Botschafter des Heils in Christo 1860
Vollkommene Liebe
Nichts ist in der Geschichte und der Erfahrung der Seelen bezeichnender, als die Neigung, auf das zu schauen, was in uns ist, anstatt außer uns auf Christus. Der Glaube aber hat seinen Gegenstand außer uns und nicht in uns; und je mehr sich dies bei uns verwirklicht, desto glücklicher werden wir sein. In dem Augenblick aber, wo wir den Grund unseres Glaubens in uns suchen, verlieren wir den Trost und den Frieden, welche zu genießen unser Vorrecht ist. Deshalb sage ich noch einmal, der Gegenstand, auf welchen der Glaube allein seinen Blick richtet, liegt immer außer uns.
Diese herrschende Gewohnheit, in sich, anstatt außer sich zu schauen, hat die Wirkung gehabt, die oben angeführte Stelle ihrer göttlichen Schönheit, Köstlichkeit und Macht in sehr hohem Grad zu berauben. Gewiss ist es eine traurige und undankbare Beschäftigung, seine eigene Liebe zu prüfen, um Vollkommenheit darin zu finden, ja, es ist eine weit hoffnungslosere Arbeit, als wenn die Kinder Israel durch ihre hartherzigen und despotischen Vögte gezwungen wurden, Ziegel ohne Stroh zu machen. Ohne allen Zweifel hatte ein Israelit, wenn er in den Stoppelfeldern Ägyptens umherschweifte, um Material für sein Tagewerk zu suchen, noch mehr Hoffnung auf Erfolg, als wenn ein armer, hilfloser, unwürdiger Sünder in der Finsternis seines Herzens umhertappt, um irgendetwas „Vollkommenes“ zu suchen.
Es liegt dem Sinn des Heiligen Geistes nichts entfernter, als der Gedanke an unsere vollkommene Liebe; und dies wird uns ganz klar, wenn wir einfach die erwähnte Stelle in 1. Johannes 4,17 betrachten: „Hierin ist die Liebe mit uns vollendet, auf dass wir an dem Tag des Gerichts Freimütigkeit haben; dass, wie Er ist, auch wir in dieser Welt sind.“ Wie könnte nun unsere Liebe je „vollkommen“ genug sein, um uns „am Tag des Gerichts Freimütigkeit zu geben?“ Wie könnten wir je mit glücklichem Vertrauen vorwärtsschauen, zu dem Richterstuhl hin, wenn wir auf der Vollkommenheit unserer Liebe ruhten? Nie könnte unsere Liebe je von solchem Charakter sein, um alle Peinliche Furcht aus unseren Herzen wegzutreiben? Unmöglich.
Was nun meint der Apostel, wenn er sagt: „Die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus?“ Er meint, dass die vollkommene Liebe Gottes, welche in dem kostbaren Blut seines geliebten Sohnes gegen uns offenbart und auch „vollkommen mit uns“ ist, alle Furcht aus unseren Herzen völlig verbanne. Wenn ich weiß, dass Gott mich vollkommen liebt, dann habe ich nicht die geringste Ursache zur Furcht. Und auf welche Weise hat Er seine Liebe gegen mich ausgedrückt? In dem Blut, welches aus der durchbohrten Seite eines gekreuzigten Christus floss. Dieses Blut hat nicht nur die Ansprüche Gottes in Betreff meiner Sünden befriedigt, sondern auch seine vollkommene Liebe gegen meine verlorene Seele ausgedrückt. Die Sünde ist gerichtet und für immer hinweggetan, und zwar durch dieses Blut, welches Zugleich die tiefen Geheimnisse der Liebe offenbart, die in dem Herzen Gottes gegen verlorene Sünder wohnt. Was wird deshalb der Tag des Gerichts für den Gläubigen sein? Er wird angesichts des Himmels, der Erde und der Hölle offenbaren, dass nichts gegen ihn ist. Das Licht des „Richterstuhls Christi“ wird zeigen, dass auf jenem „weißen Kleid,“ welches seine ganze Reinheit dem Blut Christi verdankt, nicht der geringste Flecken ist. Der Richterstuhl wird in jeder Beziehung dem Gläubigen ebenso geneigt sein, als es jetzt der Gnadenstuhl ist. Das Blut von diesem ist jetzt nicht mehr auf seiner Seite, als es dann auch das Gericht von jenem sein wird. Dies ist eine liebliche Wahrheit und eine göttliche Berechnung, die Furcht aus dem Herzen wegzutreiben und Freimütigkeit einzupflanzen.
Lasst uns jetzt die Art und Weise, in welcher die Lieb. Gottes mit uns vollendet ist, ein wenig näher betrachten. „Wie Er ist, so sind auch wir in dieser Welt.“ Dies ist in der Tat die Vollkommenheit der Liebe. Wie der Richter ist so sind auch wir. „Wir sind vollendet in Ihm“ „angenommen in dem Geliebten“ ein Teil von Ihm Er das Haupt und wir die Glieder. Christus nahm ans dem Kreuz unsere Stelle ein. Er ward zur Sünde gemacht an unsere Stelle wurde er gerichtet. Er trug das Kreuz und erduldete den Zorn; Er bezahlte die Schuld und erlitt den Tod für uns. Er nahm aber unsere Stelle ein, damit wir die seinige einnehmen mochten. Er kam in die tiefsten Tiefen unseres Zustands hernieder, damit wir in die höchsten Höhen seiner Stellung vor Gott erhoben werden möchten. „Wie Er ist, so sind auch wir in dieser Welt.“ In dieser Weise ist „die Liebe Gottes in uns vollendet, auf dass wir an dem Tag des Gerichts Freimütigkeit haben.“ Gewiss, der Richter wird sich selbst nicht verdammen. Er ist meine Gerechtigkeit. Er wird nicht den geringsten Fehler in seinem eigenen Werk finden. Nur dies ist der wahre Grund meines Vertrauens. Er hat mich zu dem gemacht, was ich bin, und hat mich dahin gesetzt, wo ich bin. „Der uns aber hierzu gebildet hat, ist Gott“ (2. Kor 5,5). „Wir sind sein Werk“ (Eph 2,10).
Hieraus folgt nun, dass ich, wenn der Gedanke an den Tag des Gerichts noch ein wenig Furcht in meinem Herzen erweckt, nicht glaube, dass ich vollkommen von Gott geliebt bin, oder dass das Blut Christi mich vollkommen reinigt. Es ist nutzlos für mich, in mein eigenes Herz zu schauen; ich werde nichts daselbst finden. Gott aber sucht auch nichts darin und fordert auch nichts von mir. Er hat alles, was Er wünscht, auf dem Kreuz gefunden. Er selbst hat für sich selbst die ganze Frage der Sünde in Ordnung gebracht; Er hat sich in Betreff derselben vollkommen befriedigt. Er kannte, das Bedürfnis und ist ihm vollkommen begegnet; Er kannte die Forderungen und hat sie befriedigt; Er kannte das Maß der Schuld und hat sie alle getilgt. Er hat die Sünde völlig beseitigt, so dass wir jetzt vor seiner unendlichen Reinheit bestehen können. Er hat sich verherrlicht in der Fortschaffung dessen, welches uns ewiges Verderben gebracht haben würde. Es ist ebenso unmöglich, dass Gott und die Sünde zusammengehen können, als dass Gott und die Gläubigen können getrennt sein. Darum ist die Sünde vollkommen und auf ewig bei Seite gesetzt, und der Gläubige vollkommen und auf ewig nahegebracht, erstere konnte nimmer eingelassen, und letzterer kann nimmer ausgestoßen werden.
Jetzt erlaube ich mir, Dich, geliebter Leser, zu fragen: Kennst du diese vollkommene Liebe Gottes? Hat sie deine Furcht ausgetrieben? Oder sinkt dein Mut beim Gedanken an den „Tag. des Gerichts?“ Fürchtest du, dass das Licht dieses Tages dir unfreundlich sein werde? Wenn das ist, so kannst du sicher sein, dass du nicht auf der Liebe Gottes und auf dem Blut Christi ruhst. Du schaust auf dich selbst. Du glaubst nicht, dass die Liebe Gottes vollkommen ist; denn wenn du das tätest, so würdest du wissen, dass sie auch deinen Zustand erkannt und erreicht hat. Du glaubst auch nicht, dass das Opfer Christi vollkommen ist; denn wenn du das tätest, so würdest du wissen, dass alle deine Schuld hinweg getan ist. Wenn etwas von dir gefordert würde, dann würdest du wohl Ursache haben, Dich zu fürchten und zu zittern; denn du könntest nicht das geringste bezahlen. Aber Gott sei Dank! Dies alles ist Sache der Vollkommenheit der Liebe Gottes, der Wirksamkeit des Blutes Christi und der Wahrheit des Zeugnisses des Heiligen Geistes geworden, und darum ist der geringste Zweifel eine Verachtung der heiligen Dreieinigkeit.
Es gibt etliche, welche meinen, Zweifel und Furcht seien Zeichen des geistlichen Lebens. Sie mögen es in der Weise sein, wie rheumatische Schmerzen Zeichen eines natürlichen Lebens sind; aber wem gelüstet nach solchen Zeichen? Wer möchte sich fortwährende Schmerzen wünschen, um einen augenscheinlichen Beweis von seinem Dasein zu haben? Der Apostel erklärt nachdrücklich: „Die vollkommene Liebe treibt die Furcht ans; denn die Furcht hat Pein. Wer sich aber fürchtet, ist in der Liebe nicht vollendet.“
„Und wir haben die Liebe, welche Gott zu uns hat, erkannt und geglaubt. Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott in ihm“ (1. Joh 4,16).