Betrachtung über Titus (Synopsis)
Kapitel 2
Titus, der nicht nur andere Personen als Aufseher anstellen, sondern auch selbst während seines Aufenthaltes auf Kreta mit der ihm verliehenen Machtvollkommenheit über die Ordnung und den sittlichen Wandel der Christen wachen sollte, war beauftragt, wie dies übrigens in allen drei Briefen (an Timotheus und Titus) der Fall ist, darauf zu achten, dass jeder einzelne seiner Stellung gemäß wandelte nach dem, was sich in sittlicher Beziehung und den bestehenden Verhältnissen gemäß schickte – eine wichtige Sache, die sowohl vor den Angriffen Satans als auch vor Verwirrung in der Versammlung schützt. In der Versammlung herrscht wahre Freiheit, und die sittliche Ordnung ist der Schutz derselben. Wenn Gnade und heilige Ordnung unter den Christen vernachlässigt werden, so bietet das dem Feind die beste Gelegenheit, den Herrn zu verunehren, das Zeugnis zu verderben, alles in Unordnung zu bringen und somit der Welt Anlass zur Lästerung zu geben. Täuschen wir uns nicht; wenn diese so schöne und schätzbare Ordnung nicht aufrechterhalten wird, dann wird die herrliche Freiheit des christlichen Lebens, die so schön und kostbar ist (obwohl sie die Welt nicht kennt, weil sie nicht weiß, was Gnade ist), der Unordnung Raum geben, wodurch der Herr verunehrt und alles in Verwirrung gebracht wird.
Infolge der Wahrnehmung, dass die Schwachheit des Menschen da, wo die christliche Freiheit herrschte, Anlass zur Unordnung gab, hat man, anstatt nach dem wahren Heilmittel zu forschen, oft die Freiheit zerstört; man hat die Kraft und Wirksamkeit des Geistes verbannt; denn wo der Geist ist, da ist Freiheit in jeder Beziehung, da ist die Freude der neuen Beziehungen, in denen alle eins sind. Aber während einerseits der Geist jedes Band bricht, wenn es um des Herrn willen nötig ist, erkennt Er andererseits alle Verhältnisse an, die Gott gebildet hat, selbst wenn wir sie brechen (wie es auch der Tod tut), falls die Berufung Christi, die über allen Verhältnissen nach dem Fleisch steht, es erfordert. Solange wir uns indes in diesen Verhältnissen befinden, haben wir (wenn eine solche Berufung nicht vorliegt) denselben entsprechend zu handeln. Alt und jung, Mann und Frau, Eltern und Kinder, Herr und Knecht – alle haben die gegenseitigen Rücksichten zu wahren, ein der Stellung eines jeden entsprechendes Verhalten zu beobachten.
Die „gesunde Lehre“ trägt allen diesen Verhältnissen Rechnung und gibt Warnungen und Ermahnungen bezüglich alles dessen, was sich für dieselben geziemt. Das ist die Unterweisung, die der Apostel dem Titus hier gibt hinsichtlich der alten Männer und alten Frauen sowie der jungen Frauen (im Blick auf ihre Männer, ihre Kinder und ihr ganzes Leben, dass sie häuslich und bescheiden sein sollten) und der Jünglinge (welch letzteren Titus sich stets als ein Vorbild darstellen sollte); ferner hinsichtlich der Knechte gegenüber ihren Herren, und schließlich hinsichtlich der Pflichten aller Christen gegen die Obrigkeiten, ja, gegen alle Menschen. Doch bevor er auf diesen letzten Punkt eingeht, stellt er die großen Grundsätze dar, welche die Grundlage des Verhaltens der Heiligen untereinander in dieser Welt bilden. (Ihr Verhalten den Obrigkeiten und der Welt gegenüber hat einen anderen Beweggrund.) Die Grundlage und die Beweggründe des Wandels der Christen innerhalb der Versammlung sind ihnen in den eigentlichen Lehren des Christentums gegeben. Diese Lehren und Beweggründe finden wir in den Versen 11 – 15 unseres Kapitels. Den besonderen Beweggrund für den Charakter ihres Wandels gegenüber der Welt finden wir im folgenden Kapitel, Vers 3 und folgende.
Die Verse 11 – 15 stellen uns in bemerkenswerter Weise den Hauptinhalt des Christentums vor, nicht gerade seiner Lehren, sondern des Christentums, betrachtet als eine praktische Wirklichkeit für die Menschen. Die Gnade ist erschienen, und zwar ist sie nicht beschränkt auf ein besonderes Volk, sondern ist für alle Menschen da; nicht um zeitliche Verheißungen und Segnungen zu bringen, sondern das Heil. Sie kommt von Gott zu den Menschen und bringt ihnen das Heil; sie erwartet keine Gerechtigkeit von Seiten der Menschen, sondern bringt das Heil denen, die es bedürfen. Welch eine kostbare und einfache Wahrheit! Sie zeigt uns, was Gott ist, und stellt uns zugleich auf unseren Platz, aber nach der Gnade, die jede Schranke hinweggeräumt hat, um sich in der unumschränkten Güte Gottes jedem Menschen auf der Erde zuzuwenden. Nachdem die Gnade dieses Heil gebracht hat, unterweist sie uns in vollkommener Weise hinsichtlich unseres Wandels in dieser Welt, und zwar in Bezug auf uns selbst, auf andere Menschen und auf Gott. Wir haben, indem wir die Gottlosigkeit und alle Lüste, die ihre Befriedigung in dieser Welt finden, verleugnen, dem Willen des Fleisches in jeder Beziehung einen Zügel anzulegen und nüchtern zu leben; wir haben die Rechte anderer anzuerkennen und gerecht zu leben; und wir sollen uns der Rechte Gottes über unser Herz bewusst sein und in Gottseligkeit wandeln.
Aber auch unsere Zukunft ist durch die Gnade in ein helles Licht gestellt: sie unterweist uns, die glückselige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesus Christus zu erwarten. Die Gnade ist erschienen und unterweist uns, wie wir hienieden zu wandeln haben, und dass wir die Erscheinung der Herrlichkeit in der Person Jesu Christi selbst erwarten sollen. Unsere Hoffnung ist fest gegründet, und Christus ist uns mit Recht kostbar. Wir können an seine Erscheinung in Herrlichkeit mit völligem Vertrauen des Herzens denken und finden in diesem Gedanken zugleich den mächtigsten Beweggrund für ein Leben, das seiner Verherrlichung gewidmet ist. Er gab Sich selbst für uns, damit Er uns von aller Gesetzlosigkeit loskaufte und für Sich selbst reinigte, damit wir Ihm als ein Eigentumsvolk angehören sollten nach seinem eigenen Recht, und eifrig wären (Seinem Willen und seiner Natur gemäß) in guten Werken.
Das ist das Christentum. Es hat Gott gemäß für alles gesorgt, für die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Es befreit uns von dieser Welt, indem es ein Volk aus uns macht, das für Christum abgesondert ist, nach der Liebe, in der Er Sich selbst für uns dahingab. Das Christentum ist Reinigung, aber eine Reinigung, durch die wir Christo geweiht werden. Wir gehören Ihm an als sein besonderes Teil, als sein Besitztum in der Welt, belebt von der Liebe, die in Ihm ist, um anderen Gutes zu tun und von seiner Gnade zu zeugen. – So finden wir hier denn ein kostbares Zeugnis von dem, was das Christentum, als das Werk der Gnade Gottes, in seiner praktischen Wirklichkeit ist.