Botschafter des Heils in Christo 1853
Der Vater und der verlorene Sohn
Es ist etwas überaus Herrliches, dass uns Gott durch unseren Herrn Jesus Christus so deutlich offenbart wird – nicht nur in seinen Worten, sondern auch in seinen Werken und seiner ganzen Handlungsweise.
Wir müssen jede Sünde im Licht der göttlichen Gerechtigkeit betrachten, was sehr wichtig ist. Gott aber wirkt erhaben über alles Böse und macht sein Recht geltend, uns zu zeigen, wer und was Er ist. Und wohl uns, dass Gott ungeachtet unserer Sünde Gott sein will. Gott ist die Liebe und wenn Er Gott sein will, so musste er die Liebe sein, ungeachtet aller Vernunftschlüsse und alles Murrens des menschlichen Herzens gegen Ihn. Gott wird, um mich so auszudrücken, nach den Gefühlen seines Herzens handeln und Er wird diese Gefühle ihren Eingang in die Herzen der Menschen finden lassen. Das ist auch der Grund dafür, dass in bestimmten Stellen des göttlichen Wortes uns eine so eigentümliche Frische anweht, auch wenn wir noch so oft zu diesen Stellen zurückkehren. Der Grund dafür liegt darin, dass Gott sich in diesen Stellen ganz besonders offenbart. Gott macht nie einen Fehler. In dem Augenblick, wo Er redet und sich offenbart, haben wir immer den vollen Segen seines Wesens. Er selbst ist es, welcher mit solcher Macht über unsere Herzen gekommen ist – Gott sei gesegnet! Er wird seinen Charakter nicht von Menschen nehmen. Er hat es mit der Sünde zu tun, zu zeigen, was die Sünde ist und wie Er sie hinweggenommen hat. Aber nichts desto weniger wird Er, erhaben über alles und durch alles hindurch, sich selbst offenbaren. Gerade dort finden unsere Herzen ihre Ruhe. Wir haben das Vorrecht, im Haus und im Schoß Gottes, von uns selbst verlassen, zu sein.
Der Mensch hätte die Offenbarung Gottes in dem Glanz seiner Herrlichkeit nicht ertragen, daher hat Er in seiner Gnade sie in dem Sohn des Menschen verborgen. Er nahm Menschengestalt an, aber das Ergebnis der schlechten und leichtfertigen Vernunftschlüsse des verdorbenen menschlichen Urteils war der Art, dass Er genötigt war, sich wahrhaft als Gott zu zeigen, wie Er war. Wenn Er sich nur als Messias, als Menschensohn, als Erfüller des Gesetzes und alles dessen, was damit zusammenhing, offenbarte, so war das nicht die ganze Fülle Gottes. Der Mensch verwarf ihn, er beklagte sich unaufhörlich, indem er über gewisse Dinge aburteilte, welchen er nicht seinen Beifall geben konnte. Während er sich so gegen Christus stemmte, machte er dessen Macht sich zu offenbaren, viel deutlicher, indem er das, was derselbe wirklich war, zum Erscheinen und Wiederschein brachte.
In den Kapiteln, welche dieses zeigen, wird die Seele gefesselt und befindet sich in einer Gewissheit, welche keinem Bedenken Raum lässt, in der Gegenwart Gottes selbst, in der Gegenwart der Liebe. Hier finden wir Ruhe und Frieden.
Genauso ist es in dem gegenwärtigen Kapitel. Er war genötigt die ganze Wahrheit zu sagen: dass Gott Gott sein muss. Wenn es etwas gab, was Gott freudig und fröhlich machen konnte, wie es in diesem Gleichnis ausgedrückt ist (und das war der Fall bei dem willkommen heißen des armen verschwenderischen Sohnes), so wollte Er seine eigene Freude haben, ungeachtet der Einwände der Menschen. Was aber die Menschen dagegen einwenden ist dieses: Sie leugnen nicht, dass Gott die Menschen richten wird (ich rede hier nicht von denen, die sich als Ungläubige bekennen), auch lassen sie den allgemeinen Grundsatz gelten, dass Gott gerecht sei, weil ihr Stolz sie glauben macht, dass sie auf diesem Grund (die Gerechtigkeit Gottes) vor dem göttlichen Gericht bestehen konnten. Aber sobald Gott seine eigene und volle Freude haben, und das, was die Freude des Himmels ist, zum Vorschein bringen will, fängt der Mensch an, Einwände vorzubringen. „Es kann nicht alles Gnade sein. Es kann nicht sein, dass Gott so mit Zöllnern und Sündern handelt!“ Und weshalb nicht? Weil etwas von der Gerechtigkeit des Menschen kommt? Die Gnade kennt gar nichts von der Gerechtigkeit der Menschen. Es gibt hier keinen Unterschied, denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes (Röm 3,23). Christus hat es bewiesen, indem Er das Licht offenbarte und der Mensch hasste das Licht. Was den moralischen Standpunkt der Menschen zu Nichte macht und dafür dem Sünder Gnade bringt, das kann der Mensch nicht ertragen, denn es erhebt das, was Gott ist, und erniedrigt den Menschen.
Was der Mensch immer zu tun sucht ist dieses: er sucht einen Unterschied zwischen der Gerechtigkeit des einen und des anderen Menschen zu machen, damit er seinen eigenen Charakter vor den Menschen aufrechterhalten kann. In Johannes 8,1–11 lesen wir, dass eine Frau vor Jesus geführt wurde, welche dem Gesetz nach die Strafe der Steinigung verdient hatte. Ohne Zweifel war sie schuldig. Man wollte Jesus nötigen, ihr entweder Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Pharisäer und Schriftgelehrten gedachten damit den Herrn in eine sehr schwierige Lage zu bringen. Sprach Er sie frei, so brach Er das Gesetz Moses. Sagte Er aber: „Sie soll gesteinigt werden“ so sagte Er nicht mehr als auch Mose. Was tat Er? Er ließ dem Gesetz und der Gerechtigkeit freien Lauf, aber: „wer von euch ohne Sünde ist, werfe zuerst einen Stein auf sie“ (Joh 8,7). Das Gewissen begann bei den Pharisäern und Schriftgelehrten zu wirken, zwar nicht in der Art und Weise, wie es sollte, das ist wahr. Ihr Charakter war der Grund dafür, dass sie in Unruhe gerieten. Nichtsdestoweniger wollte ihr Gewissen reden und sie entfernten sich aus der Gegenwart des Lichtes, weil das Licht offenbar machte, wer sie waren. Es zeigte, dass sie Sünder waren. Alle, vom Ältesten bis zum Jüngsten gingen hinaus. Wer unter ihnen den am längsten und begründetsten guten Ruf bei den Menschen hatte, der war jetzt froh, der Erste zu sein, sich dem Auge zu entziehen, welches das Innere durchdrang und entschleierte. So ließen sie Jesus mit der Sünderin allein. Er wollte das Gesetz nicht vollziehen, denn Er war nicht gekommen, um zu richten: „Auch ich verurteile dich nicht; geh hin und sündige nicht mehr“ (Joh 8,11). Was uns hier gezeigt wird, ist die Liebe.
„Es kamen aber alle Zöllner und Sünder zu ihm, um ihn zu hören; und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt Sünder auf und isst mit ihnen“ (Lk 15,1.2).
Manchen könnte es allerdings befremden, dass Gott, als Er auf diese Erde herabkam, der Gerechtigkeit des Menschen gar keines Blickes würdigte, sondern sich in der Gesellschaft der Zöllner und Sünder befand. Ach freilich! das musste ja alle die schönen moralischen und ehrbaren Gedanken der Menschen zu Boden werfen. Ja, gerade so musste Gott es machen, weil alle jene Gedanken im Unrecht begründet sind.
Diese Gleichnisse werden zeigen, gegen welche Art des Geistes der Gnade man Einwendungen macht. Wir finden in ihnen den großen und glückseligen Gedanken: den offenbarten Gott.
Ich will, sagt Er, einen Menschen als Beispiel anführen, von welchem angenommen werden soll, dass er sich in dem schlimmsten und schmutzigsten Zustand befindet, den man sich nur denken kann, ja, der so weit herabgekommen ist, dass er mit den Schweinen zusammen isst, und dennoch – trotz alledem gibt es hinter allem diesem noch etwas, was ich hervortreten lassen will. Etwas, was eure natürlichen Herzen nicht erkennen können, nämlich die Freude eines Vaters, der ein Kind wieder aufnimmt, das zu ihm zurückkehrt. Was auch der Zustand eines solchen Kindes sein mag – das Herz des Vaters wird es rechtfertigen in seinen Gefühlen der Güte.
Nach einer Ermüdung des Herzens in der Welt – nachdem Jesus durch die Welt gegangen war und keinen Platz gefunden hatte, wo ein wirklich gebrochenes Herz hätte ausruhen können 1 – kam Er um zu zeigen, dass das, was zu finden nötig war, nirgendwo anders als in Gott gefunden werden konnte. Glückselige Gewissheit, dass endlich doch das arme, auf seinen Wegen ermüdete Herz seine Ruhe finden kann in dem segensvollen Schoß des Vaters! Glückselige Gewissheit, dass das Herz hier tun konnte, was es sonst nirgendwo konnte – sich ausschütten vor Ihm! Jetzt, wo es Gott gefunden hat, kann es das. Und es kann es auch in Aufrichtigkeit, wie wir im Psalm 32 lesen: „Glückselig der, dessen Übertretung vergeben, dessen Sünde zugedeckt ist! Glückselig der Mensch, dem der HERR die Ungerechtigkeit nicht zurechnet und in dessen Geist kein Trug ist!“ (Ps 32,1.2). So lange ich Angst haben muss getadelt zu werden, gibt es noch etwas Falsches in meinem Herzen. In dem Augenblick aber, wo ich weiß, dass alles vergeben ist, dass ich mir durch das Bekenntnis nichts als Liebe zuziehe, kann ich Gott alles offen legen. Das Einzige, was im Innern des Menschen Wahrheit hervorbringt, ist die nichts anrechnende Gnade. Das ist das Geheimnis der Macht Gottes, indem Er die Herzen mit sich selbst in Übereinstimmung bringt.
Gerade darin liegt der Unterschied zwischen einem Menschen, der wegen seines Gewissens vor Gott flieht, und einem, der in Gott das findet, wodurch ein vollständig überzeugtes Gewissen wieder aufgerichtet und geheilt wird. Es bleibt aber wahr – wir können in unserem natürlichen Zustand, wenn wir unter dem Gesetz sind und die Gerechtigkeit anerkennen, nicht selbst darüber verfügen. Wenn ich das Gesetz benutze, um dir einen Schlag zu geben, so muss ich mich auch selbst töten. Das Gesetz ist zu scharf, als dass man es ohne eigene Gefahr benutzen könnte. Der Mensch, welcher die ehebrecherische Frau steinigen wollte, musste sein eigenes Haupt dem Gericht des Steinwurfs aussetzen. „Ich elender Mensch!“ (Röm 7,24). Als Mensch bin ich verloren.
Im vorliegenden Kapitel werden uns drei Gleichnisse vor Augen gestellt. Die Quelle von allem, dem wir hier begegnen, ist die Liebe. Es wird uns vorgestellt:
- Der Hirte, welcher das Schaf sucht, das verloren war
- Die Frau, die das Geldstück sucht, das verloren war, und
- Der Vater, welcher den verschwenderischen Sohn wieder aufnimmt.
Der letzte Fall betrifft nicht das Suchen, sondern die Art der Wiederaufnahme des Sohnes, als er auf der Rückkehr war. Es gibt manche Herzen, welche wieder umkehren wollen, die aber nicht wissen, was für eine Aufnahme sie erfahren werden. Der Herr Jesus sagt: Die Gnade und Liebe Gottes hat sich zuerst im Suchen und dann in der Wiederaufnahme (des verlorenen Sohnes) gezeigt. In den zwei ersten Gleichnissen sehen wir das Suchen, im dritten die Wiederaufnahme durch den Vater. Ein Gedanke aber zieht sich durch alle diese drei Gleichnisse hindurch, nämlich: die Freude Gottes den Sünder zu suchen und wieder aufzunehmen. Er handelt gemäß seinem eigenen Charakter. Ohne Zweifel ist es für den Sünder eine Freude, wieder aufgenommen zu werden. Gottes Freude aber ist es, den Sünder wieder aufzunehmen. Es ziemte sich nicht allein für das Kind, dass es froh war, wieder zu Hause zu sein, sondern es ziemt sich, dass wir freudig und fröhlich sein sollen.
Seht hier, meine geliebten Freunde, eine glückselige Wahrheit! Das ist die Melodie, welche Gott angestimmt hat und worin ein jedes Herz in den Himmeln einstimmt. Das ist die Saite, welche Gott selbst berührt, und die Himmel geben das Echo davon wieder und so tut auch jedes Herz, welches mit der Gnade im Einklang ist. Welchen Missklang dagegen muss hier die Selbstgerechtigkeit hervorbringen! Jesus verkündigt die Freude und Gnade Gottes, der so verfährt, und stellt es in den Gegensatz zu den Empfindungen des älteren Sohnes, d.h. eines jeden Selbstgerechten – obwohl die Beschreibung des älteren Sohnes sich hier nur auf die Juden bezieht.
Das ist der Ton, welcher vom Himmel herabklang in der Liebe, welche wir im Herzen Jesu hier unten finden, und ach! wie süß ist diese Liebe! In einem gewissen Sinn ist es noch süßer, sie hier zu haben, als droben. Hier unten auf der Erde ist diese Liebe Gottes so Erstaunen erregend (und so muss es auch sein, wenn man dem Menschen beikommen will), im Himmel ist es etwas natürliches. Hier unter uns, auf der Erde, hat Gott offenbart, wer und was Er ist: dass es seine Freude ist, verlorene Sünder zu retten und selig zu machen. Etwas, in was die Engel hineinzuschauen begehren.
Der Hirte nimmt das Schaf auf seine Schultern und trägt es mit Freuden nach Hause. „Habe ich nicht recht“, sagt er, „die verlorenen Sünder zu suchen? Ist es nicht recht, dass Gott unter die Zöllner und Sünder kommt?“ – Es geziemt sich vielleicht nicht für einen moralischen Menschen, aber es geziemt sich für Gott. Sein Vorrecht ist es, mitten zwischen die Sünde zu treten, den ruinierten Sündern nahe zu treten, weil Er sie von der Sünde befreien kann. Der Hirte hat das Schaf auf seinen Schultern und freut sich, er belädt sich damit und übernimmt alle Arbeit und Mühe dafür. Es war sein eigenes Interesse dies zu tun, denn er schützte das Schaf. Es gehörte ihm und er trägt es nach Hause. So stellt uns Jesus den Hirten vor und so verhält es sich auch mit „dem großen Hirten der Schafe.“ Er stellt es uns als sein Interesse dar, „zu suchen und zu erretten, was verloren ist“ (Lk 19,10). – Er macht es selbst zu seinem Interesse, im Sinn der Liebe, und trägt wirklich mit Freuden die Schafe nach Hause (Dies ist die Kraft und die Macht des Heils).
Aber wie tut Er es? Wir pflegen die Leute zu ermahnen, dass sie Christus suchen sollen. Wohl! In einem Sinn ist das gut, denn es ist durchaus wahr, dass der, welcher sucht, findet (Mt 7,7). Aber Jesus sagte nie: „Kommt zu mir“, bis Er zuerst zu den Menschen gekommen war – „gekommen, zu suchen und zu erretten was verloren ist.“ Er sagte dies nicht vom Himmel herab, weil der arme Sünder nicht dorthin gehen konnte, sondern weil der arme Sünder eben nicht zum Himmel gehen konnte, um Christus zu suchen, kam Christus auf die Erde, um ihn zu suchen. Er sagte nicht zu den armen Aussätzigen: „Komm du zum Himmel!“ sondern Er kam auf die Erde herab und sagte: „Sei geheilt!“ Hätte jemand anderes seine Hand auf den Aussätzigen gelegt, so würde ihn dieser ebenso unrein gemacht haben, wie er selbst war. Christus aber konnte den Aussätzigen berühren und, anstatt von der Ungerechtigkeit angesteckt zu werden, ihn vielmehr heilen. Er sagt: „Kommt her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben.“ (Mt 11,28). Hier auf der Erde ist eben so wenig Erquickung und Ruhe zu finden, wie für die Taube mitten in der Sintflut. Ich habe die Welt von allen Seiten geprüft. Sie ist ein uferloser Ozean des Bösen. Kommt zu mir und ihr werdet Ruhe finden. Wer anders als Er hätte wohl so reden können?
Wohl denn! Es gibt noch etwas anderes in diesem zweiten Gleichnis: Nämlich die Mühe, welche diese Liebe sich macht, indem sie das sucht, was verloren war. Hier ist es nicht ein Schaf das gesucht wird, sondern ein verlorenes Geldstück in einem Haus. Alles wird getan, um das Geld wieder zum Vorschein zu bringen. Die Frau zündet das Licht an, sie kehrt das Haus. Sie kann nicht aufhören mit diesem Geschäft der Liebe, der fleißig tätigen Liebe, bis sie das Geldstück gefunden hat. Ihre Sache und ihr Interesse war es, danach zu suchen. Und wir sehen, welche Freude sie hat, als sie wieder in den Besitz des Geldstückes gelangt. Sie stimmt gegenüber ihrer Umgebung den Ton der Freude an, andere werden herbeigerufen, um Teil daran zu nehmen: „Und wenn sie sie gefunden hat, ruft sie die Freundinnen und Nachbarinnen zusammen und spricht: Freut euch mit mir, denn ich habe die Drachme gefunden, die ich verloren hatte.“ (Lk 15,9). Das ist die Stimme des Herrn. Wie im vorhergehenden finden wir auch in diesem Gleichnis denselben großen Grundsatz der Liebe. Wir finden hier die geduldige Tätigkeit der Liebe, bis der Erfolg erlangt ist. In beiden Gleichnissen sehen wir diesen großen, gemeinsamen Grundsatz – die Freude der Frau und die Freude des Hirten. In dem anderen Gleichnis sehen wir die wirksame Macht und Tätigkeit dieser Gnade zusammen mit dem guten Willen. In dem Schaf und dem Geldstück dagegen war eine völlige Untätigkeit. Der Hirte und die Frau taten alles.
Es ist aber zugleich auch wahr, dass es ein bedeutendes Werk, eine Wirkung gibt, welche im Herzen desjenigen hervorgebracht wird, welcher sich verirrt hat und noch zurückgeführt wird. Das ist es, weshalb das dritte Gleichnis hinzugefügt wird. In diesem Gleichnis werden uns die Gefühle des Verirrten und danach die Art seiner Wiederaufnahme gezeigt. Der Herr setzt hier einen Fall, um den Einwänden der Pharisäer gegen die den Zöllnern und Sündern gewährte Aufnahme zu begegnen. Er sagt gleichsam: Ich will einmal annehmen, ein Mensch sei in jeder Art der Erniedrigung so vollständig heruntergekommen, dass er sich zusammen mit den Schweinen nährt 2. Ich will annehmen, er sei so schlecht, so unwürdig, wie ihr wollt, und nun will ich euch zeigen, was die Gnade, was Gott ist.
Mögen wir im Laster leben oder nicht – wir alle haben Gott den Rücken gewandt. Der junge Mensch war ein ebenso großer Sünder zu dem Zeitpunkt, als er noch die Schwelle seines Vaters überschritt, wie als er in der Fremde sich mit den Schweinen nährte. Er hatte es vorgezogen unabhängig von Gott zu handeln und das war die Sünde. Er erntete ohne Zweifel die Früchte von seinen Taten, aber davon ist hier nicht die Rede. In einem gewissen Sinn war Erbarmen die Folge seiner Sünde, weil es ihm zeigte, was seine Sünde war.
Es gibt hier noch einen anderen Punkt. Der Mensch macht einen Unterschied zwischen den Sündern. Deshalb stellt der Herr einen anderen Fall vor Augen, wo der Sünder selbst in dem Urteil der Menschen zu der tiefsten Stufe des Bösen herabgekommen ist, und zeigt, dass die Gnade Gottes selbst bis hier hinabreicht. Es ist ein Fall, welcher in vortrefflicher Weise die Wahrheit ans Licht stellt, dass „wo die Sünde überströmend geworden ist, … die Gnade noch überreichlicher geworden [ist]“ (Röm 5,20). Der junge Mensch hier im Gleichnis geht in die Welt hinaus um seinen eigenen Willen zu tun. Hier haben wir das Geheimnis aller unserer Sünde. Unser Kind sündigt gegen uns, wir fühlen es. Wir sündigen gegen Gott und wir fühlen es nicht. Wir sind alles große Kinder.
„Und dort vergeudete er sein Vermögen, indem er ausschweifend lebte“ (Lk 15,13). Jeder, welcher mehr ausgibt als er einnimmt, hat den Anschein, reich zu sein. So ist es auch mit dem Sünder. Er scheint glücklich zu sein, während er seine Seele ruiniert.
„Als er aber alles verschwendet hatte, kam eine gewaltige Hungersnot über jenes Land, und er selbst fing an, Mangel zu leiden. Und er ging hin und hängte sich an einen der Bürger jenes Landes; und der schickte ihn auf seine Felder, Schweine zu hüten. Und er begehrte seinen Bauch zu füllen mit den Futterpflanzen, die die Schweine fraßen; und niemand gab ihm“ (Lk 15,14–16).
Eine freie Gabe, ein Geschenk gibt es in diesem Land nicht. Satan verkauft alles – und er verkauft teuer! Die Seelen der Menschen sind der Preis. Wenn du dich dem Teufel verkaufst, so bekommst du nichts dafür, als die Futterpflanzen der Schweine. Er wird dir nie etwas geben. Willst du ein Geschenk haben, so musst du zum Vater kommen. Das Herz findet in der Welt nicht genug. Man überlasse einen Menschen nur einige Stunden lang sich selbst und er wird anfangen seinen Mangel zu spüren. „Er fing an Mangel zu leiden“, aber sein Wille war noch nicht berührt. Es gibt wenig Herzen, welche, wenn sie bis zu einer bestimmten Lebensweise gekommen sind, nicht anfangen Mangel zu leiden. Sie wenden sich den Vergnügungen oder dem Laster zu und suchen hier etwas, um das Gefühl ihres Mangels, ihrer inneren Leere, zu stillen. Das Allerletzte, woran die Welt denkt, ist Gott. Die Menschen tun es nicht bevor sie zu der Überzeugung gekommen sind, dass es nichts anderes gibt, woran man sich halten kann. Sie denken nicht an ein Vaterhaus, denn sie kennen es nicht. Wenn sie an Gott denken, so denken sie nur an Gericht, nicht an Gnade. Ebenso ging es auch dem verlorenen Sohn:
„Als er aber zu sich selbst kam, sprach er: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Überfluss an Brot, ich aber komme hier um vor Hunger. Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und will zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu heißen; mache mich wie einen deiner Tagelöhner“ (Lk 15,17–19).
Er hatte noch nicht eingesehen, wie er aufgenommen werden konnte. Er sah wohl ein, dass es im Haus seines Vaters Liebe gab – die Tagelöhner dort hatten ja Brot im Überfluss! – und er sah auch nicht nur ein, dass er Hunger hatte, sondern dass er vor Hunger umkommt. Im Haus seines Vaters war alles glücklich, selbst die Tagelöhner waren glücklich. So war es mit ihm nicht in der Fremde, wo er jetzt war. Die Bedürfnisse seiner jetzigen Lage – alles zeigte ihm, dass er zurückkehren musste: „Ich will mich aufmachen usw.“
Jede Seele, welche zu Gott zurückkommt, wird zu solchen Gedanken vor der in Gott befindlichen Güte gebracht.
Ganz dasselbe sehen wir bei Petrus. Er geht und wirft sich Jesu zu Füßen und sagt: „Geh von mir hinaus, denn ich bin ein sündiger Mensch, Herr“ (Lk 5,8). Welcher Widerspruch! Er wirft sich Jesu zu Füßen und trotzdem bittet er ihn, dass er sich entferne. Man findet oft diesen offenbaren Widerspruch da, wo es ein Werk gibt, welches auf das Gewissen und die Neigungen starken Einfluss ausübt. Gott wird notwendig für uns und trotzdem sagt das Gewissen: „Du bist ein zu großer Sünder.“ Petrus fühlte seine Unwürdigkeit. Er fühlte, dass Jesus zu heilig, zu gerecht war, um mit einem solchen wie ihm (Petrus) umzugehen. Trotzdem konnte er nichts anderes tun, als sich Ihm ergeben.
Der verlorene Sohn kehrt zurück und sagt: „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu heißen“ (Lk 15,21). Er begreift noch nicht das Wesen seines Vaters und was das Herz eines Vaters ist. Er wäre froh, wieder im Haus seines Vaters zu sein, aber er wollte noch sagen: „Mache mich wie einen deiner Tagelöhner.“ Er maß die Liebe seines Vaters an dem, was er selbst gewesen war, nach dem Bösen, in dessen Mitte er gelebt hatte. Er dachte daran, die Position eines Tagelöhners einzunehmen. Es gibt viele Herzen, welche sich in diesem Zustand befinden, indem sie das Maß dessen, was der Vater tun muss, ihren Verdiensten anpassen 3. Sie haben noch einen Rest von Gesetzlichkeit in sich und möchten noch als Tagelöhner im Haus angestellt werden. „Mache mich wie einen deiner Tagelöhner.“ Aber das genügte dem Vater nicht, wenn es auch dem Sohn genügte. Das Herz des Vaters würde sich beständig elend fühlen, einen Sohn als Tagelöhner im Haus zu haben und der Sohn würde unter solchen Umständen für die Diener im Haus nicht mehr ein Zeugnis der Liebe des Vaters gewesen sein. Der Vater kann die Söhne nicht als Tagelöhner im Haus haben. Wenn seine grenzenlose Gnade sie wieder zum Vaterhaus zurückführt, so muss Er auch zeigen, dass die Art und Weise der Aufnahme der Liebe eines Vaters würdig ist. Der verlorene Sohn war noch nicht zu einer vollständigen Gebeugtheit gebracht, um zu fühlen, dass es die Gnade sein muss und sonst nichts.
Der Vater lässt dem Sohn nicht Zeit zu sagen: „Mache mich wie einen deiner Tagelöhner.“ – Er gibt ihm wohl Zeit zu sagen: „Ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, ich bin nicht mehr würdig dein Sohn zu heißen“, mehr aber lässt er ihn nicht sagen. Er ist an seinem Hals und umarmt ihn. Wie konnte sein Sohn zu ihm sagen: „mache mich zu einem Tagelöhner“, wenn er an seinem Hals war und der Vater ihn fühlen ließ, dass er ein Sohn war?
Das Urteil des Sohnes hinsichtlich des Vaters muss nun vielmehr durch das bestimmt werden, was der Vater hinsichtlich seiner (des Sohnes) ist und nicht durch abstrakte Verstandesfolgerungen. Der Eine war und blieb immer Vater, wenn der andere auch nicht wie ein Sohn war. Und in dieser Ordnung sollen wir auch die Gnade Gottes annehmen. Es ist nicht Sache der Tätigkeit des menschlichen Geistes, daran zu denken, was er vor Gott ist, sondern durch den Heiligen Geist geschieht die Offenbarung dessen, was der Vater ist – und wie Er Vater ist, so bin ich Sohn.
Ich weiß wohl, es gibt allerdings Seelen, welche nicht völlig den Geist der Kindschaft empfangen haben, welche weder erkennen, dass sie Söhne im Haus des Vaters sind, noch ihre Ruhe in der Ruhe des Vaters finden.
Betrachten wir hier noch die Art der Wiederaufnahme des verlorenen Sohnes. Sein Geist ist erneuert und er sagt: „ich will mich aufmachen“ usw., aber noch bevor er Zeit gehabt hat im Haus des Vaters anzukommen und alles dies zu sagen – „als er aber noch fern war“ – lesen wir, „sah ihn sein Vater und wurde innerlich bewegt“ (Lk 15,20). Die Liebe des Vaters nimmt jetzt dem Sohn den Weg ab. Der Vater läuft seinem Sohn entgegen, fällt ihm um den Hals und umarmt ihn. In dem Sohn gibt es nichts, als das Bekenntnis der Unwürdigkeit. Es wird sozusagen uns überlassen, durch unsere Kenntnis dessen, was der Vater war, zu ermessen, was die Gedanken des Sohnes waren.
Nun von eben dieser Art ist auch die Beurteilung unseres Heils. Wir müssen erkennen, was und von welchem Wert wir in der Liebe des Vaters sind. Der Vater ist am Hals seines Sohnes, während derselbe noch alle seine Lumpen aus der Fremde am Leib hat. Der Vater hält sich nicht damit auf, dem Sohn erst Fragen zu stellen. Der Sohn weiß ja, dass er Böses getan hat, er kann dies wohl sehen. Es ist hier gar keine Rede von einer Rechtschaffenheit in dem Sohn. Der Vater handelt für sich selbst – seiner selbst würdig – selbst als Vater, Er ist am Hals seines Sohnes, weil der Vater dort gerne ist.
Aber Er tut noch mehr. Die Diener werden herausgerufen, um den Sohn auf eine Weise, welche sich für seinen Stand geziemt, in das Haus einzuführen und um ihn froh und guten Mutes zu machen. Die Erkenntnis der Liebe des Vaters ist es, welche mich fühlen lässt, was ich bin. Aber ich weiß, dass meine Sünden vergeben sind, und dass der Vater an meinem Hals ist und mich umarmt. Je mehr ich also meine Sünden kenne, während ich die Liebe des Vaters erkenne, desto glücklicher bin ich.
Nehmen wir an, ein Geschäftsmann habe Schulden, von denen er weiß, dass er sie nicht bezahlen kann. Er wird sich scheuen, seine Rechnungsbücher durchzusehen. Wenn aber seine Schulden bezahlt würden und wenn er, nachdem alles bezahlt ist, noch obendrein die Gewissheit eines großen baren Überschusses hätte – (z.B. wenn ein Freund dies alles für ihn getan hätte) – da würde er gewiss sich nicht mehr scheuen, seine Rechnungsbücher nachzuschlagen. Die Entdeckung der Größe seiner Schulden würde nur dazu beitragen, das Gefühl der Liebe gegenüber einem solchen Freund zu erhöhen und ihn die Größe der Liebe seines Freundes vor Augen stellen lassen. Wenn er nun seine Rechnungsbücher durchsieht und die Entdeckung macht, dass seine Schuld, anstatt tausend Taler, zehntausend Taler betrug, ja, wenn er zuletzt gar bemerkt, dass er hunderttausend Taler schuldig war, was wird er da wohl sagen? „Ach“, wird er ausrufen, „gab es wohl jemals einen solchen Freund wie diesen?“
Die Gnade hat alles beseitigt, und die Entdeckung der Sünde, wenn wir die Vergebung derselben erkennen, bewirkt nur die Erhöhung der Liebe und Freude. Wenn der Vater mich umarmt, so gibt das innerliche Bewusstsein, dass Er dies tut während ich noch in meinen Lumpen bin, mir den Beweis, was für eine Art von Verzeihung die ist, welche ich empfange. Es gibt Niemand in der ganzen Welt, der nicht an meine Lumpen gedacht haben würde, bevor er sich an meinem Hals befunden hätte.
Der Vater aber sprach zu seinen Knechten:
„Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und tut einen Ring an seine Hand und Sandalen an seine Füße; und bringt das gemästete Kalb her und schlachtet es“ (Lk 15,22.23).
Gott zeigt seine Liebe zu uns elenden Sündern und bekleidet uns mit Christus. Er bringt uns in das Haus, wo die Diener sind, mit nicht weniger als aller Ehre, welche Er uns nur geben kann. Seine Liebe gewährt uns eine Aufnahme, während wir noch in unseren Lumpen sind. Und dann beginnt diese Liebe noch in anderer Art sich zu betätigen.
Der Vater führt uns so in das Haus, wie Er will, dass wir dort sein sollen, zugleich mit der Kundgebung des Wertes, welchen ein Sohn in seinen Augen hatte. Wir lesen hier die Beschreibung der Mahlzeit, des besten Kleides, des Ringes und des Festes. Das Gefühl des Vaters war dieses: Ein Sohn, welcher sein Sohn war, war dieses Kleides wert, und es war seiner, des Vaters, würdig, es dem Sohn zu geben. Wie wenig würde es eines gnädig verfahrenden Vaters würdig gewesen sein, den Sohn als Diener im Haus zu behalten. Vielleicht würden einige es für eine Erniedrigung halten, ein Tagelöhner im Haus zu sein. Sie müssen einsehen, wie sehr sie Unrecht haben, es verrät nur Unkenntnis des Gefühls des Vaters. Wir lesen, dass Gottes Verfahren den Zweck hat, in den „kommenden Zeitaltern den überragenden Reichtum seiner Gnade in Güte an uns [zu erweisen]“ (Eph 2,7). Wenn wir nun beginnen das Ziel, welches man erreichen muss, zu verstehen – d.h. den Gedanken des Vaters und seine Gnade – würde es da wohl seiner würdig gewesen sein, wenn Er uns mit einem fortwährenden Gedenkzeichen unserer Sünde und Schande, unserer vergangenen Unehre und Herabsetzung, in sein Haus genommen hätte? Wenn hier noch irgendein Gefühl der Schande, wenn auch nur die geringsten Spuren von dem fremden Land geblieben wären – wäre dies wohl des Vaters würdig gewesen? Nein. Der Anbeter, einmal gereinigt, hat kein Gewissen von Sünden mehr, sagt der Heilige Geist. Die Stellung, welche man im Haus Gottes findet, muss Gottes würdig sein.
Vielleicht sagen hier unsere elenden und ungläubigen Herzen: „Ja, es mag wahr sein, wenn wir einmal dort sind – wenn wir wirklich im Haus des Vaters sind.“ – Aber lasst mich fragen: Was ist denn der Glaube? Der Glaube urteilt so wie Gott urteilt. Ich sehe die Sünde im Licht der Heiligkeit Gottes. Ich beurteile sie am wahrsten, wenn ich sehe, wie die Sünde im Widerstreit gegen Ihn ist und wie sie Ihn entehrt. Ich lerne auch die Gnade im Herzen meines Vaters kennen. Wer da glaubt, der hat es besiegelt, dass Gott wahr ist. Der Glaube ist das Einzige, was Gewissheit gibt, durch Vernunftschlüsse erlangt man sie nie. Vernunftschlüsse passen ganz für die Dinge dieser Welt, wenn aber Gott von einer Sache redet, so glaubt der Glaube. Der Glaube besiegelt – nicht dass es wahr sein kann – sondern dass Gott wahr ist. Habe ich also den Glauben, so bin ich auch gewiss, dass das eben Gesagte wahr ist. Ich bin dessen so gewiss, als ob ich in diesem Augenblick droben im Himmel wäre. „Abraham glaubte Gott“ (Röm 4,3) – nicht an Gott (obgleich das gewiss der Fall war), sondern er glaubte Gott. Er glaubte, dass das, was Gott sagte, wahr war. Dies ist es, was auch wir tun müssen. Das Erste, worauf es ankommt, ist dies: dass wir Gott glauben. Und was sagt Gott mir, wenn ich an seinen Sohn glaube? Er sagt mir, dass meiner Übertretungen nicht mehr gedacht wird – und ich glaube es, ich glaube, dass ich das ewige Leben habe.
Es ist eine Sünde, daran zu zweifeln. Wenn ich nicht das glaube, was Gott mir versichert, so begehe ich ein Unrecht an Gott. Es ist eine Sünde, nicht zu glauben, dass ich ein Sohn bin, dass ich durch das Blut des Lammes ohne irgendeinen Flecken bin. Der Glaube glaubt dies. Wäre es nur meine eigene Gerechtigkeit, so müsste sie in Fetzen zerrissen werden, aber es ist das Blut des Lammes – und was hat dieses Blut getan? Hat es etwa nur die Hälfte meiner Sünden getilgt? Die Frage ist die: Wie hoch schätzt Gott den Wert dieses Blutes? Glaubst du, Gott setzt der Wirksamkeit des Blutes Jesu Grenzen? Nein! Er sagt: „es reinigt von aller Sünde“ (1. Joh 1,7). Und suchen wir weiter im Wort Gottes, so finden wir: „Der selbst unsere Sünde an seinem Leib auf dem Holz getragen hat“ (1. Pet 2,24). Heißt das: Er hat einige meiner Sünden getragen? Nein! Er hat meine Sünden getragen. Wenn meine Seele einerseits den Wert, welchen das Blut des Lammes vor Gott hat, erkennt, so erkenne ich andererseits dies als ein Ergebnis der Liebe des Vaters. Es wäre eine schlimme Sache, an dieser Liebe zu zweifeln, so wie es bei dem verlorenen Sohn eine schlimme Sache gewesen wäre, wenn er, während der Vater ihn umarmte, gesagt hätte: „Ich trage noch die Lumpen aus der Fremde an mir.“ Dachte der Sohn in diesem Augenblick, als er in den Armen seines Vaters lag, an seine Lumpen, als einen Grund, weshalb tiefer Ausdruck der Liebe, welche im Herzen des Vaters war, nicht stattfinden durfte?
Wenn ich also den Charakter dessen erkenne, was Gott für mich, einen Sünder, ist (und Jesus war durch die Selbstgerechtigkeit der Pharisäer genötigt, diesen Charakter zu offenbaren), so werden die Zweifel des menschlichen Herzens zum Schweigen gebracht vor einer solchen Gnade.
Sollte aber einer sich finden, der da sagt: „Die Gnade Gottes gibt der Sünde eine Genehmigung“, so möge ein solcher sein Unheil lesen in dem Geist des älteren Sohnes in diesem Gleichnis. Möge er hier sehen, wie die Gnade zu diesem Sohn redet.
„Sein Vater aber ging hinaus und drang in ihn“ (Lk 15,28) – Der Unglückliche! – nicht der verlorene Sohn, sondern dieser Unglückliche, der da keinen Teil an der allgemeinen Freude nahm. Selbst die Diener im Haus sind froh. Sie sagen zu dem älteren Sohn: „Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiedererhalten hat“ (Lk 15,27) Alle stimmen in den Ton der Freude ein – bis auf einen. Und wer war dieser Eine? Der Mensch, welcher an sich selbst und seine eigene Gerechtigkeit dachte. Deshalb kommt der Vater heraus und bittet ihn inständig.
Nehmt euch ein Beispiel hieran, und hütet euch aus Furcht, dass eure Herzen die Liebe und die Gnade, welche Gott einem Mitsünder erzeigt, nicht in Bitterkeit verkehren!
Der ältere Sohn wollte nicht eintreten. Der Vater sagt zu ihm: „Man musste doch fröhlich sein und sich freuen; denn dieser dein Bruder war tot und ist lebendig geworden, und verloren und ist gefunden worden“ (Lk 15,32). Aber er blieb draußen und hatte kein Glück und keine Freude, sondern zeigte ein Widerstreben des Herzens gegen die Reichtümer der Gnade seines Vaters.
Kennst du Gott auch? Du wirst auch dich selbst erkennen wollen. Sei es so, aber ziehe deshalb nicht das Herz Gottes in Zweifel. Wie kann ich das Herz Gottes erkennen? Dadurch, dass ich mein Herz betrachte? Nein, sondern ich erkenne es durch die Gabe seines Sohnes. Der Gott, mit welchem wir zu tun haben, ist der Gott, welcher seinen Sohn für die Sünder hingegeben hat. Wissen wir dies nicht, so erkennen wir gar nichts. Sage nicht zu Gott: „Mache mich zu einem deiner Tagelöhner.“ Der Dienst muss die Folge der Erkenntnis Gottes selbst sein. Messt die Güte Gottes mit dem Maß eurer eigenen Herzen. Unsere Herzen haben ein solches Streben, sich zum Gesetz zurückzuwenden und sich in einer selbstgemachten Scheindemütigung zu erniedrigen. Die einzige wahre Demut und Kraft und Segen besteht darin, in der Gegenwart und Segnung Gottes sich selbst zu vergessen. Es kann sein, dass wir mittelst sehr demütigender Wege dazu gebracht werden. Aber nicht dadurch allein, dass wir schlecht von uns selbst denken, werden wir wahrhaft demütig. Wir haben das Vorrecht, uns selbst zu vergessen in der Offenbarung der Liebe Gottes und unseres Vaters, welcher für uns die Liebe ist.
Möge der Herr durch Jesus Christus euch geben, als arme Sünder den so in Liebe offenbarten Gott zu erkennen!
Fußnoten
- 1 Die stolze Moral hätte Er wohl finden können, aber keine einzige Stätte, wo ein armes, müdes und zerbrochenes Herz das Mitgefühl und die Ruhe finden könnte, die nötig ist, um es zu öffnen und ihm das Leben zu geben.
- 2 Man darf hier nicht vergessen, was für eine Bedeutung ein Schwein bei den Juden hatte. Es war ein unreines Tier.
- 3 Ich rede hier nicht von der Selbstgerechtigkeit.