Botschafter des Heils in Christo 1855
Wir haben den Herrn gesehen (Johannes 20)
Meine geliebten Brüder! Es heißt in einer Stelle der Schrift: „Gott ist treu, durch den ihr berufen worden seid in die Gemeinschaft seines Sohnes Jesus Christus, unseres Herrn“ (1. Kor 1,9). Ich möchte euch alle auffordern, euch über den Gegenstand dieses „vollbrachten Werkes“ recht klar zu werden, um in dieser Beziehung in Frieden zu sein und dann weiter zu gehen, um den vielgeliebten Herrn immer besser kennen zu lernen, der dieses Werk für euch getan hat.
Betrachtet Römer 8 und andere ähnliche Teile der Schrift. Ihr seht darin, dass ihr zu „Söhnen und Töchtern“ des allmächtigen Gottes gemacht seid. Seid ihr, teure Brüder, wohl einmal stehen geblieben, glücklich über diesen Ausdruck: „Söhne Gottes“? Nicht Söhne sterblicher Menschen, sondern Söhne des heiligen, unveränderlichen, ewigen Gottes! Das ist zu groß, um durch das menschliche Herz begriffen zu werden. „Erben Gottes!“ Es ist nichts, was Gott besitzt, das nicht einen Teil unsers Erbteils ausmache. „ Miterben Christi!“ Wenn diese Wahrheiten vollständig unsere Herzen regierten, welche kostbaren Resultate würden wir daraus hervorgehen sehen! Wie würde die Welt für uns ein reines Nichts sein! Wir wünschen oft unsere Ansprüche und unsere Rechte durch die Menschen anerkannt zu sehen. Ach! wenn wir gleicherweise in dem Bewusstsein wandelten im Besitz dessen zu sein, welches unverwelklich ist, inmitten all der Dinge, die verwelken – die Wahrheit zu erkennen, wenn alles, was uns umgibt, nur Lüge ist!
Das in der Überschrift angeführte Kapitel redet nicht von dem Werk Christi, es sei denn andeutungsweise in der im 20. Vers berichteten Tatsache, dass der Herr Jesus seinen Jüngern seine Hände und seine Seite zeigte. Aber es enthält viel Köstliches über den Herrn und über die Art, wie die Zuneigung der Seinigen zu Ihm hingelenkt wird. Meine geliebten Brüder! Wenn ihr vorwärts schaut auf die Ankunft des Herrn Jesus Christus, was ist darin für euch die glänzendste und köstlichste Seite? Ist es nicht der Gedanke, ewig bei dem Lamm zu sein und Ihm zu folgen, wohin es geht?
In Johannes 16,16 lesen wir: „Eine kleine Zeit, und ihr schaut mich nicht mehr, und wieder eine kleine Zeit, und ihr werdet mich sehen, [weil ich zum Vater hingehe].“ Es ist sehr schwierig, das zu verstehen, dachten die Jünger. „Da sprachen sie: Was ist das für eine kleine Zeit, wovon er redet? Wir wissen nicht, was er sagt. Jesus erkannte, dass sie ihn fragen wollten, und sprach zu ihnen: Darüber fragt ihr euch untereinander, dass ich sagte: Eine kleine Zeit, und ihr schaut mich nicht, und wieder eine kleine Zeit, und ihr werdet mich sehen?“ (Joh 16,18.19). Der Herr sagt ihnen dann, was mit seinem Hingang zum Vater verbunden sei.
Geliebte! Es ist die Zeit jetzt da im Namen des Herrn Jesus zu beten, und zwar mit der Versicherung, durch den Herrn gehört und erhört zu werden. Es ist die Zeit eine Fülle von Freuden zu genießen, mit dem Herrn Jesus Gemeinschaft zu haben und Ihn wiederzusehen. Es ist hier nicht eine Frage, welche auf die Vergebung der Sünden Bezug hat. Wir erlangen die Vergebung der Sünden durch das Kreuz des Herrn Jesus, durch seinen Tod. Es ist mehr. Der Herr sagt: „Ich werde euch sehen.“ Die Erkenntnis der Vergebung Gottes durch die Besprengung des Blutes des Christus ist ohne Zweifel von großer Freude begleitet. Doch ist hier noch etwas mehr, es ist eine andere Freude, die uns gehört und die wir zu schätzen wissen sollen inmitten aller Unruhe und Angst. Es ist die Freude, die für uns aus der Verwirklichung der Gegenwart des Herrn entspringt.
Der Herr Jesus sagt in Johannes 14,18: „Ich werde euch nicht verwaist zurücklassen, ich komme zu euch.“ Der Herr ging, um die Welt für immer zu verlassen. „Noch eine kleine Zeit“, sagt Er, „und die Welt sieht mich nicht mehr“. Aber dann fügt Er, sich zu seinen Jüngern wendend, hinzu: „ihr aber seht mich.“
Wir dürfen schon hier immer mit Jesu und bei Ihm sein, wie wir es während der Ewigkeit sein werden. „Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt; wer aber mich liebt, wird von meinem Vater geliebt werden; und ich werde ihn lieben und mich selbst ihm offenbaren“ (Joh 14,21). Ich habe, meine Brüder, nicht nötig hinzuzufügen, dass diese Worte uns auch jetzt durch den Heiligen Geist zugerufen werden und dass sie ebenso wahrhaftig für uns sind als für die Jünger, die sie hörten. „Judas, nicht der Iskariot, spricht zu ihm: Herr, und was ist geschehen, dass du dich selbst uns offenbaren willst und nicht der Welt? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen“ (Joh 14,22.23). Das Herz des Menschen kann niemals befriedigt sein – es ist in ihm eine Leere, die nicht ausgefüllt werden kann – durch irgendetwas, es sei denn durch die Gegenwart des Herrn Jesus. Betrachtet die geheimnisvollen Offenbarungen des Herrn an seine Brüder während der vierzig Tage, die seiner Himmelfahrt vorangingen. Sie waren sehr verschieden und, wie ich glaube, dazu bestimmt, die verschiedenen Wege zu beschreiben, auf denen Er sich während seiner Abwesenheit offenbaren würde, nach den verschiedenen Bedürfnissen seiner Erkauften. So war in unserem Kapitel 20 die Lage der Maria eine andere (Joh 20,14), eine andere war die der Jünger hinter den verschlossenen Türen (Joh 20,19) und eine andere war die des Thomas (Joh 20,26–28), aber der Herr entspricht durch seine Gegenwart jedem in diesen Lagen und macht sie alle durch diese Gegenwart glücklich.
Es ist ungemein köstlich, Geliebte, zu wissen, dass der Herr mit uns ist, sodass wir das Wort verwirklichen könnten: „Eure Freude nimmt niemand von euch“ (Joh 16,22).
Der Herr war von seinen Jüngern hinweggenommen worden. Maria weint bei dem Grab Jesu. Die zwei Jünger wanderten ganz traurig nach Emmaus. Alle ihre Gedanken drehten sich um diesen einen Punkt: Der Herr ist gestorben. Ihre Herzen waren innig mit Ihm verbunden, ihre Schicksale hingen von Ihm ab. Sie waren durch seine Gnade gezogen worden, sie erkannten Ihn als den Sohn Gottes. Alles, was sie hofften, alles, was sie erwarteten, sie hofften und erwarteten es von Ihm, durch Ihn und mit Ihm. Sie hatten alles verloren, ihre Herzen waren gebrochen, vollständig entmutigt. Derjenige, der ihre Freude, ihre Hoffnung und ihr Alles war, war tot! Der große Festtag zu Jerusalem war über dem Grab Jesu vorüber gegangen. Welches Bild einer Religion ohne Leben! „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, dass ihr weinen und wehklagen werdet, aber die Welt wird sich freuen.“
Als die „kleine Zeit“ verflossen ist, wird „ihr Schmerz in Freude verwandelt“. Er kommt wieder, um ewig bei ihnen zu sein. Wenn ihr euch an die Stelle der Jünger versetzen, wenn ihr den Schmerz, den ihnen der Verlust ihres Meisters verursachte und dann die Freude, die ihnen aus seiner Rückkehr erwuchs, teilen könntet, so würdet ihr, geliebte Brüder, verstehen, was ohne Unterbrechung unsere Freude sein würde bei dem Gedanken und in dem Bewusstsein, dass wir denselben Herrn Jesus als unseren ewigen Gefährten besitzen sollen. Ihr könnt Trübsale aller Art haben, aber immer gilt das Wort: „Ich werde euch nicht verwaist zurücklassen, ich komme zu euch.“
Und dann vergesst es nicht, meine Brüder: Außer diesem köstlichen Glauben, den ihr an die Gegenwart und Innewohnung des Geistes in euch persönlich habt, ist es eine andere nicht minder wichtige Wahrheit, dass der Heilige Geist mitten unter euch wohnt, wenn ihr versammelt seid nach dem Wort: „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte“ (Mt 18,20). Wenn wir in dieser Weise versammelt sind, so sind wir also ermutigt, den Herrn mitten unter uns zu erwarten. Wenn wir einer Auslegung dieser Stelle bedürften, so würden wir sie hier finden. Was veranlasste die Jünger sich zu versammeln? Das Gefühl ihres gemeinsamen Verlustes, aber auch ihre gemeinsame Liebe zum Herrn Jesus. Sie hatten den verloren, den sie liebten und sie kamen zusammen, um sich über Ihn zu unterhalten. Ob sie die Hoffnung hatten, Ihn wirklich auferstanden zu sehen oder nicht, es war immer der Name des Herrn Jesus, der sie zusammenführte.
Aber ach! es ist nur zu wahr, dass wir den Heiligen Geist betrüben können.
Wenn es gewiss ist, dass der Herr in der Mitte ist, und wenn wir uns in der Hoffnung versammeln, seine Gegenwart zu genießen, so werden wir immer, wenn wir, durchdrungen von dem Bewusstsein dieser Gegenwart, auseinander gehen, sagen können: „Wir haben den Herrn gesehen“ und dies Bewusstsein ist es auch allein, was stets unsere Herzen tröstet und mit tiefer Freude erfüllt.
Was erwartete Maria? Unter viel Unwissenheit und Dunkelheit war doch ihr Herr der Gegenstand ihres Suchens und ihrer Liebe. Sie hätte Ihn lieber tot als gar nicht gefunden. Sie weint beim Grab, obschon sie nicht mehr in Zweifel über die Vergebung ihrer Sünden ist. Wenn ihr nicht durch Erfahrung die Gegenwart des Herrn kennt, so weinet! Ihr habt Ursache dazu, weil eure Seelen einer beständigen Gemeinschaft mit dem Herrn Jesus noch fremd sind. Diese Tränen haben nichts mit der Vergebung der Sünden zu tun.
Kennt ihr, meine Brüder, die Gegenwart des Herrn in euren Versammlungen? Kennt ihr diese Gegenwart, wenn ihr zu Zweien zusammen kommt? Kennt ihr sie überhaupt in der Verborgenheit eures Herzens und eures Kämmerleins? Mag es euer Unglaube, euer Stolz oder was sonst sein, was es verhindert: O, ihr habt wohl Ursache euer Herz mit Tränen vor dem Herrn auszuschütten. „Ihr seid abgewaschen, aber ihr seid geheiligt, aber ihr seid gerechtfertigt worden“, aber wenn ihr nicht das genießt, was einem begnadigten Sünder zukommt, nämlich die Gegenwart des Herrn Jesus, wovon das Herz das Bewusstsein hat, so weinet, o weinet! Ihr habt Ursache dazu.
Wenn ihr euch versammelt, ohne nachher zu denen, die vor der Tür oder zu Hause bleiben, zu denen, die wie Thomas abwesend sind, oder zu denen, die sich nicht mit ihren Brüdern versammeln wollen, sagen zu können: „Wir haben den Herrn gesehen“, so weinet! Ihr habt Ursache dazu. Und ebenso würde es in unseren besonderen Verhältnissen und in unserer Einsamkeit sein. Wir dürfen immer erfahren, dass der Geist uns den Christus offenbart, dass Er Ihm zur Freude unserer Herzen die Tür öffnet und dass Er uns ebenso das Bekenntnis in den Mund legt: „Wir haben den Herrn gesehen.“
Teure Brüder! Sollten die Worte des Herrn ohne Wirklichkeit und ohne Leben sein: „Ich werde euch nicht verwaist zurücklassen, ich komme zu euch.“ – „Wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen.“ Wenn man euch fragte: „Was ist es denn, was euch eure Versammlungen anderen vorziehen lässt?“ Ihr werdet immer antworten können: „Der Herr ist unter uns, wir fühlen seine Gegenwart, sodass unsere Traurigkeit in Freude verwandelt wird.“
Möge Er euch die Gnade schenken, diesen Gegenstand ernstlich zu betrachten, um durch Erfahrung diese Verheißung zu kennen, die jetzt, während der Herr Jesus zur Rechten Gottes ist, und bis zu dem gesegneten Augenblick, wo wir Ihn von Angesicht zu Angesicht in der Herrlichkeit sehen werden, verwirklicht werden wird.