Betrachtung über Titus (Synopsis)
Kapitel 1
Gleich in den ersten Worten werden die großen Umrisse oder Grenzlinien des Christentums hervorgehoben. Der Glaube der Auserwählten, die Wahrheit, die nach der Gottseligkeit ist, die Verheißung des ewigen Lebens, ehe die Welt war, und die Offenbarung des Wortes Gottes durch die Predigt bilden die Einleitung des Briefes. Der Titel „Heiland“ wird hier, wie in Timotheus, sowohl dem Namen Gottes als auch dem Namen Christi beigefügt.
Diese Einleitung ist nicht ohne Wichtigkeit. Ihr Inhalt wird dem Titus durch den Apostel als der besondere Gegenstand seines Dienstes und als das Kennzeichen seiner Apostelschaft vorgestellt. Dieser Dienst bestand nicht in einer Darstellung des Judentums, sondern in der Offenbarung eines Lebens und einer Verheißung des Lebens, die in Christo, dem Gegenstand der göttlichen Ratschlüsse, bestand, ehe die Welt war. Demgemäß wurde der Glaube auch nicht in dem Bekenntnis der Juden gefunden, sondern in den durch die Gnade zur Erkenntnis der Wahrheit gebrachten Auserwählten. Der wahre christliche Glaube war „der Glaube der Auserwählten“. Das ist eine wichtige Wahrheit, die den Glauben in der Welt kennzeichnet. Andere mögen wohl diesen Glauben als ein System annehmen; aber der Glaube an und für sich ist der Glaube der Auserwählten.
Das war unter den Juden nicht der Fall; das öffentliche Bekenntnis ihrer Lehre und das Vertrauen auf die Verheißungen Gottes gehörte jedem Israeliten von Geburt. Aber mögen auch andere Anspruch darauf machen, den christlichen Glauben zu haben, er ist und bleibt der Glaube der Auserwählten. Dieser Glaube ist nach seiner Natur etwas, was die menschliche Natur weder annehmen noch fassen kann; sie findet vielmehr einen Stein des Anstoßes in ihm. Er offenbart eine Verbindung mit Gott, die der Natur nicht nur unbegreiflich, sondern auch anmaßend und unerträglich erscheint, während die Auserwählten die Freude ihrer Seele, das Licht ihres Geistes und den Ruhepunkt ihres Herzens darin finden. Der Glaube setzt sie mit Gott in eine Verbindung, in der sie alles finden, was ihr Herz wünschen kann, was aber ganz und gar von dem abhängt, was Gott ist; und das ist es, was der Gläubige begehrt. Es ist eine persönliche Verbindung mit Gott selbst. Deshalb ist der christliche Glaube der Glaube der Auserwählten Gottes, und darum ist er auch da für die Heiden sowohl wie für die Juden.
Dieser Glaube der Auserwählten Gottes hat, indem er mit Gott selbst in Verbindung steht, einen vertraulichen Charakter. Er ruht in Ihm und kennt das Geheimnis seiner ewigen Ratschlüsse – jene Liebe, welche die Auserwählten zu Gegenständen seiner Ratschlüsse machte. An diesen Glauben aber knüpft sich noch ein anderer Charakterzug, nämlich das Bekenntnis der geoffenbarten Wahrheit, durch die Gott sich bekannt macht und die Unterwerfung des Geistes des Menschen sowie die Huldigung seines Herzens beansprucht. Diese Wahrheit bringt die Seele in ein wahres Verhältnis zu Gott. Es ist „die Wahrheit, die nach der Gottseligkeit ist“. Das Bekenntnis der Wahrheit vor den Menschen ist deshalb ein wichtiger Charakterzug des Christentums und des Christen. Mit dem Glauben der Auserwählten im Herzen, dem persönlichen Glauben an Gott und an das Geheimnis seiner Liebe, verbindet sich das Bekenntnis der Wahrheit.
Der Gegenstand der Hoffnung dieses Glaubens war indes nicht irdisches Wohlergehen, nicht eine zahlreiche Nachkommenschaft oder irdische Segnungen eines Volkes, das Gott als sein Eigentum anerkannte. Es war das ewige Leben, das Gott in Christo verheißen hat, ehe die Welt war, und das außerhalb der Welt und der göttlichen Regierung der Welt sowie außerhalb der Offenbarung des Charakters des HERRN in jener Regierung stand. Es war ewiges Leben, das mit der Natur und dem Charakter Gottes selbst in Verbindung steht; und, indem es seine Quelle in Ihm hat und aus Ihm hervorgeht, war es der Gedanke seiner Gnade, und zwar in Christo, ehe es eine Welt gab, in die der erste Mensch unter Verantwortlichkeit eingeführt wurde – eine Welt, in der einerseits das Fehlen des Menschen gesehen wird, worin seine Geschichte bis auf Christum, den zweiten Menschen, besteht, und andererseits das Kreuz, an dem Christus die Folgen dieses Fehlens für uns trug. Eine solche Welt bildete den Bereich der Entfaltung der Regierung Gottes über das, was Ihm unterworfen war. Aber das ist etwas ganz anderes als die Gemeinschaft eines Lebens, durch das man teil hat an der Natur Gottes und das der Widerschein dieser Natur ist. Es ist „die Hoffnung des Evangeliums“ (denn wir reden hier nicht von der Kirche), der geheime Schatz des Glaubens der Auserwählten, dessen uns das offenbarte Wort versichert.
Das Wort: „verheißen vor den Zeiten der Zeitalter“, ist ein bemerkenswerter und wichtiger Ausdruck. Wir werden zugelassen zu den Gedanken Gottes vor Beginn dieser wechselvollen und wirren Szene, die einerseits von der Schwachheit und Sünde des Geschöpfes und andererseits von der Geduld Gottes und seinen Wegen in Gnade und Regierung Zeugnis gibt. Das ewige Leben steht in Verbindung mit der unveränderlichen Natur Gottes, mit Ratschlüssen, die ebenso beständig sind wie seine Natur, sowie mit seinen Verheißungen, betreffs derer Er uns nicht täuschen und denen gegenüber Er nicht untreu sein kann. Unser Teilhaben an diesem Leben bestand schon vor Grundlegung der Welt, nicht nur in den Ratschlüssen Gottes, nicht nur in der Person des Sohnes, sondern in den dem Sohn als unser Teil in Ihm gegebenen Verheißungen. Es bildete den Gegenstand jener vom Vater dem Sohn gemachten Mitteilungen, die sich auf uns bezogen, während der Sohn der Verwalter jener Verheißungen ist 1. Welch eine wunderbare Kenntnis ist uns so gegeben von den himmlischen Mitteilungen, deren Gegenstand der Sohn war, damit wir das Teil verstehen möchten, das wir in den Gedanken Gottes haben, deren Gegenstände wir in Christo vor den Zeiten der Zeitalter waren!
Durch diese Stelle verstehen wir auch besser, was das Wort ist. Es ist die Mitteilung der ewigen Gedanken Gottes in Christo in der Zeit. Es findet den Menschen unter der Macht der Sünde und offenbart Frieden und Befreiung und zeigt, wie er an dem Ergebnis der Gedanken Gottes teilhaben kann. Aber diese Gedanken selbst sind nichts anderes als der Plan, der ewige Vorsatz der Gnade Gottes in Christo, uns ewiges Leben in Ihm zu geben – ein Leben, das in Gott war vor Grundlegung der Welt. Das Wort (das heißt die Offenbarung der Gedanken Gottes in Christo) ist gepredigt, offenbart worden (V. 3). Diese Gedanken nun haben uns ewiges Leben in Christo gegeben; und das war verheißen vor den Zeiten der Zeitalter. Die Auserwählten wissen das und besitzen das Leben selbst, indem sie glauben. Sie haben das Zeugnis in sich selbst; aber das Wort ist die öffentliche Offenbarung, auf die der Glaube sich gründet. Es hat zugleich eine unumschränkte Autorität über die Gewissen der Menschen, mögen sie das Wort annehmen oder nicht. So wird auch in 2.Tim 1, 9. 10 der Vorsatz Gottes als Errettung dargestellt und dann durch das Evangelium offenbart.
Man wird bemerken, dass „der Glaube“ hier der persönliche Glaube an eine erkannte Wahrheit ist – ein Glaube, den nur der Auserwählte haben kann, der die Wahrheit besitzt, wie Gott sie lehrt. Der Ausdruck „der Glaube“ wird in dem Wort auch wohl für das Christentum als System angewandt, im Gegensatz zu dem Judentum; hier aber ist „der Glaube“ das Geheimnis Gottes im Gegensatz zu dem Gesetz, das denen bekannt gegeben wurde, die äußerlich ein Volk Gottes waren.
Diese Verheißung, die vor den Zeiten der Zeitalter gegeben und in ihrer Anwendung unumschränkt ist, war besonders dem Apostel Paulus anvertraut worden, damit er sie durch die Predigt verkündige. Das dem Apostel Petrus anvertraute Evangelium war mehr die Verkündigung der Erfüllung der den Vätern gemachten Verheißungen (was auch Paulus anerkennt) in Verbindung mit den Tatsachen des Evangeliums, die diese Verheißungen bestätigen und entfalten durch die Macht Gottes, wie sie sich in der Auferstehung Jesu, dem Zeugnis der Macht dieses Lebens, offenbart hat. Johannes stellt uns mehr das Leben vor, wie es in der Person Christi erschienen und uns dann mitgeteilt worden ist, indem er zugleich die dieses Leben kennzeichnenden Früchte beschreibt.
Wenn wir den Brief an Titus mit den beiden Timotheusbriefen vergleichen, so werden wir finden, dass der Apostel nicht dieselbe Innigkeit des Vertrauens zu Titus hat wie zu Timotheus. Er öffnet ihm sein Herz nicht in derselben Weise. Titus ist ein geliebter und treuer Diener Gottes, auch ist er des Apostels „echtes Kind im Glauben“; aber Paulus öffnet ihm nicht sein Herz in der gleichen Weise, teilt ihm nicht seine Besorgnisse und seine Klagen mit, schüttet nicht seine Seele vor ihm aus, wie er das bei Timotheus tut. Es ist ein Beweis von Vertrauen, wenn jemand uns all das Herzbrechende und Beunruhigende des Werkes, mit dem er beschäftigt ist, mitteilt. Er hat Vertrauen zu uns hinsichtlich dieses Werkes und spricht von ihm im Blick auf sich selbst wie auf alle. Da ist keinerlei Zurückhaltung, kein Überlegen, inwieweit er von sich selbst, von seinen Gefühlen oder von allem anderen reden dürfe. In dieser Weise handelt Paulus mit Timotheus, und es hat dem Heiligen Geist gefallen, uns das Gemälde dieser innigen Beziehungen zu geben.
Der Geist des Apostels war, während er an Timotheus schrieb, vor allem mit der Lehre beschäftigt, weil der Feind gerade auf diesem Gebiet wirksam und bemüht war, die Versammlung zu verderben. Die Aufseher sind dort in seinen Gedanken nur Nebensache, während sie hier, in dem Brief an Titus, den ersten Platz einnehmen. Paulus hatte Titus in Kreta gelassen, um dort, was noch mangelte, in Ordnung zu bringen und, wie er ihm bereits geboten hatte, in jeder Stadt Älteste anzustellen. Hier ist nicht die Rede von dem Trachten irgendjemandes nach einem Aufseherdienst und in Verbindung damit von dem für dieses Amt passenden Charakter, sondern es handelt sich um die Anstellung von Aufsehern, zu dem Zweck Titus von Seiten des Apostels mit der entsprechenden Autorität bekleidet war. Auch wird er mit den notwendigen Eigenschaften eines Aufsehers bekannt gemacht, um fähig, zu sein, nach apostolischer Weisheit bei der Wahl seine Entscheidungen zu treffen. Der Apostel hatte ihn also einerseits mit Machtvollkommenheit zur Anstellung von Aufsehern bekleidet und ihn andererseits über die erforderlichen Eigenschaften eines Aufsehers belehrt. Apostolische Autorität und Weisheit vereinigten sich miteinander, um Titus zur Ausführung dieses ernsten und wichtigen Werkes geschickt zu machen. Wir sehen auch, dass dieser apostolische Gesandte bevollmächtigt war, das in Ordnung zu bringen, was für die Wohlfahrt der Versammlungen Kretas erforderlich war. Denn obwohl diese bereits gegründet waren, bedurften sie doch noch der Anleitung bezüglich vieler Einzelheiten ihres Wandels; und es war sowohl hierfür als auch für die Einsetzung der Ältesten in den Versammlungen die apostolische Fürsorge erforderlich. Diese Aufgabe übertrug der Apostel der bewährten Treue des Titus, indem er ihn sowohl mündlich als auch hier schriftlich mit seiner eigenen Autorität ausrüstete, so dass eine Verwerfung des Titus gleichbedeutend gewesen wäre mit der Verwerfung des Apostels und folglich auch der des Herrn selbst, der den Apostel gesandt hatte. Die Autorität in der Versammlung Gottes ist eine ernste Sache, etwas, was von Gott selbst kommt. Sie kann ausgeübt werden durch den Einfluss, den jemand infolge der Gabe Gottes hat, oder auch mittelst solcher, die mit einem Amt betraut werden, wenn Gott sie durch Werkzeuge beruft, die Er zu diesem Zweck ausersehen und gesandt hat.
Es wird nicht nötig sein, hier auf die Einzelheiten der zur richtigen Erfüllung des Aufseherdienstes erforderlichen Eigenschaften näher einzugehen, da es im Grund dieselben sind, wie die in dem Brief an Timotheus erwähnten. Es sind Eigenschaften, nicht Gaben – äußerliche, sittliche und den Umständen entsprechende Eigenschaften, welche die betreffende Person zur Überwachung, der anderen befähigten. Vielleicht könnte es befremden, dass in der Aufzählung dieser Eigenschaften auch das Nichtvorhandensein von groben Fehlern aufgeführt wird. Aber die Versammlungen jener Zeit waren einfacher, als man gewöhnlich denkt, und die Personen, aus denen sie bestanden, waren erst kurz vorher aus den beklagenswertesten Gewohnheiten herausgekommen; deshalb war es notwendig, dass der frühere Wandel des Ältesten den anderen Achtung einflößte, um der Ausübung seines Aufseherdienstes den nötigen Nachdruck zu verleihen. Auch musste der mit diesem Amt Betraute die Widersacher widerlegen können; denn solchen würde er begegnen, und besonders unter den Juden, die immer und überall tätig waren, um der Wahrheit zu widerstehen und die Seelen in listiger Weise zu verführen.
Der Charakter der Kreter gab Anlass zu noch anderen Schwierigkeiten und erforderte von Seiten derer, die sie Überwachten, die Ausübung einer strengen Autorität. Das Judentum vermischte sich mit der Wirkung des völkischen Charakters der Kreter. Titus musste deshalb fest sein und mit ernster Machtvollkommenheit handeln, damit die Gläubigen gesund im Glauben blieben. Überdies hatte er den Satzungen und Überlieferungen entgegenzutreten, diesen bösen Übeln in der Kirche Gottes, die Gott zur Eifersucht reizen und, indem sie die Selbsterhebung des Menschen fördern, Seiner Gnade entgegenstellen. „Dieses ist nicht rein“, sagte man, „und jenes ist durch eine Satzung verboten“; allein Gott beansprucht das Herz. „Den Reinen ist alles rein“; diejenigen aber, deren Herz verunreinigt ist, haben nicht nötig, von sich auszugehen, um das Unreine zu suchen. Aber sie finden es bequem, auf diese Weise das Unreine, das in ihnen ist, vergessen zu können; ihre Gesinnung und ihr Gewissen sind schon befleckt. Sie geben vor, Gott zu kennen, aber in ihren Werken verleugnen sie Ihn und sind unnütz und zu jedem wirklich guten Werke unbewährt.
Fußnoten
- 1 Vergleiche Spr 8,30.31 und Lk 2,14. In Ps 40,6-8 lesen wir: „Ohren hast du mir bereitet“ (eig. gegraben), d. h. du hast mir einen Leib bereitet, den Wohnsitz des Gehorsams, oder du hast mich zu einem Knecht gemacht (Phil 2); so ist es durch die Septuaginta übersetzt und in Heb 10,5 als richtig angenommen.