Botschafter des Heils in Christo 1860

Vollkommene Gnade

Bei Gott allein ist vollkommene Gnade – eine Gnade, die das überschwängliche Gewicht der Sünde weit überströmt. Der natürliche Mensch kann von Gnade reden, und in einem gewissen Sinne auch nach Gnade handeln; aber die Gnade Gottes kennt er nicht. Durch diese Gnade wird der Sünder, der nichts anders als Sünde und Gottes Feind ist, nicht nur auf das völligste begnadigt, sondern auch Zugleich mit unaussprechlichen Segnungen gesegnet. Die Gnade Gottes ist ohne Bedingung, unveränderlich und vollkommen. Eine größere Gnade ist unmöglich und auch unnötig. Sie kommt allen Bedürfnissen eines verlorenen Sünders auf das völligste entgegen. Sie rechnet die Sünden nicht zu, und gibt die herrlichsten Segnungen ganz umsonst. Sie setzt den Begnadigten in dieselbe Stellung mit Christus und segnet ihn 4nit seiner Fülle. Christus selbst ist der Maßstab seiner Stellung und seiner Segnung. Und alle, die in Ihm sind, haben dies Maß der Segnung; sie alle haben vollkommene Gnade, wenn auch das Verständnis darüber sehr verschieden und mangelhaft sein mag.

Der verlorene Sohn wusste wohl, dass bei seinem Vater Liebe war, aber dass er nur Liebe war, wusste er nicht. Und ebenso geht es vielen Gläubigen in Betreff der Liebe und Gnade Gottes. Sie wissen, dass beides für sie da ist, aber dass beides völlig, und dass nichts anders für sie da ist, glauben sie nicht. Viele bekennen sogar diese Vollkommenheit der Gnade und Liebe Gottes, und doch beweisen ihre Seufzer und Klagen, ihre Furcht und Unruhe nur zu oft, dass sie es nicht wirklich glauben und durch Glauben davon überzeugt sind.

Ein schlagender Beweis der vollkommenen Gnade Gottes ist uns nun auch in dem oben angeführten Kapitel (Apg 16) in der Bekehrung des Kerkermeisters zu Philipp! dargestellt. – Paulus und Silas waren nach Mazedonien berufen, und sicher hatte der Herr bei dieser Berufung auch an jenen Kerkermeister zu Philippi gedacht. Aber das erste zusammentreffen desselben mit diesen Boten Gottes bewies nur zu deutlich, dass er nicht an Gott dachte. Paulus hatte aus einer Magd dort einen Wahrsagegeist ausgetrieben, welche ihren Herren vielen Gewinn einbrachte; und diese, darüber erbittert, machten einen Aufruhr. Dem Paulus und Silas wurden auf öffentlichem Markt die Kleider abgerissen, und nachdem sie viele Rutenschläge empfangen hatten, wurden sie ins Gefängnis abgeführt. Allein das traurige Aussehen dieser misshandelten Knechte Gottes rührte den Kerkermeister nicht. Herzlos und ohne Mitgefühl „warf er sie in das innerste Gefängnis und schloss ihre Füße in den Stock“ (V 24). Da war kein Schimmer von Gnade; sein Herz war, wie das eines jeden natürlichen Menschen, öde, finster und tot – tot in Sünden und voll Feindschaft wider Gott. An einen solchen Menschen nun dachte die Gnade Gottes; und sie findet nie einen anderen, – sie erwartet es auch nicht, damit sie sich als eine vollkommene Gnade erweisen kann. Sie offenbart, was Gott ist, und sie offenbart auch, was der Mensch ist. Während Gott auf dem Weg ist, dem Sünder mit vollkommener Gnade und Liebe zu begegnen und ihm die köstliche Botschaft zu verkündigen, zeigt dieser gerade am deutlichsten, wie verdorben und gottlos er ist. Dies sehen wir sehr klar bei diesem Kerkermeister. Die Boten Gottes waren da, um ihm zu verkündigen, dass dem verlorenen Sünder, und also auch ihm, eine völlige Freistadt eröffnet und ewige Herrlichkeit umsonst geschenkt sei; und was tat er? Er warf sie mit hartem, gefühllosem Herzen ins tiefste Gefängnis und schloss ihre Füße in den Stock. Auch nicht die geringste Labung bot er ihnen an. Ach, er war völlig blind; er war tot in Sünden und Übertretungen; er war ein verlorener Sünder, und nur die vollkommene Gnade Gottes konnte ihn retten.

Ehe wir nun diesen Gegenstand weiterverfolgen, lasst uns hier einen Augenblick die Wege Gottes betrachten, worauf Er seine Diener leitet. Diese Wege sind meist sehr wunderbar, aber ihr Ausgang ist herrlich. Sie gereichen allezeit zum Besten der Seinen und zur Verherrlichung seines Namens. Der Weg des Paulus und Silas zum Kerkermeister ging durchs Gefängnis. Gewiss, ein sonderbarer Weg; aber sie wussten, dass dies der Weg des Herrn war, dass sie auf diesem Weg, wie schwierig er auch sein mochte, völlig auf seine Gnade und Liebe rechnen durften, und darum waren sie getrost. „Und um Mitternacht beteten Paulus und Silas und lobsangen Gott“ (V 25). Ihre Herzen waren bei Ihm und nicht in den Umständen. Sobald das Herz in den Umständen ist, ist es unruhig und mutlos, ist es aber durch Glauben in der Gegenwart Gottes, so finden wir stets, auch selbst in den schwierigsten Umständen, dass Er des Lobes und der Anbetung würdig ist. Das Bewusstsein seiner Gegenwart macht uns ruhig und getrost; wir sind von seiner Liebe überzeugt und können uns stets in völliger Ruhe mit Ihm beschäftigen. Das Sorgen und Handeln übernimmt Gott, und nichts entgeht Ihm. Sein Auge ruht allezeit mit Gnade und Liebe auf seinem Diener, und in allen Lagen darf dieser auf sein vollkommenes Mitgefühl rechnen. Ja, angesichts der schwersten Versuchungen kann er sich ruhig niederlegen und schlafen, wie Petrus im Gefängnis zu Jerusalem, (Apg 12,6-7) oder auch Lobgesänge singen, wie Paulus und Silas – Gott wird ihn nie versäumen, nie vergessen; Er wird für ihn handeln. Und wenn Gott seine Macht kundtut, dann sind alle Ketten und Banden und alle verschlossenen Türen weniger als nichts; und wenn Er seine Gnade offenbart, dann verwandelt Er das härteste und feindseligste Herz in ein Herz voll Sanftmut und Liebe.

Dies zeigt uns die vorliegende Geschichte aufs deutlichste. „Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, so dass die Grundfesten des Gefängnisses erschüttert wurden, und sich auf der Stelle alle Türen öffneten, und aller Bande gelöst wurden“ (V 26). Ein kleingläubiges Herz hätte in den Schwierigkeiten, welchen Paulus und Silas zu begegnen hatten, leicht mutlos werden können. Ihre Treue gegen den Herrn hatte ihnen viel? Schläge bereitet und sie sogar ins tiefste Gefängnis gebracht. Und der Herr hatte dies alles erlaubt und nicht ein Wort dazu gesagt. Gewiss, dies wäre für ein kleingläubiges Herz genug gewesen, um an seiner Liebe und an seinem Mitgefühl zu zweifeln. Paulus und Silas aber „lobsangen Gott.“ Und Gott war bei ihnen. Er hatte sie nicht vergessen. Jetzt war der Zeitpunkt für Ihn gekommen, um seine Macht und Gnade kund zu tun. Und es bedurfte nur eines Augenblicks, da war die ganze Szene verändert; in einem Nu hatte seine starke Hand aller Bande gelöst und alle Türen des Gefängnisses gesprengt. Und diese Hand ist nimmer zu kurz; es gibt keine Lage, wo sie nicht zu retten und zu helfen vermag. Und ebenso schnell kann die Gnade Gottes selbst das versunkendste Herz umwandeln und erneuern. Dies sehen wir hier ebenfalls sehr deutlich. Wir lesen in Vers 27 u. f.: „Der Kerkermeister aber, aus dem Schlaf wachgemacht, und die Türen des Gefängnisses geöffnet sehend, zog das Schwert und wollte sich selbst töten, indem er glaubte, dass die Gefangenen entflohen seien. Paulus aber rief mit lauter Stimme, sagend: Tue dir nichts zu Leide, denn wir sind alle hier. Er aber forderte Licht und sprang hinein, und zitternd, geworden, fiel er vor Paulus und Silas hin. Und als er sie herausgeführt hatte, sprach er: Ihr Herren, was muss ich tun, dass ich errettet werde?“

Das letzte Werk des Kerkermeisters sollte ein Selbstmord sein. Mit dieser ruchlosen Tat wollte er sein Sündenleben beschließen. Und dann? Ach, an dieses schreckliche „Dann“ dachte sein natürliches, Gott entfremdetes Herz nicht. In Sünden geboren, in Sünden gelebt und in Sünden gestorben – das ist der ganze Lebenslauf eines jeden natürlichen Menschen. – Doch die vollkommene Gnade Gottes verändert alles, sobald sie zu wirken beginnt. Sie macht den Wolf zum Lamm, den „Drohung und Mord schnaubenden Saulus“ zu einem ergebenen und völlig unterwürfigen Paulus. Sie tritt dem Sünder in seinen verderblichen Wegen entgegen und wirft ihn zu Boden; ja, sie hält den Arm auf, der dem Sündenleben den letzten Todesstoß versetzen will, und ruft: „Tue dir nichts zu Leide!“ Wunderbare Gnade! Sie wartet nicht, bis der Sünder schreit: „Erbarme dich meiner!“ Gewiss, sie würde auch vergeblich warten. Sie muss bei allen anfangen und vollenden. Die Gnade Gottes sucht den Sünder in seinen verlorenen Wegen auf, die Gnade führt ihn heraus und Gnade leitet ihn zu ewigen und unaussprechlichen Segnungen. Sie überzeugt den, Sünder, dass er verloren ist, und dass er einer vollkommenen Gnade bedarf, und dass diese Gnade in ihrer ganzen Fülle in Christus Jesus offenbart ist.

Der Kerkermeister fragte: „Ihr Herren, was muss ich tun, dass ich errettet werde?“ Wie aber kam er so plötzlich zu dieser Frage? Wer hatte diesem Götzendiener gesagt, dass er verloren war? Derselbe Geist, der auch einem der Räuber am Kreuz seinen verlorenen Zustand ansteckte. – Plötzlich stand sein ganzes Sündenleben und die Schrecken eines gerechten Gerichts Gottes vor seiner Seele. Alle seine Stützen brachen auf einmal zusammen und alle seine Götzen sanken ohnmächtig dahin. Er stand da und hatte nichts als seine Sünden, seine unzähligen Sünden, und – „er zitterte.“ Er, der Kerkermeister, war jetzt ein armer Gefangener, mit unzerreißbaren Ketten gebunden, und, beladen mit ungeheurer Schuld, auf dem Weg zum gerechten Gericht Gottes. Er sähe keinen Ausweg mehr, um zu entrinnen, und deshalb fragte er seine beiden Gefangenen, die er jetzt als Befreite und Gesegnete Gottes erkannte: „Ihr Herren, was muss ich tun, dass ich errettet werde?“ – Ach der arme, ohnmächtige Sklave der Sünde dachte noch ans Tun. Und alles, was er tun konnte, hatte er getan – er hatte gesündigt, und weiter konnte er nichts. Es fragte aber ein zitternder Sünder, und einem solchen antwortet die Gnade – die vollkommene Gnade Gottes: „Glaube an den Herrn Jesus Christus und du wirst errettet werden und dein Haus.“ O, welch eine gesegnete und trostreiche Antwort für einen verlorenen Sünder! Es ist nichts mehr zu tun, um errettet zu werden. – alles, was getan werden muss, ist völlig geschehen. Ein anderer hat es getan, der es auch allein tun konnte – Jesus Christus. Er hat durch sein eigenes Blut alle Sünden getilgt, die Gerechtigkeit Gottes befriedigt und seinen Zorn für immer gestillt. Der verlorene Sünder hat nichts mehr zu tun; er hat nur zu glauben, dass alles für Ihn getan ist; und der Glaube an Christus errettet ihn völlig. Welch eine liebliche Botschaft für einen zitternden Sünder, der für seine vielen Sünden nichts anders zu erwarten hat, als ewige Verdammnis!

Was war bei dem Kerkermeister die Wirkung dieser gesegneten Botschaft? Wir lesen am Ende des 34. Verses: „Und an Gott glaubend, frohlockte er mit seinem ganzen Haus.“ Anbetungswürdige Gnade! In ein und derselben Stunde sich das Leben nehmen zu wollen, ein verlorener und zitternder Sünder vor Gott zu sein und auch zu frohlocken. Das ist allein das Wert der vollkommenen Gnade Gottes, die nichts von dem Sünder fordert, sondern alles umsonst gibt – der Gnade, die den Gottlosen ohne Werke rechtfertigt und den Feind Gottes mit vollkommener Liebe ausnimmt. Ja, dies vermag allein die vollkommene Gnade Gottes. Und glückselig, wer zu dieser Gnade in Christus Jesus gekommen ist! Er ist für immer errettet und kann zu jeder Zeit und in allen seinen Bedürfnissen zu derselben durch Glauben seine Zuflucht nehmen.

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