsten Versen Menschen zu, die in seinem Leben eine Rolle gespielt haben. In Vers 15 spricht er von Gläubigen in Asien. Diese Erinnerung wird ihn sehr traurig gestimmt haben. In den Versen 16–18 hat er dann Onesiphorus vor Augen. Die Erinnerung an ihn wird ihm Mut gemacht haben.
Alle, die in Asien sind
Vers 15: Du weißt dies, dass alle, die in Asien sind, sich von mir abgewandt haben, unter welchen Phygelus ist und Hermogenes ...
Paulus erinnert Timotheus an etwas, das diesem nicht unbekannt war. Alle, die in Asien waren, hatten sich von Paulus abgewandt. Das damalige Asien ist nicht der Kontinent, den wir heute so bezeichnen. Asien war damals die römische Provinz im Westen Kleinasiens, der heutigen Türkei. Biblische Städte wie Ephesus und Kolossä lagen in dieser Provinz. Wir finden diese Gegend in Offenbarung 2 und 3 wieder, wo Johannes im Auftrag des Herrn an sieben Versammlungen schreibt, die in Asien lagen. In Apostelgeschichte 19,10 lesen wir, dass alle, die in Asien waren, zwei Jahre lang das Wort des Herrn hörten. Wir erkennen daran (und aus anderen Stellen), wie intensiv Paulus gerade in dieser Gegend gearbeitet hatte. Die Briefe an die Epheser und Kolosser machen uns klar, wie sehr Paulus mit den Geschwistern dort verbunden war. Sie zeigen weiter, dass die Gläubigen dort in einem guten geistlichen Zustand waren. Das traf ganz besonders auf die Epheser zu. Umso mehr muss es Paulus wehgetan haben, dass die Gläubigen sich gerade dort von ihm abgewandt hatten. Rückschritt und Niedergang hatten eingesetzt. Die indirekte Warnung am Ende des Epheserbriefes, den Herrn Jesus in Unverderblichkeit zu lieben (Eph 6,24), war offensichtlich in den Wind geschlagen worden. In Offenbarung 2,4 wird denselben Gläubigen vorgeworfen, dass sie ihre erste Liebe verlassen hatten.
Die Gläubigen in Asien hatten Paulus verlassen. Das bedeutet nicht unbedingt, dass sie den christlichen Glauben oder das Bekenntnis aufgegeben hatten. Es kann zweierlei bedeuten:
- Möglich ist, dass Paulus diesen Gläubigen zu dogmatisch oder zu extrem geworden war. Vielleicht suchten sie einen Weg, der für den natürlichen Menschen angenehmer war und so auf breitere Zustimmung traf. Insofern hatten sie den Dienst von Paulus und seine Lehre in der Praxis aufgegeben. Das Sendschreiben an die Versammlung in Ephesus legt diesen Gedanken nahe. Die Kirchengeschichte zeigt, wie es weiterging. Die Wahrheit von dem einen Leib einerseits und dem Kommen des Herrn andererseits ist schnell verloren gegangen.
- Möglich ist darüber hinaus, dass die Gläubigen in Asien sich deshalb von Paulus distanzierten, weil es gefährlich geworden war, sich zu einem Mann zu bekennen, der ein Gefangener des Kaisers in Rom war und dem der Prozess gemacht wurde. Vielleicht gingen sie deshalb auf Distanz, um sich selbst zu „schützen“.
Die Aussage macht jedenfalls klar, dass die Gläubigen in Asien in keinem guten geistlichen Zustand waren. Dabei wird deutlich, wie sehr Paulus darunter gelitten haben muss.
Zwei Namen werden genannt. Man kann darüber nachdenken, warum Paulus sie nennt. Möglich ist, dass es zwei Männer waren, von denen Timotheus das nicht erwartet hätte. Es mögen Führer unter den Brüdern gewesen sein. Wie dem auch sei, für uns bleibt die Frage, ob unser Name ebenfalls genannt worden wäre, wenn wir damals in Asien gelebt hätten.
Es ergibt sich für uns eine zweite praktische Anwendung dieses Verses. Niemand von uns kann sich heute in der unmittelbaren Bedeutung der Aussage von Paulus „abwenden“. Paulus lebt schon lange nicht mehr. Was wir allerdings sehr wohl tun können, ist, seine spezielle Belehrung aufzugeben. Genau das ist in der Christenheit sehr oft geschehen. Das gilt besonders für die von Paulus vorgestellte himmlische Berufung der Gläubigen und für die Wahrheit von dem einen Leib. Wir wollen uns fragen, wie wir zu dieser von Paulus offenbarten Wahrheit stehen. Hat sie wirklich einen Einfluss auf unser Leben?
Das Haus des Onesiphorus
Verse 16–18: Der Herr gebe dem Haus des Onesiphorus Barmherzigkeit, denn er hat mich oft erquickt und sich meiner Kette nicht geschämt, sondern als er in Rom war, suchte er mich fleißig und fand mich. Der Herr gebe ihm, dass er von Seiten des Herrn Barmherzigkeit finde an jenem Tag! Und wie viel er in Ephesus diente, weißt du am besten.
Über Onesiphorus wissen wir nicht sehr viel. Offensichtlich war er von einem ganz anderen Charakter als die in Vers 15 genannten Personen. Er scheint unter den Gläubigen in Asien eine Ausnahme gewesen zu sein. Er schämte sich nicht. Er hatte sich Mühe gegeben, Paulus in der Großstadt Rom zu suchen und ihn zu finden. Das war in einer Stadt wie Rom weder einfach noch ungefährlich. Dabei hatte Onesiphorus Paulus nicht nur einfach gesucht, sondern er hatte ihn „fleißig“ gesucht. Sein Fleiß, seine Courage und seine Nachhaltigkeit sind richtungweisend für uns, selbst wenn wir uns in völlig anderen Umständen befinden.
Sowohl hier als auch später in Kapitel 4,19 erwähnt Paulus sein Haus. Offenbar war er verheiratet und hatte Kinder. In unserem Vers wird von seinem Dienst gesprochen. Das deutet an, dass er möglicherweise ein Diakon war, der in einem allgemeinen Sinn unter den Gläubigen gedient hatte. Möglicherweise galt dieser Dienst in den Augen der Menschen nicht sehr viel. Paulus hingegen sah ihn mit den Augen des Herrn. Er erwähnt ausdrücklich, dass er viel in Ephesus gearbeitet hatte. Timotheus wusste das besser als Paulus, weil er sich ja längere Zeit in Ephesus aufgehalten hatte.
Barmherzigkeit
Paulus wünschte diesem treuen Diener und seinem Haus Barmherzigkeit. Barmherzigkeit ist Mitempfinden in schwierigen Umständen. Schon im Alten Testament war Gott als ein barmherziger Gott bekannt. Wir kennen Ihn als Gott, der reich ist an Barmherzigkeit. Seine Barmherzigkeit steht uns zur Verfügung. In Matthäus 5,7 verbindet der Herr Jesus Barmherzigkeit, die wir empfangen, mit Barmherzigkeit, die wir geben. Sie ist sozusagen eine Antwort Gottes auf unsere eigene Barmherzigkeit: „Glückselig die Barmherzigen, denn ihnen wird Barmherzigkeit zuteilwerden.“ Dieses Glück wünscht Paulus hier für Onesiphorus. Er hatte sich Paulus gegenüber barmherzig gezeigt und sollte nun seinerseits die Barmherzigkeit Gottes erfahren.
Erneut ist – wie in Vers 12 – die Rede von „jenem Tag“. Es ist der Tag des Richterstuhls des Christus, jener Tag also, an dem alles in das göttliche Licht gerückt wird. Barmherzigkeit (und Gnade) benötigen wir nicht nur im Blick auf die Vergangenheit und die gegenwärtige Zeit, sondern ebenso im Blick auf jenen Tag, der noch in der Zukunft liegt. Petrus spricht davon, dass wir völlig auf die Gnade hoffen sollen, die uns bei der Offenbarung Jesu Christi gebracht wird (1. Pet 1,13). Judas spricht von der Barmherzigkeit. Er schreibt: „Erhaltet euch selbst in der Liebe Gottes, indem ihr die Barmherzigkeit unseres Herrn Jesus Christus erwartet zum ewigen Leben“ (Jud 21).
Für uns gilt, dass am Ende alles ein Triumph der göttlichen Gnade und Barmherzigkeit sein wird. Wenn wir einmal am Richterstuhl des Christus stehen und Lohn empfangen, dann ist das nicht unser eigenes Verdienst. Es geht hier nicht um die ewige Errettung, die natürlich ebenfalls ein Ergebnis seiner Gnade ist, sondern um den Dienst, den wir für den Herrn getan haben. Unser Dienst wird einmal belohnt werden. Jeder bekommt seine Anerkennung und dennoch wird alles zur Ehre des Herrn sein.
Fußnoten
- 1 Die Reihenfolge „Jesus Christus“ und „Christus Jesus“ ist in einigen alten Handschriften umgekehrt, wobei die Elberfelder Übersetzung (Edition CSV) vermutlich die Version der meisten Lesarten widerspiegelt.
- 2 F.B.Hole: 'Grundzüge des Neuen Testaments' (Bd. 4: Galaterbrief – Philemonbrief), CSV-Verlag, Hückeswagen. siehe auch http://www.bibelkommentare.de/index.php?page=comment&comment_id=245&series_id=4&part_id=1756