Botschafter des Heils in Christo 1858
Bemerkungen über den Judasbrief
Es gibt zwei verschiedene Begriffe, in welchen der Ausdruck: „letzte Tage“ in dem Neuen Testament angewandt ist. Im Anfang der Brief an die Hebräer werden diese „letzten Tage“ in der Absicht erwähnt, um diesen gegenwärtigen Zeitlauf zu bezeichnen. Wir finden aber diesen Ausdruck auch auf den Schluss der Tage des gegenwärtigen Zeitlaufs angewandt. In dieser Beziehung ist er in 2. Timotheus 3 gebraucht: „In den letzten Tagen werden schwere Zeiten entstehen;“ – das ist am Ende der Tage des Christentums. Auf diese Zeit bezieht sich auch Judas, wenn er sagt, „dass zur letzten Zeit Spötter kommen würden“ (V 18).
Es ist nun wichtig für uns, die Züge zu kennen, welche der Geist Gottes in Betreff dieser „letzten Tage“ bezeichnet. In den Briefen finden wir zwei bemerkenswerte Züge oder Kennzeichen, in welchen der Heilige Geist die Schlussstunde des jetzigen Zeitlaufs beschrieben hat: 1) der Geist des Rationalismus, des Freidenkens, der die Geheimnisse Gottes verwirft; 2) die Macht der moralischen Schlaffheit.
In 2. Petrus 3,3 wird uns gesagt, „dass am Ende der Tage“ Spötter kommen werden mit Spötterei, nach ihren eigenen Lüsten wandelnd und sagend: „Wo ist die Verheißung seiner Ankunft?“ Hier werden „die letzten Tage“ – durch einen Geist des Spottes, dessen Gegenstand die Geheimnisse der Wahrheit – die zweite Ankunft, oder das Kommen des Herrn – sind, bemerkbar gemacht. Wenn wir uns zu dem ersten Brief des Johannes wenden, so finden wir dasselbe vom Geist des Antichristen gesagt, der schon wirksam war, und über die Geheimnisse der Wahrheit spottete. „Kindlein,“ sagt der Apostel, „es ist die letzte Stunde;“ (Kap 2,18) und dann beschreibt er, wodurch diese letzte Sünde charakterisiert wird, – durch das Leugnen, dass Jesus der Christ ist, – durch das Leugnen des Vaters und des Sohnes. So erhalten wir also durch diese beiden Zeugnisse (von dem des Petrus und dem des Johannes) einen sehr bestimmten Charakter „der letzten Zeiten.“ Sie werden an einem leichtfertigen und ungläubigen Geist erkannt, welcher über das Kommen des Herrn spottet, und welcher das große Geheimnis der Person der Gottheit leugnet.
Wenn wir nun zu dem Brief des Judas zurückkehren, so werden wir finden, dass es hier nicht die eben genannten Züge sind, wodurch diese letzten Tage bezeichnet werden, sondern dass es ein schrecklicher Zustand der moralischen Schlaffheit ist, ähnlich, wie Paulus in 2. Timotheus 3 angibt, wo wir in Vers 3–5 lesen: „Die Menschen werden sein eigenliebig, geldgierig, prahlerisch, hochmütig, Lästerer, den Eltern ungehorsam, undankbar, heillos, gefühllos, unversöhnlich, verleumderisch, unenthaltsam, grausam, das Gute nicht liebend, verräterisch, verwegen, aufgeblasen, mehr Freunde der Wollust als Gottes, welche die Form der Gottseligkeit haben, ihre Kraft aber verleugnen.“ Das ist ein trauriges Bild. Und erinnern wir uns, dass hier das Christentum beschrieben wird, und dass es nicht die heidnische Welt ist, wovon Paulus spricht. Sowohl in dem Zeugnis des Petrus und des Johannes, als auch in dem des Paulus und des Judas handelt es sich um das Christentum. Sie belehren uns im Voraus, dass die letzten Tage des Christentums sich sowohl durch einen furchtbaren, unsittlichen Zustand, als auch durch Freigeisterei und Spott, welcher die Geheimnisse der Wahrheit verwirft, bemerkbar machen.
Es könnte nun gefragt werden: „Was haben wir mit diesen Dingen zu tun?“ Ach, geliebte Freunde, wir haben damit zu tun. Wir sollten die Feinde kennen, gegen welche wir zu kämpfen haben – die mannigfachen Formen der List und der Gewalt Satans, gegen welche wir zu wachen haben: denn es wird nichts nützen, wenn wir einer Schlinge entgehen, und fallen in eine andere. Es wird nicht genug sein, dass wir über die Geheimnisse der Wahrheit wachen, sondern wir müssen über unseren ganzen Wandel wachen, damit wir nicht auf irgend eine Weise in den allgemeinen Zustand „der letzten Tage“ hinein geraten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die beiden beschriebenen Züge sich nicht auf eine und dieselbe Person beziehen werden. Der freidenkende Vernunftmensch kann moralisch und liebenswürdig, und der ungöttlich wandelnde Mensch der Bekenner eines orthodoxen Glaubens sein. Judas richtet sein Augenmerk nicht auf das, wovon Johannes spricht.
Jetzt wünsche ich, praktischer Weise, unsere Aufmerksamkeit auf einen Punkt hinzulenken. Es ist die eigentliche Sache des Heiligen Geistes, von Christus zu reden – von der allgemeinen Errettung. Sein Amt ist, „von dem seinen zu nehmen, und uns zu verkündigen.“ In der Versammlung aber nimmt Er einen dienenden Platz ein, und deshalb, wenn ihr Unheil droht, wendet Er es ab, und ermahnt sie, „für den einmal den Heiligen überlieferten Glauben zu kämpfen“ (Jud 1,3). Die Heiligen werden nicht ermahnt, für die Orthodoxie zu kämpfen, sondern für den einmal den Heiligen überlieferten Glauben, und zwar gegen „die Gottlosen,“ die als solche beschrieben sind, „welche die Gnade unseres Gottes in Ausschweifung verwandeln,“ gegen „die Gottlosen,“ welche leugnen – nicht den Vater und den Sohn, sondern den Herrn Jesus Christus. Bemerke: welche Jesus Christus leugnen – nicht als Heiland, sondern Jesus Christus als Herrn. Diese sind es, welche praktisch seine Autorität angreifen, „welche unseren alleinigen Herrscher und Herrn Jesus Christus verleugnen“, und jede Beschränkung verwerfen. Judas spricht nicht von Jesus als Heiland, sondern als Herrn. Es handelt sich hier um seine Regierung. In der Tat, wir sollten dies als ein gesundes und ernstes Wort begrüßen. Ist es nicht traurig, wenn ein Heiliger seine Gedanken, seine Zunge und seinen Wandel nicht beständig im Zaum hält? Wir dürfen nicht sagen, unsere Gedanken, unsere Lippen, unsere Hände, unsere Füße gehören uns selbst; sondern wir haben sie immer als unter der Herrschaft des Herrn zu betrachten. Der Brief des Judas versetzt einen jeden von uns auf einen heiligen Wachtturm – nicht, um gegen einen Geist zu wachen, welcher den köstlichen Geheimnissen Gottes widerspricht, (wie bei dem Petrus und Johannes) sondern um zu wachen gegen die Tendenzen des natürlichen Herzens, welches sich immer selbst zu befriedigen sucht. Der Geist Gottes ist wirksam – der Geist ist Leben – die Cherubim waren voller Augen, und die Heiligen sollten voll lebendiger, heiliger Tätigkeit sein. Wenn uns Petrus nach der einen Seite hinweist, um gegen die Formen und Handlungen des ungläubigen Geistes zu wachen, so zeigt uns Judas einen anderen Wachtturm, von welchem wir hinausschauen sollen, um gegen die genusssüchtigen und unreinen Wege zu wachen, welche dem ganzen moralischen Menschen Schaden tun – um zu wachen gegen den Geist, welcher die Herrschaft Jesu über die Glieder, die Gedanken, die Worte, die Taten und die Wege seines Volkes verwirft.
Weiter fährt der Apostel fort zu sagen: „Wehe ihnen! denn sie sind den Weg Kains gegangen, und haben sich für Lohn dem Irrtum Baalams überliefert, und sind in dem Widerspruch Korahs umgekommen“ (V 11). Dann bemerken wir, wie wunderbar reich das Buch Gottes an Unterweisung ist. Wir empfangen Belehrung über Tatsachen, die der himmlischen Geschichte entnommen sind. Der Geist in Judas gibt sie uns (V 6). Er leitet den Strom der göttlichen Geschichte vom Anfang hernieder; und Er sammelt diese verschiedenen Beispiele, um sie uns einzuprägen, um uns vor dem Zustand der moralischen Schlaffheit zu warnen. Und lasst uns dann beachten, wie Er die gottlosen Verächter der Herrschaft beschreibt. „Diese sind Flecken bei euren Liebesmahlen, mit euch Festessen haltend, sich selbst ohne Furcht weidend“ (V 12). Der Mangel dieser Furcht lässt uns diesen Zustand der moralischen Schlaffheit, von welcher ich spreche, erkennen.
O Geliebte! ich wünsche, dass dieses kleine, einfache Wort, welches wir hier betrachten, uns ermuntern möge, „die Lenden unseres Gemüts zu umgürten.“ Ist es möglich, zu denken, dass wir ein Recht haben, in irgend einer Sache unsere eigenen Wege einzuschlagen? Wir haben ein solches Recht nicht, wie auch irgendjemand gesagt hat: In dem Augenblick, wo du eine Sache tust, weil es dein eigener Wille ist, hast du gesündigt. Unseren eigenen Willen zu tun, weil es unser eigener Wille ist, ist das wahre Wesen der Empörung gegen Gott.
Hier, Geliebte, zeigt uns Judas die Gefahr, mit dem Gürtel, der um unsere Lenden sein sollte, es zu leicht zu nehmen. Wir werden aber sehr glücklich sein, und nie etwas verlieren, wenn wir unseren eigenen Willen dem Herrn Jesus übergeben. Ich habe kein Recht zu tun, was mir gefällt, ja, ich habe nicht einmal das Recht, einen Ausgang zu machen, weil es mir also gefällt. Der Herr möge nur Einsicht geben, und den Weg meiner Füße mit tausendfachen Gnaden bestreuen. In dem Augenblick aber, wo ich meinen eigenen Willen als Grund meiner Handlungen aufrichte, habe ich die Herrschaft verachtet“ – die Herrschaft Jesu. Dies ist die Kraft des Wortes in Judas.
Jetzt geht der Apostel zu der Prophezeiung des Henoch zurück. Was ist sie? Ist sie eine Prophezeiung von dem Herrn, welcher kommen wird, um jene heimzusuchen, welche unter der Macht des ungläubigen Geistes stehen? Nein, sondern um „Gericht wider alle auszuführen, und alle ihre Gottlosen, von all ihren Werken der Gottlosigkeit, in welchen sie gottlos getan haben, … völlig zu überführen“ (V 15) Der Ungöttlichkeit wegen wird also das Gericht bald hereinbrechen. Und sehen wir nicht, wenn wir unseren Blick auf das Christentum umherwerfen, ein Überhandnehmen der Ungöttlichkeit, welche groß und verwegen genug ist, das Gericht des Herrn herauszufordern? Doch lasst uns das Wort für uns selbst nehmen, ja, der Geist Gottes möge es in voller Kraft auf unser Gewissen anwenden. Ich bin versichert, dass wenn ich meinen eigenen Willen als Regel meiner Handlungen nehme, und also „die Herrschaft verachte,“ ich (in dem Grundsätze meines Geistes) auf dem Weg des Gerichts bin, von welchem Henoch prophezeit.
O Geliebte, möchten wir diese Ermahnungen willkommen heißen! Wünscht ihr, dass die Versammlung Gottes in ihrem Betragen und in ihren moralischen Wegen erschlaffe? Sollten wir uns nicht vor dem Kreuz – vor dem Zepter Jesu beugen? Ist Er der Heiland, so ist Er auch der Herr.
„Ihr aber, geliebte Brüder, erbaut euch auf euren allerheiligsten Glauben“ (V 20). Hier finden wir wieder denselben Gegenstand der Ermahnung. Die Heiligen werden ermahnt, „sich auf ihren allerheiligsten Glauben zu erbauen.“ Erhalte dich in der Liebe Gottes (V 21). Und was für eine Liebe meint diese Stelle? Es ist dieselbe Liebe, wovon in Johannes Kapitel 15 die Rede ist: „Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, gleich wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe, und in seiner Liebe bleibe“ (V 10). Es ist die wohlgefällige Liebe Christi. – Macht sie den Pfad eines Gläubigen gesetzlich? Gewiss nicht; sie allein bindet die Herzen an Jesus mit einem neuen Band; sie ist die frische und reine Quelle unserer Zuneigungen, deren Wünsche in Ihm allein befriedigt werden.
Dann heißt es weiter: „Die Anderen rettet mit Furcht, sie aus dem Feuer reißend, sogar das von dem Fleisch befleckte Kleid hassend“ (V 23). Spricht er hier von dem ungläubigen Geist? Nein, sondern er ermahnt uns, dass wir uns ernstlich hüten möchten, damit das vom „Fleisch befleckte Kleid“ uns nicht umgebe.
„Dem aber, der euch zu bewahren vermag ohne Anstoß,“ – nicht in der Wahrheit, sondern in der Heiligkeit der Wahrheit, denn er fügt hinzu: „und euch vor seiner Herrlichkeit tadellos mit Frohlocken darzustellen vermag, dem alleinigen Gott, unserem Heiland, durch Jesus Christus, unserem Herrn, sei Ehre und Majestät, Kraft und Gewalt, vor aller Zeit und jetzt, und in alle Zeitalter. Amen.“
Schließlich, ich wiederhole es, lasst uns dieses Wort der Warnung willkommen heißen; ja, der Herr gebe, dass es in den Ohren des ganzen Volkes Gottes wiederklinge! Lasst es uns wohl beherzigen, dass wir in einer Zeit der Leichtfertigkeit und des Sich–selbst–suchens leben. Das Christentum sucht sich mit tausendfachen Annehmlichkeiten zu befriedigen. Jede Stunde vervielfältigt die Gelegenheiten, um der selbstsüchtigen Natur Genüge zu leisten. Die „Gelüste des Geistes“ werden sehr genährt. Jegliche Art von Kunst und Arbeit ist berechtigt, zu dieser Selbstbefriedigung beizutragen. Und „die Gelüste des Fleisches“ sind alle hiermit verwandt. O möchten wir in der Mitte von diesem allen die Herrschaft unseres Jesus lieben! Lasst uns vor seinem Zepter uns beugen, und dasselbe mehr und mehr küssen. Und anstatt zu sagen: Dies gefällt mir, und das ist mein Wille; lasst uns bitten, dass Jesus in unseren Herzen herrsche. Möge Er der Herr einer jeden innerlichen Regung sein. Doch noch einmal lasst mich daran erinnern, dass es Jesus ist, der unser Herr sein soll – Er, welcher uns geliebt und sich selbst für uns gegeben, Er, der sein Volk errettet hat.
Und Ihm sollen wir dienen – nicht im Geist der Knechtschaft, oder durch bloße Beobachtung der religiösen Gebräuche und Satzungen, sondern – in dem Geist der Freiheit und der Liebe, in einem Geist, welcher Ihm zu jeder Zeit traut, und welcher alle Mängel und Fehltritte mit glücklicher Kühnheit durch Ihn an den Thron der Gnade bringen kann. O Geliebte, es würde für seine Liebe und Errettung ein armseliges Zurückkehren sein, wenn wir auf irgend eine Weise gegen Ihn und nicht ganz für Ihn sein würden; denn Er hat uns nicht gegeben „den Geist der Furcht, sondern der Liebe.“ Lasst uns deshalb wachen, damit Er durch einen freien und glücklichen Dienst während seiner Abwesenheit in uns verherrlicht werde, und damit wir, wenn Er kommen wird, uns zu sich zu nehmen, in Ihm verherrlicht sein möchten.