Botschafter des Heils in Christo 1860
Warum seufze ich?
„Ich elender Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leib des Todes?“ (Röm 7,24).
„Wir selbst, die wir die Erstlinge des Geistes haben, auch wir selbst seufzen in uns selbst“ (Röm 8,23).
Es ist nichts so schwer für unsere Herzen, als stets im Gefühl der Gnade zu bleiben und das praktische Bewusstsein festzuhalten, dass wir nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade sind. Durch Gnade wird das Herz befestigt und dennoch ist, wie gesagt, nichts schwerer für uns, als die Fülle der Gnade zu fassen, dass es Gottes Gnade ist, in der wir stehen, und in der Macht und dem Bewusstsein derselben zu leben.
Allein in der Gegenwart Gottes sind wir fähig, zu verstehen, was die Gnade ist. Und dort zu sein, ist unser Vorrecht. Sobald wir aber seine Gegenwart verlassen, werden immer unsere eigenen Gedanken in uns wirksam sein, und unsere Gedanken erreichen nicht die Gedanken Gottes über uns, die Gedanken seiner Gnade. Ebenso ist es auch unmöglich, irgendeinen wahren Begriff von der Gnade zu haben, bis wir auf dem großen Grund derselben, der Gabe Gottes in der Person Jesu, stehen. Keine Überlegung unserer eigenen Herzen vermag die Gnade Gottes zu fassen. Jedes wahre Verständnis von ihr muss direkt und frei von Gott kommen. Hätte ich noch irgendein Recht, etwas zu erwarten, sei es auch das allergeringste, so wäre es nicht mehr reine und freie Gnade, nicht mehr diese „Gnade Gottes“, die mir zu Teil würde. Selbst dann, nachdem „wir geschmeckt haben, dass der Herr gütig ist“, sind gleich unsere eigenen Gedanken wirksam, sobald wir die Gegenwart Gottes verlassen haben. Und ist dies der Fall, so mögen wir wegen unserer Sünden oder unserer Würdigkeit oder auch wegen sonst etwas beschäftigt sein, wir verlieren das Gefühl der Gnade und vertrauen nicht mehr völlig auf dieselbe.
Dieses Weggehen aus der Gegenwart Gottes ist die Quelle unserer ganzen Schwachheit als Heilige. Denn nur in der Kraft Gottes vermögen wir etwas zu tun. „Wenn Gott für uns ist, wer gegen uns?“ (Röm 8,31). Das völlige Bewusstsein seiner gesegneten Gegenwart macht, dass wir mehr sind als Überwinder. Sei es dann, dass wir an uns selbst, oder dass wir an die Umstände um uns her denken, jede Sache wird leicht. Und nur in seiner Gemeinschaft sind wir fähig, alles nach der Gnade zu messen. Sogar wenn wir an uns selbst denken, indem wir in der Gegenwart Gottes auf seiner Gnade ruhen, wird uns nicht das Geringste beunruhigen. „Wer wird gegen Gottes Auserwählte Anklage erheben? Gott ist es, der rechtfertigt; wer ist es, der verdamme? Christus ist es, der gestorben, ja noch mehr, der [auch] auferweckt worden, der auch zur Rechten Gottes ist, der sich auch für uns verwendet. Wer wird uns scheiden von der Liebe des Christus? Drangsal oder Angst oder Verfolgung oder Hungersnot oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?“ (Röm 8,33–35). Wohl mögen wir im Geist betrübt sein, wenn wir alles unter der Sünde, dem Elend und dem Verderben sehen, wie ja auch Jesus „tief im Geist seufzte und sich selbst erschütterte“, aber es ist unmöglich, über irgendetwas, was es auch sei, selbst nicht über den Zustand der Versammlung, beunruhigt zu werden, wenn wir in dem Gefühl der Gegenwart Gottes bleiben. Denn dann rechnen wir auf Gott und alles wird eine Gelegenheit für die Wirksamkeit seiner unergründlichen Gnade.
Die Natur rechnet nie auf die Gnade Gottes. Sie mag wohl auf seine Barmherzigkeit in Vergebung der Sünde rechnen, aber dies auch nur, weil sie sich entweder einbildet, Gott sei gleichgültig gegen die Sünde und achte sie nicht mehr, wie sie selbst es tut, oder Er habe kein Recht, sie zu richten. Die Gnade aber ist diesem ganz entgegengesetzt. Wo sie erkannt wird, da ist auch ein wahres Gefühl von der schrecklichen Schlechtigkeit der Sünde. Und sobald wir die Sünde nach dem Maß Gottes zu messen gelernt haben, so sind auch unsere Herzen voll von Verwunderung über diese unergründliche Gnade Gottes, welche sie alle tilgt, welcher seinen eigenen Sohn gegeben hat, um ihretwegen zu sterben. Diese Tilgung der Sünde durch die Blutvergießung Jesu ist es nicht, was der natürliche Mensch unter der Barmherzigkeit Gottes versteht. Er denkt, wie gesagt, an eine Vergebung der Sünden, welche auf die Gleichgültigkeit Gottes gegen dieselbe gegründet ist, und dies ist nicht Gnade.
Wenn das Gewissen aufgewacht ist, und es wird, ohne die Gnade recht zu kennen, an die Verantwortlichkeit gedacht, so ist das Erste, was es tut, sich unter das Gesetz zu stellen. Es kann nicht anders sein. Selbst der natürliche Mensch tut dies oft. Er kennt keinen anderen Weg, um Gott zu gefallen, als dem Gesetz zu gehorchen. Und in seiner Unwissenheit über Gott und über sich selbst denkt er dies zu können. Verstehen wir aber einfach, was die Gnade ist, so besitzen wir die wahre Quelle unserer Kraft, als Christen. Und das Bleiben in dem Gefühl der Gnade in der Gegenwart Gottes ist das ganze Geheimnis der Heiligkeit, des Friedens und der Ruhe des Geistes.
Es gibt zwei Dinge, welche den Frieden des Geistes stören können, und welche, indem sie oft mit einander verwechselt und vermengt werden, den Herzen der Heiligen viel Kummer bereiten. Ein unruhiger Zustand des Gewissens in Betreff unserer Annahme und Errettung und dann ein Seufzen des Geistes, wie es der Apostel in Römer 8,23 erwähnt, wegen der Umstände um uns her, die uns Betrübnis und Versuchung bereiten.
Dies sind aber zwei ganz verschiedene Dinge. Das Beschwertsein und die Übung des Geistes, welches der Heilige, während er in dieser Welt lebt, wegen der Umstände um ihn her haben mag und in der Tat haben wird, ist dem Beschwertsein oder der Unruhe des Gewissens, in Betreff der Vergebung der Sünde, völlig entgegengesetzt. Wo dieses ist, da ist die Liebe nicht wirksam. Das eigene Ich bildet den Mittelpunkt. Wenn aber die Betrübnis den Zustand der Dinge um uns her betrifft, so ist das Gegenteil der Fall. Wie tief war die Betrübnis in der Seele des Herrn Jesus! Allein sie floss aus der Liebe und aus einem vollkommenen Bewusstsein der Gnade Gottes. Wenn wir einfach die Gnade kennen, wenn wir mit dem Bewusstsein in Gott ruhen, dass Er „für uns“ und das Er die Liebe ist, so werden wir diese beiden Fälle von Betrübnis sicher nicht verwechseln. Doch werden wir immer dazu fähig sein, wenn wir nicht recht verstehen, was die Gnade ist.
Wenn wir in Betreff unserer Annahme irgendwie in Unruhe sind, so können wir völlig überzeugt sein, dass wir in der Gnade nicht ganz befestigt sind. Wohl kann in jemand, der in der Gnade befestigt ist, das Gefühl der Sünde sein, aber dies ist ganz verschieden von der Unruhe des Gewissens in Betreff der Annahme oder Errettung. Der Mangel des Friedens kann in zwei Dingen seinen Grund haben. Entweder bin ich nie völlig dazu gebracht, allein auf die Gnade zu vertrauen, oder ich habe durch Nachlässigkeit das Gefühl der Gnade verloren, was leicht geschehen kann. Die „Gnade Gottes“ ist so unumschränkt und so vollkommen, dass wir in dem Augenblick, wo wir die Gegenwart Gottes verlassen, auch das Bewusstsein seiner Gnade nicht haben können. Wir haben keine Kraft, uns darauf zu stützen. Und wenn wir sie außerhalb seiner Gegenwart zu kennen versuchen, so werden wir sie nur zur Leichtfertigkeit und Vermessenheit anwenden.
Die Gnade ist ohne Grenzen, ohne Schranken. Was wir auch in uns selbst sein mögen, und wir können nicht schlechter sein, als wir sind, ist trotz allem, das, was Gott gegen uns ist, nur Liebe. Weder unsere Freude, noch unser Friede ist von dem abhängig, was wir gegen Gott sind, sondern von dem, was Er gegen uns ist, und das ist die Gnade. Sie setzt all die Sünde und das Böse, welches in uns ist, voraus, und offenbart, dass durch Jesum all die Sünde und dieses Böse hinweg getan ist. Eine einzige Sünde ist in den Augen Gottes weit schrecklicher, als tausend Sünden, ja, als die Sünden der ganzen Welt in unseren Augen sind. Und dennoch hat es Ihm bei dem völligsten Bewusstsein dessen, was wir sind, wohl gefallen, gegen uns die Liebe zu sein. Es ist ganz vergeblich, irgendwie die Größe der Sünde in betracht zu ziehen. Es mag jemand, um nach Menschenweise zu reden, ein großer oder ein kleiner Sünder sein, aber darauf kommt es hier nicht an. Die Gnade steht in Beziehung zu dem, was Gott ist, und nicht zu dem, was wir sind, ausgenommen, dass die ganze Größe unserer Sünden nur die Überschwänglichkeit der Gnade Gottes reichlicher offenbart. Zugleich dürfen wir nicht vergessen, dass es der Gegenstand und die notwendige Wirkung der Gnade ist, unsere Herzen in die Gemeinschaft Gottes zu bringen, uns zu heiligen und zwar dadurch, dass wir Ihn kennen und lieben lernen. Deshalb ist die Erkenntnis der Gnade die wahre Quelle der Heiligung.
Bei der Gnade handelt es sich, wie gesagt, nur um das, was Gott ist, und nicht im Geringsten um das, was ich bin. In dem Augenblick aber, wo ich mit dem Gefühl, als würde Gott mich wegen meiner Sünden richten, über mich denke, stehe ich augenscheinlich nicht in dem Bewusstsein der Gnade. Das natürliche Herz hat solche Gedanken und oft sind sie sogar in dem aufgewachten Gewissen wirksam. Es untersucht die Gedanken Gottes über seinen Zustand, ohne die Gnade zu kennen. Es fürchtet das Gericht und ist nicht fähig, sich an das zu lehnen, was Gott in Christus Jesus ist.
Ich habe gesagt, dass es zwei Dinge gibt, welche, obgleich ganz verschieden, dessen ungeachtet oft von den Gläubigen verwechselt werden. Ein beschwertes Gewissen und das Seufzen des geistlichen Menschen wegen des Bösen um ihn her. Und die Gefahr dieser Verwechselung ist vorhanden, sobald wir nur ein wenig das Bewusstsein der Gnade verlieren. Ebenso ist es leicht möglich, dass ein Heiliger, wenn er nicht ganz wachsam ist, selbst darüber in seinem Gewissen beunruhigt wird, dass er über das schreckliche Gewicht des Bösen um ihn her betrübt ist und seufzt. Und auch dann ist das Bewusstsein der Liebe Gottes in ihm geschwächt und er bringt sich unter das Gesetz. Aber es ist wohl möglich, dass ein Heiliger seufzt, ohne das Bewusstsein dieser Liebe verloren zu haben, ja, dass diese Liebe grade die Ursache seines Seufzens ist.
Als der Herr Jesus am Grab des Lazarus über die traurige Wirkung der Sünde tief seufzte und Tränen vergoss, da war das Bewusstsein von der Liebe des Vaters nicht im mindesten in Ihm geschwächt, denn zu derselben Zeit sagte Er in dem völligsten Vertrauen zu dieser Liebe: „Ich aber wusste, dass du mich allezeit erhörst“ (Joh 11,42). Ebenso kann ein Christ seufzen, ohne irgendwie an der Liebe Gottes zu zweifeln und das Gefühl seiner Gnade zu verlieren. Die Liebe zu anderen, verbunden mit einer geistlichen Empfindung in Betreff des Bösen, wird vieles Seufzen in uns hervorrufen. Jesus fühlte dies unendlich mehr als wir es tun können, weil die Macht seiner Liebe Ihn völlig befähigte, die ganze Wucht des Bösen, welches die Herzen der anderen niederdrückte, in ihrer wirklichen Schwere zu fühlen. Er fühlte das Elend um sich her in dem Maß, wie Er die Glückseligkeit und die Liebe seines Vaters kannte. Und je mehr auch wir uns bewusst sind, dass der Geist Gottes in uns wohnt, desto mehr werden wir seufzen. Je mehr wir von der göttlichen Huld überzeugt sind, je mehr wir die Gnade verwirklichen und je mehr wir die Liebe Gottes und die Wirkungen dieser Liebe kennen, desto mehr werden wir über alles betrübt sein, was wir jetzt um uns her wahrnehmen. Aber dies wird nicht die geringste Wolke zwischen uns und die göttliche Huld bringen.
In 2. Korinther 5 und in Römer 8 zählt sich Paulus zu denen, welche im Geist seufzen. Und warum? Er verwirklichte das Ergebnis der „Gnade, in welcher er stand“. Durch die Macht des Glaubens war er sich bewusst, dass die Segnungen sein waren und nach ihnen sich sehnend „seufzte er in sich selbst“, aber nicht, als wenn er noch irgendeinen Zweifel über seine Errettung gehabt hätte. Er war von aller Ungewissheit in Betreff der Fülle und Freiheit der göttlichen Huld und Gnade gegen sich völlig befreit. Und in diesem Bewusstsein seufzte er in sich selbst, erwartend die Kindschaft, die Erlösung unseres Leibes (vgl. Röm 8,23).
Am Ende des siebten Kapitels ist aber eine ganz andere Art von Seufzen beschrieben, welches aber oft, wie schon bemerkt, mit dem vorhin erwähnten Seufzen verwechselt wird. Die Sünde, welche noch in uns, d. h. in unserem Fleisch, wohnt, verhindert solche, die nicht wirklich in der Gnade befestigt sind, beides zu unterscheiden. Die letzte Hälfte des erwähnten Kapitels ist voll von dem, was man „Erfahrungen“ nennt, aber es sind eigentlich nicht die Erfahrungen eines Christen, sondern die Gedanken des Gemüts in und über sich selbst. Der dort beschriebene Zustand gehört zwar einer Seele an, die wirklich erweckt ist, die sich aber selbst zum Mittelpunkt all ihrer Gedanken macht. Man hört nur „ich“, „mich“ und „mein“, aber nichts von der Gnade, die in Christus Jesus ist und nichts von dem Heiligen Geist.
Wir bemerken auch in Vers 14 eine ganz verschiedene Ausdrucksweise: „Denn wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist“. Dies wissen alle Christen. Aber dann fährt er nicht fort, zu sagen: „Wir aber sind fleischlich, unter die Sünde verkauft“, sondern: „Ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft.“ Er wendet sich augenblicklich zu sich selbst und zu dem Urteil zurück, welches er, als Erweckter, durch seine Erfahrungen unter dem Gesetz über sich selbst gebildet hat. Er redet von dem, was er vor Gott ist, aber nicht von dem, was Gott gegen ihn ist. Und in Folge dessen ruft er aus: „Ich elender Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leib des Todes?“ (Röm 8,24).
So ist es immer. Sobald jemand nur an sich selbst denkt, wird er bekennen müssen: „Ich elender Mensch! Was soll ich machen? Ich hasse die Sünde, ich wünsche Gott zu gefallen, ich bekenne, dass das Gesetz gut ist, aber je mehr ich dies alles sehe und weiß, so ist doch das Böse bei mir, desto unglücklicher bin ich!“ Doch ich frage: Ist in diesem allen ein Wort von Gnade? Nicht das geringste. Wenn er aber am Schluss des Kapitels Christus einführt, dann ist er fähig, zu antworten: „Ich danke Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn!“ (Röm 8,25).
Sicher enthält dieses Kapitel völlige Wahrheit, aber es ist eine Wahrheit, die getrennt ist von der Gnade von der einfachen Tatsache, dass, so traurig und schlecht auch sein Zustand sein mag, Gott die Liebe ist, und nur Liebe gegen ihn. Anstatt aber den Blick zu Gott zu erheben, heißt es immer: „Ich“, „ich“, „ich“, wie dies im Vers 15 allein sechs Mal der Fall ist: „Denn was ich vollbringe, erkenne ich nicht; denn nicht das, was ich will, tue ich, sondern was ich hasse, das übe ich aus.“ Dies alles ist sicher eine nützliche Erfahrung, um uns zu dem Bewusstsein unserer eigenen Hilflosigkeit und Ohnmacht zu bringen, aber wir müssen sie stets an ihren rechten Platz zu setzen wissen, und dürfen nicht vergessen, dass sie nicht die Erfahrungen eines Christen sind, wenn dieser seine Stellung in Gnade in Christus Jesus erkennt. Wir haben hier vielmehr den Zustand einer Seele, die noch nicht völlig die Worte verstanden hat: „Denn Christus ist, da wir noch kraftlos waren, zur bestimmten Zeit für Gottlose gestorben“ (Röm 5,6), aber auch den einer Seele, welche sich durch die Wirkung des Fleisches hat verleiten lassen, auf sich selbst zu schauen, auf das was sie ist, anstatt allein auf Gott und auf seine Gnade zu schauen.
Die Wirkungen, welche der Glaube in unserer Seele hervorbringt, werden immer dem Gegenstand, auf welchen wir schauen, gemäß sein. Wenn z. B. ein Gläubiger das Gesetz betrachtet, so sieht er dessen Geistlichkeit viel klarer, als der natürliche Mensch es vermag. Und sieht er dann diesem Gesetz gegenüber die Schlechtigkeit des Fleisches und sein Blick geht nicht weiter, so bringt er sich unter die Verdammnis, d. h. in seinem Gefühl darüber. Er seufzt unter dem Bewusstsein der Schuld und Schwachheit. Er hasst das Böse und ist auch bemüht, sich davon zu trennen, aber das ist alles. Und nach allen vergeblichen Anstrengungen wird er endlich aufrufen: „Ich elender Mensch!“ Und so wie das Licht in seiner Seele wächst, so wächst auch sein Elend.
Wenn aber der Glaube auf Gott schaut, wie Er sich in Gnade offenbart hat, so urteilt er auch Gott und seiner Gnade gemäß. Er urteilt nicht nach der Frucht, welche hervorgebracht wird, sondern nach der Offenbarung, welche Gott von sich selbst gegeben hat. Er ruht auf der Gnade. Die Früchte der Gnade werden keinesfalls ausbleiben. Denn wenn das Leben in uns ist, so wird auch die Frucht des Geistes offenbart werden. Wenn der Heilige erkennt, dass der Friede durch das Blut des Kreuzes gemacht worden ist, so wird auch die Liebe herverströmen. Er fühlt, dass er zum Segnen berufen ist, und darum wird er „an den Füßen beschuht, mit der Bereitschaft des Evangeliums des Friedens“ sein (Eph 6,15). Die Liebe Gottes ist die Quelle, woraus er selbst trinkt, und so wird er zu einem Strom der Liebe für andere sein (vgl. Joh 7,38). Obgleich nun diese Früchte hervorgebracht werden, so ruht doch der Glaube nicht darauf. Er kann nur in der Offenbarung Gottes, welche Er von sich selbst, als „Gott der Gnade“, gegeben hat, ruhen. Wenn aber das natürliche Herz sich selbst betrachtet, oder wenn der Christ sich nach seinen Früchten beurteilen will, so muss dies notwendig Unfrieden, anstatt Frieden, hervorbringen. In mir selbst sehe ich nur Sünde, und selbst die Früchte des Glaubens sind mit Unvollkommenheit vermischt. Wie kann ich darin wahren Frieden finden? Ich kann nur an Gericht denken, wenn ich auch als Christ weiß, dass es das Gericht meines Vaters ist. Frieden aber kann ich nur in dem finden, was Christus für mich getan hat, in der Gnade, welche in Christus Jesus ist.
Was ist denn nun die Stellung in Römer 7? In der ersten Hälfte des Kapitels stellt der Apostel den großen Grundsatz fest, dass der Gläubige „dem Gesetz gestorben ist“. Dann beschreibt er die Anstrengungen einer erweckten Seele, die, wissend, dass das „Gesetz geistlich ist“, sich noch unter demselben fühlt, gezwungen ist, auszurufen: „Ich elender Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leib des Todes?“ Sie ist aber in diesem allen mit sich selbst beschäftigt. Der Glaube aber macht nicht das, was in meinem Herzen ist, zu seinem Gegenstand, sondern Gottes Offenbarung seiner selbst in Gnade. Wenn wir auf halbem Weg stehen bleiben und nur das Gesetz sehen, so wird es uns gerade unsere Verdammnis aufdecken und uns beweisen, dass wir ohne Kraft sind. Die Erfahrungen in Römer 7 zeigen, was wir in uns selbst sind, und erwecken das Bedürfnis nach Gnade. Sie beschreiben aber nicht einen Zustand in der Gnade, sondern einen Zustand, wo die Gnade erst eintreten muss.
Ich sage nicht, dass der Kampf nicht fortdauern wird, denn niemand wird die Gnade kennen, wenn er nicht auch den Kampf kennt, nur der Unbekehrte ist ohne Kampf. Wenn aber die Gnade wirklich erkannt wird, so mag der Kampf fortdauern, aber die Unruhe des Gewissens wird, selbst bei dem völligen Bewusstsein der Geistlichkeit des Gesetzes und der Verderbtheit des Fleisches, ganz und gar aufhören. Ist die Liebe Gottes in meinem Herzen verwirklicht, so werde ich nicht mehr ausrufen: „Ich elender Mensch!“ Wenn aber das Bewusstsein dieser Liebe fehlt, so fehlt auch der einfache Glaube an die Gnade Gottes. Es fehlt der klare Blick von dem, was Gott gegen mich ist in Christus Jesus. Denn so lange die Seele dieses erkennt, so wird sie selbst inmitten der Schwierigkeiten und Kämpfe hier auf der Erde völlig in Ruhe sein. Der Kampf ist da, aber er stört nicht den Frieden der Seele. Der Kampf ist nicht unser, sondern des Herrn.
Wenn ich das Böse in mir sehe und deshalb denke, dass Gott gegen mich sei, so werde ich keine Kraft zum Kampf haben. Ich werde bald niedergeworfen sein. Das völlige Bewusstsein aber, dass Gott für mich ist, wird mir Mut und Sieg geben und mich sogar fähig machen, zu sagen: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne meine Gedanken! Und sieh, ob ein Weg der Mühsal bei mir ist, und leite mich auf ewigem Weg!“ (Ps 139,23.24). In dem Vertrauen der Liebe und Gnade Gottes, kann ich Ihn bitten, alles Böse in mir zu erforschen, was ich sonst nicht tun dürfte, wenn ich nicht zur Verzweiflung kommen wollte. Gott ist mein Freund. Er ist gegen das Böse in mir, aber Er ist für mich.
In Römer 8,7 sagt der Apostel, dass die Gesinnung des Fleisches Feindschaft gegen Gott sei. Gott aber hat in der Gabe der Person Jesu die gesegnete Wahrheit ans Licht gestellt, dass, wenn der Mensch Feindschaft gegen Gott ist, Gott die Liebe ist gegen den Menschen. Unserer Feindschaft wurde durch seine Liebe begegnet. Hierin sehen wir den Triumph der Gnade, dass, wenn die Feindschaft des Menschen Jesus von der Erde ausstieß, die Liebe Gottes durch dieselbe Tatsache die Errettung des Menschen brachte. Er sühnte die Sünde derer, welche Ihn verworfen hatten. In der völligsten Enthüllung der Sünde des Menschen sieht der Glaube die völligste Offenbarung der Gnade Gottes. Denn wo sieht der Glaube die tiefsten Tiefen der Sünde und des Hasses von Seiten des Menschen gegen Gott? Auf dem Kreuz. Und gerade dort ist es auch, wo Er den größten Ausdruck der triumphierenden Liebe und Barmherzigkeit Gottes gegen den Menschen sieht. Der Speer der Kriegsknechte, welcher die Seite Jesu öffnete, ließ das hervorströmen, was von Gnade und Erbarmung redete.
Weiter zeigt der Apostel in diesem Kapitel 8, dass diejenigen, welche einst Feinde Gottes waren, jetzt seine „Söhne“ und „Erben“ geworden sind. O wie unendlich groß ist doch die Tragweite seiner Gnade gegen uns! Er hat uns dasselbe Teil gegeben, welches auch der Herr Jesus hat! Wir sind „Erben Gottes und Miterben Christi“! Nicht nur hat die Gnade uns gesucht und gefunden, als wir noch in unseren Sünden waren, sondern hat uns auch dahin gesetzt, wo Christus ist. Sie hat uns mit dem Herrn Jesus in allem eins gemacht, ausgenommen in seiner Herrlichkeit als Gott. Die Seele ist also in das Bewusstsein der vollkommenen Liebe Gottes gesetzt, und darum, wie in Kapitel fünf gesagt wird, „rühmen wir uns Gottes“. Wenn aber noch irgendein Zweifel oder die geringste Ungewissheit über die Liebe Gottes in mir vorhanden ist, so habe ich mich von der Gnade abgewandt. Und dann werde ich sagen: „Ich bin unglücklich, weil ich nicht bin, was ich so gern sein möchte.“ Doch, geliebte Freunde, darum handelt es sich nicht. Die wahre Frage ist, ob Gott das ist, was wir gerne hätten, dass Er sei und ob Jesus alles ist, was wir nur wünschen. Wenn das Bewusstsein von dem, was wir selbst sind oder was wir in uns selbst finden, eine andere Wirkung hervorbringt, als dass es uns demütigt und unsere Anbetung von dem, was Gott ist, vermehrt, so stehen wir nicht mehr auf dem Grund der reinen Gnade. In dem unendlichen Meer dieser Gnade findet das Herz in allen seinen Bedürfnissen wahre Befriedigung und Ruhe. Während aber die Gnade unseren Seelen vollkommenen Frieden gibt, befreit sie uns doch nicht von jedem Seufzen. Ebenso wie der Herr Jesus, als Er auf der Erde war, vollkommen in das Elend und das Seufzen um Ihn her eintrat und deshalb „ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut“ war, so soll auch der Heilige an seinem Teil das Gewicht des Bösen um sich her mitfühlen. Und gerade nach dem Maß, wie er in der Gnade bleibt, wird er dies Gericht teilen und in seinem Seufzen mit der leidenden und seufzenden Schöpfung sympathisieren. Und nicht nur dieses, sondern auch, weil wir noch selbst in dem Leib sind, werden „wir seufzen in uns selbst, erwartend die Sohnschaft: die Erlösung unsers Leibes“. Es ist aber keine Ungewissheit in Betreff unserer Rettung, sondern im Gegenteil sind wir sogar völlig gewiss, dass „alle Dinge“, welche dieses Seufzen verursachen, „unser sind“. Wir haben die Gewissheit und den Vorgeschmack der Herrlichkeit, und dies lässt uns umso schmerzlicher den Kontrast, worin alle Dinge um uns her sind, fühlen. Je mehr wir die Freude der Gegenwart Gottes genießen, je völliger wir die Liebe und Gnade Gottes erkennen und je mehr wir die Glückseligkeit der Herrlichkeit Gottes, zu welcher wir berufen sind, verwirklichen, desto mehr werden wir seufzen. Doch ich wiederhole noch einmal, dass dieses Seufzen von dem Seufzen eines unruhigen Gewissens ganz und gar verschieden ist. Möchten wir dies nie vergessen!
Nachlässigkeit im Glaubensleben wird das wahre Gefühl der Gnade in uns schwächen und wir können dann leicht mehr oder weniger in einen Zustand zurückkehren, wie wir ihn in Römer 7 finden. Die Erfahrungen, die wir dann wieder machen werden, sind die einer unfreien Seele. Wenn aber das Herz von den reichen Segnungen, die wir in Christus haben, erfüllt ist, so wird es sich nicht zurück wenden, um an sich selbst zu nagen. Es ist unser Vorrecht, als Heilige zu wissen, dass da keine Verdammnis für die ist, die in Christus Jesus sind. Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus hat uns frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes (vgl. Röm 8,1.2). Doch müssen wir hierbei nicht stehen bleiben, sondern weiter sehen, was wir sind als „Söhne Gottes“, „Erben Gottes“ und „Miterben Christi“, wovon der Geist uns Zeugnis gibt. Gott hat uns „eingepflanzt in Christus Jesus“, „hat uns gesalbt“ und „die Erstlinge des Geistes in unsere Herzen gegeben“. Und verstehen wir diese Gedanken der Liebe Gottes über uns, und dass wir zuvor bestimmt sind, „dem Bilde seines Sohnes gleichförmig zu sein“, und seine Herrlichkeit zu teilen, verstehen wir, was seine Liebe jetzt in seinen Handlungen gegen uns ist, und dass wir noch nicht in der Herrlichkeit, sondern in dem Leib und in der Mitte des Bösen und des Elends um uns her sind, so werden wir deshalb seufzen. „Auch wir selbst seufzen in uns selbst, erwartend die Sohnschaft: die Erlösung unseres Leibes“ (Röm 8,23). Der Besitz der Erstlinge des Geistes ist also die Ursache dieses Seufzens, nicht aber ein böses Gewissen. Der Geist Christi seufzt in uns.
Dieses Seufzen wird auch stets von Vertrauen auf Gott begleitet, welches auch selbst dann nicht fehlt, „wenn wir nicht wissen, was wir, wie es sich gebührt, beten sollen“. Denn es wird hinzugefügt: „Wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken.“ Ich mag in mir oder in anderen Heiligen oder auch in der Versammlung Böses sehen und darüber zu beten begehren, ohne aber die rechte Einsicht zu haben, was das beste Heilmittel sei, so weiß ich, dass sich „der Geist meiner Schwachheit annimmt“ und „mit mir seufzt“. Gott nimmt nicht auf meine Unwissenheit Rücksicht, sondern Er antwortet nach dem Sinn des Geistes, welcher immer „für die Heiligen Gott gemäß bittet“.
Wenn wir der Leitung Gottes in „allen Dingen“ vertrauen, so werden wir fähig sein, zu sagen: „Ich bin gewiss, dass alle Dinge zum Guten mitwirken.“ Ist eine Seele in diesem Zustand, so mag kommen, was da will, Kummer, Elend, Ungemach, Schmerz, alles ist Friede, denn sie ruht in Gott und schaut nicht, wie in Römer 7, auf sich selbst. Wir werden dann alle unsere Leiden mit der unendlichen Liebe Gottes in Verbindung bringen. Jesus wusste völlig, wie sonst niemand, was die Gegenwart Gottes und der Genuss seiner Huld war, und Er „seufzte“, weil Er aus dieser Gegenwart kam und den Menschen außerhalb derselben fand. Das Leben, welches ich jetzt habe, steht nicht mit der Verantwortlichkeit unter dem Gesetz in Verbindung, sondern mit Christus, welcher das Gericht wegen eines gebrochenen Gesetzes für mich getragen hat. Anstatt unglücklich zu sein, wie ich es bin, wenn ich unter Gesetz stehe und auf mich selbst schaue, erfreue ich mich in dem Bewusstsein der Erlösung, ruhe in der Gnade und „rühme mich in Hoffnung der Herrlichkeit Gottes“. In dem Augenblick aber, wo wir eines Schimmers der Herrlichkeit Christi teilhaftig werden, wird uns die Welt eine Szene des Elends und der Gefangenschaft.
Ferner ist dies Seufzen in Betreff des Bösen um uns her immer von Liebe begleitet. Wenn ich z. B. einen Heiligen sündigen sehe, so wird es mich gleich zu der Liebe und Gnade führen, gegen welche er sündigt. Es wird das Bewusstsein der göttlichen Gunst sein, welches ich über den habe, der da sündigt und welches mich besorgt über ihn macht. Und während ich über seine Sünde betrübt bin, werde ich mich doch inmitten meiner Betrübnis in Gott freuen. Wenn nun dies also ist, geliebte Brüder, wenn die Huld und Liebe Gottes der Platz ist, in welchen uns die Gnade gesetzt hat, so frage ich: Ruhen wir auch wirklich an diesem gesegneten Platz? Wenn Gott die Liebe und nichts als die vollkommene Liebe ist, und unsere Freude ist dennoch nicht völlig, oder es ist gar noch irgendwelche Ungewissheit in Betreff unserer Stellung vor Ihm in unsrer Seele, dann können wir nicht einfach in seiner Gnade ruhen. Und ist noch irgendwie Misstrauen und Unruhe in unseren Herzen, so lasst uns wohl zusehen, ob es nicht daher kommt, weil wir noch sagen: „Ich“, „ich“, und wenden unseren Blick von der Gnade weg. Wir mögen Glauben haben, aber wir bedürfen auch der Einfalt des Herzens, um stets auf die Gnade Gottes zu schauen.
Es ist weit besser, daran zu denken, was Gott ist, als an das, was wir sind. Dieses Schauen auf uns selbst ist sogar Stolz, ein Mangel des völligen Bewusstseins, dass wir zu nichts taugen. Solange wir dies nicht wissen, werden wir nie ganz von uns ab und auf Gott allein hinschauen. Oft mag vielleicht das Schauen auf das Böse in uns dazu dienen, uns über dasselbe zu belehren. Doch dies ist nicht alles, was wir bedürfen. Bei dem Schauen auf Christus ist es unser Vorrecht, uns selbst zu vergessen. Die wahre Demut besteht nicht so sehr darin, dass wir schlecht von uns denken, sondern vielmehr darin, dass wir gar nicht an uns denken. Ich bin zu schlecht und nicht wert, an mich selbst zu denken. Was ich bedarf, ist, mich selbst zu vergessen und auf Gott zu schauen, der in der Tat würdig ist, der Gegenstand aller meiner Gedanken zu sein. Und ist dies der Fall, so werde ich in der Tat wenig von mir selbst halten.
Geliebte, wenn wir sagen können, wie in Kapitel 7, dass „in mir, dass ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt“, so haben wir lange genug über uns selbst nachgedacht. Lasst uns dann jetzt an Ihn denken, welcher lange vorher, ehe wir noch an uns selbst denken konnten, Gedanken zum Guten und nicht zum Bösen über uns hatte. Lasst uns sehen, was seine Gedanken der Gnade über uns sind und die Worte des Glaubens ergreifen: „Wenn Gott für uns ist, wer gegen uns?“