Botschafter des Heils in Christo 1853
Aus dem innern Lebensgang eines Gläubigen
Es ist jetzt schon eine Reihe von Jahren her, als ich zuerst auf den Zustand meiner Seele aufmerksam wurde. Bis dahin hatte ich nie so viel Zeit genommen, um einmal mit Ruhe darüber nachzudenken. Es genügte mir, dass ich vor den Augen der Welt unsträflich war. Jetzt aber erkannte ich, dass der heilige und gerechte Gott bald mein Richter sein würde, und wie wollte ich dann bestehen? Ich nahm mir nun vor, gewisse Sünden, die mir besonders offenbar geworden waren, zu lassen und viel Gutes zu tun. Ich bemühte mich in meinem Vornehmen, aber die Gerechtigkeit Gottes trat mir immer deutlicher entgegen. „… damit die Sünde überaus sündig würde durch das Gebot“ (Röm 7,13) und selbst das vermeintliche Gute sank vor der Majestät Gottes in den Staub. Ich arbeitete sehr und betete viel; doch ich lernte nur, dass „das Gesetz geistlich ist, ich aber fleischlich, unter die Sünde verkauft“ bin (Röm 7,14). Ich erkannte das Gute an, war eifrig bemüht, dasselbe zu tun, aber alles wurde durch die Sünde befleckt. Ich blieb nach allen Seiten ein Knecht der Sünde und lag unter deren Herrschaft gefangen. Dieser Zustand dauerte eine lange Zeit und ich suchte vergebens alle Mittel zu meiner Erlösung auf, bis ich endlich den rechten Erlöser fand. Ich kannte Ihn bis dahin nicht und dennoch sehnte ich mich unbewusst nach Ihm. Ich hungerte und dürstete nach seiner Gerechtigkeit. Es war der Zug des Vaters zum Sohne. Es wurde mir auch bald das Herz aufgetan und ich glaubte an seinen Namen. Ich erkannte in Wahrheit, dass das Lamm Gottes auf Golgatha alles bezahlt, mich erlöst und mit Gott versöhnt hatte. Meine Sünden waren mir vergeben, weil Jesus die Schuld bezahlt hat. Von ihrem Dienst war ich befreit, weil der Sohn Gottes mich freigemacht hatte. Die Not war verschwunden und stiller Friede wohnte in meinem Herzen. Ich lebte in der innigsten Gemeinschaft mit meinem Herrn und ging unter stetem Gebet einher. Er war nun meine Gerechtigkeit, Weisheit, Heiligung und Erlösung geworden (vgl. 1. Kor 1,30). In Ihm wohnte ja die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig (Kol 2,9). In Ihm lag meine Kraft, mein Sieg über Welt, Sünde, Tod und Teufel. Ihn zu lieben, mich selbst zum Opfer Ihm darzubringen, vor Ihm in kindlicher Einfalt zu wandeln, war meine Lust und Freude. Dieser Zustand dauerte viele Monate.
Mein Herz war noch unbefestigt; ich kannte nicht die geheimen Schlingen des Satans, der sich sogar als „Engel des Lichts“ verstellt (2. Kor 11,1), um uns das Ziel zu verrücken. Ein väterlicher Freund und Führer in christlichen Dingen fehlte mir. Mein Umgang mit anderen Brüdern war unbedeutend, weil in meiner nächsten Umgebung keine wohnten. Traf ich aber hier und da mit einigen zusammen, die schon länger auf diesem Wege waren, so freute ich mich; doch konnte ich es anfangs nicht begreifen, wenn jene Brüder klagten, wie sie so sehr unter der Last gewisser Sünden lägen; wenn ich sähe, wie sie oft noch so im Kleinem mit der Welt buhlten und sich so gern mit den Dingen dieser Welt beschäftigten. Meine Kraft wider alle Sünde und Unreinigkeit, meine Lust und Freude war Jesus allein. Alles Andere war mir fremd geworden. Wenn ich nun oft den Missmut, die Unruhe und Verzagtheit der Brüder mit meinem Frieden verglich, so glaubte ich, sie müssten nicht so entschieden zum Glauben gekommen sein. Versicherten sie mir aber dann, dass ich in der „ersten Liebe“ stehe, worin auch sie einst gestanden, dass dies jedoch hauptsächlich ein Gefühlschristentum sei, worin man sich noch nicht recht kenne, und das müsse man nachher noch erfahren, dass alles Sünde sei, was man tue und lasse, selbst Beten und Singen, Loben und Danken, Reden und Schweigen, alles würde durch Sünde befleckt. Die Brüder vergaßen den Unterschied zu machen, zwischen den natürlichen Menschen, der sein Leben nur in sich sucht und hat, und einem Gläubigen, der in Christo lebt und nur dessen Gerechtigkeit will. Ich fing an, über ihre Reden nachzudenken; ich konnte bald meinem Glauben so recht nicht mehr trauen, und nicht lange dauerte es, da verließ ich meine sichere und feste Burg in Christo Jesu und kehrte mehr oder weniger in die so entschieden verlassene frühere Gemeinschaft zurück. Mein gläubiges Aufsehen auf Jesum verwandelte sich in ein ungläubiges Herabsehen auf mich selbst und auf die Welt. Mein Gewissen war dabei sehr unruhig und nur das tröstete mich, dass ich jetzt Erfahrungen machte wie andere Brüder, dass jene sich mit mir freuten, wenn ich von der furchtbaren Last und Kraft der Sünde und von der Ohnmacht des Fleisches sprach. Beides wusste ich aber schon, ehe ich zum Glauben an Christo Jesu kam. Das Ziel ward mir also verrückt, und zwar durch die Unwissenheit der Brüder, die selbst nicht anders gelehrt waren; darum verüble ich ihnen das in keinen Augenblick.
Eine neue Periode in meinem Lebensgang hatte jetzt begonnen. In meinem Innern lag viel Unruhe und Kampf, mancherlei Sünden, besonders solche, unter denen ich früher gelegen, drängten mit Macht auf mich ein. Ich suchte eine Zeitlang zu widerstehen, aber bald unterlag ich. Meine Waffen waren fleischlich und nicht geistlich. Ich kämpfte nicht in der Waffenrüstung Gottes (vgl. Eph 6,10–18), hatte nicht den Brustharnisch der Gerechtigkeit und den Helm des Heils angelegt, hatte nicht den Schild des Glaubens und das Schwert des Geistes ergriffen, darum unterlag ich trotz allem Bitten und Flehen. Nur in dem Herrn Jesus sind wir stark, außer Ihm ohnmächtig und nur in Ihm werden unsere Gebete erhört. So wie ich nun wieder unter der Gewalt und Herrschaft der Sünde lag, kam ich auch wieder unter den Fluch und das verdammende Gesetz. Als ich nun sah, dass all mein Arbeiten, Kämpfen und Beten, womit ich es so ernstlich meinte, vergeblich war, kam ich der Verzweiflung nahe. Eine lange Zeit gab ich alles auf und ging mit dem sicheren Bewusstsein einher, dass ich nur verloren gehen könne, dass ich trotz all meiner Erkenntnis für die Verdammnis bestimmt sei. Ach, es war nur das unergründliche Erbarmen Gottes, was mich in jener Zeit und auch später noch weiter gehalten hat. Welchen Einfluss andere in diesen Jahren auf mich gehabt haben, will ich unerwähnt lassen. Es entschuldigt mich nicht, denn ich hatte Gottes Wort, hatte Zeit und Gelegenheit darin zu forschen und wusste auch, dass uns darin der göttliche Ratschluss und Willen offenbart war. Allein die Nüchternheit, der Ernst und die Einfalt dieses Wortes sprachen mich nicht sehr an. Was mich zunächst beruhigte, war, dass viele alte Christen ähnliche Erfahrungen von der Gewalt und dem Betrug der Sünde machten. Ich glaubte, dass eine innere tiefere Sünden- und Selbsterkenntnis die alleinige Aufgabe und das Ziel eines Christen sei, damit er am Ende zu der gewissen Überzeugung komme, dass er nur aus Gnaden selig werden könne. Mehrere Ausdrücke und Redensarten, die sich schon lange unter den Gläubigen eingebürgert hatten, wurden auch bei mir in dieser Zeit das geheime Mittel, um das anklagende Gewissen zu, beruhigen und den mahnenden und strafenden Geist zu dämpfen. Da hieß es unter dem Joch der Sünde: „Der Mensch ist hier in der Warteschule und muss jeden Tag Buße tun. Ich kann nichts; ich kann mir keinen Glauben geben; wenn mir aber der Herr Glauben schenkt, will ich glauben. Ich will vom Tun nichts wissen; Christus hat alles getan; an Ihm soll man meine Frucht sehen. Man muss sich selbst kennen lernen, muss immer kleiner werden. Der neue Mensch tut keine Sünde, der alte Mensch sündigt immer. Der Apostel selbst sagt: ‚Ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft. Denn nicht das Gute, das ich will, übe ich aus, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meines Sinnes widerstreitet und mich in Gefangenschaft bringt unter das Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist' (Röm 7,14.19.23). Dem Apostel wurde ja auch „ein Dorn für das Fleisch“ gegeben (2. Kor 12,7) und er bekennt: ‚Täglich sterbe ich' (1. Kor 15,31) und ‚nicht, dass ich es schon ergriffen hätte, oder schon vollkommen (vollendet) sei' (Phil 3,12). ‚Denn das Fleisch begehrt gegen den Geist, der Geist aber gegen das Fleisch; denn diese sind einander entgegengesetzt, damit ihr nicht das tut, was ihr wollt' (Gal 5,17). Wer einmal erwählt ist, kann nicht verloren gehen. Alle Heiligen sind große Sünder gewesen. ‚Der Gerechte fällt siebenmal' (Spr 24,16).“ Mit diesen und noch vielen anderen Ausdrücken wusste ich mein selbstgemachtes System zu verteidigen und war auch sehr geschickt, die Worte der Heiligen Schrift so lange zu drehen und zu wenden und so zu vergeistigen, bis sie zu meinen Erfahrungen passten. O der treue Herr hat große Geduld und Langmut an mir bewiesen und meine Unwissenheit eine lange Zeit übersehen.
Ehe ich in meinen Erlebnissen weiter fortfahre, will ich etwas näher auf die oben erwähnten Ausdrücke eingehen und mit wenigen Worten darlegen, wie ich sie später nach anhaltendem Gebet und Forschen in der Heiligen Schrift erkannt habe.
Es ist wahr, wir sind hier wirklich in der Warteschule; es geht durch viel Trübsal ins Reich Gottes und ausharrende Geduld ist nötig, damit die Bewährung unseres Glaubens „viel kostbarer als die des Goldes, das vergeht, aber durch Feuer erprobt wird, befunden werde zu Lob und Herrlichkeit und Ehre in der Offenbarung Jesu Christi“ (1. Pet 1,7). Doch von dem, der unter der Sünde liegt, heißt es nicht: Warte noch; bleib noch ein wenig liegen; sondern: „Heute, wenn du seine Stimme hörst, verhärte dein Herz nicht“ (Heb 4,7) und „Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den Toten, und der Christus wird dir leuchten!“ (Eph 5,14).
Unter dem Wort Buße versteht die heilige Schrift nicht das katholische Büßen, eine Schuld über seine Sünden selbst abtragen, auch nicht durch Schmerz und Reue. Jesus allein hat unsere Schuld gebüßt. „Tut Buße!“ ist die einfache Aufforderung Gottes an jeden Menschen und das heißt: Ändere deinen Sinn! Bekehre dich! Diese Sinnesänderung und Bekehrung ist bei einem jeden wahrhaft wiedergeborenen Menschen geschehen; er hat seine frühere Gemeinschaft in jeder Beziehung verlassen und lebt nun ganz in der Gemeinschaft Jesu Christi; wozu er auch berufen ist. – Der alte Mensch ist zu allem Guten untüchtig; er kann nichts. Das ist das Bekenntnis eines jeden Gläubigen. Dies muss er wahrhaftig erkannt haben, ehe er seine Hoffnung auf den lebendigen Gott setzt.
Als Kind des Glaubens hat er auf sich verzichtet. Wollte aber jemand dieses „nichts können“ auch auf den von Gott in ihm gewirkten Glauben ausdehnen, so würde er damit beweisen, dass er das Wesen des Glaubens nicht verstehe. „Denn alles, was aus Gott geboren ist, überwindet die Welt; und dies ist der Sieg, der die Welt überwunden hat: unser Glaube“ (1. Joh 5,4). „Aber in diesem allen sind wir mehr als Überwinder durch den, der uns geliebt hat“ (Röm 8,37). Wir können uns diesen Glauben selber nicht geben, darum hat ihn Gott in uns gewirkt. „Denn durch die Gnade seid ihr errettet, mittels des Glaubens; und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es“ (Eph 2,8). Wir sollten, wie Paulus, zum Glaubensgehorsam ein Zeugnis für unseren Herrn hier auf der Erde sein zur Verherrlichung seines Namens (vgl. Röm 1,5). Wo aber kein Glaube ist, da ist Unglaube; da stehen wir nicht in der Gemeinschaft mit Christus, sondern mit dem Sichtbaren. Wo sich dieser Glaube nicht im Leben zeigt, wo er die Gesinnung Jesu Christi nicht zeigt, ist er eitel und tot. Wir werden überall zum Glauben aufgefordert und ermahnt, aber nirgends steht, dass er uns für eine Zeitlang entzogen werden soll. Gott ist es aber der uns so ernstlich ermahnen lässt.
Weiter: Ich will vom Tun nichts wissen; Christus hat alles getan; an Ihm soll ich meine Frucht sehen. Wir unterscheiden zu wenig, was wir bisher waren und was wir in Jesus Christus geworden sind. Früher Knechte der Sünde und jetzt Knechte der Gerechtigkeit; früher Verfluchte unter die Sünde Verkaufte, Feinde Gottes; jetzt befreite, versöhnte und erlöste Kinder Gottes; früher tot in Sünden und Übertretungen, jetzt lebendig gemacht durch die Auferstehung Jesu Christi. Als Gläubige dürfen wir bekennen, dass wir mit Christus gestorben, begraben und auferstanden sind und jetzt in Neuheit des Lebens wandeln (Röm 6,4.8). „So auch ihr, haltet dafür, dass ihr der Sünde tot seid, Gott aber lebend in Christus Jesus“ (Röm 6,11). Wir sollen Gutes tun und nicht müde werden; wir sind geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken (Eph 2,10), und sollen reich daran sein (1. Tim 6,18). Dazu werden wir im ganzen Evangelium ermahnt; denn das ist die Liebe zu Gott, dass wir seine Gebote halten „und seine Gebote sind nicht schwer“ (1. Joh 5,3). In Jesus Christus wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig (Kol 2,9). Er ist uns zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung gebracht (vgl. 1. Kor 1,30); und darum eben, weil wir in Ihm alles haben, weil Er unser Leben ist, weil Er in uns wohnt, leben wir Gott. Er ist in uns und wir in Ihm, darum sollen seine Wesenszüge, die Frucht seiner Liebe und Gnade sich auch durch uns offenbaren, denn dadurch wird der Vater geehrt, dass wir viel Frucht bringen (Joh 15,8).
Man muss sich immer mehr kennen lernen und immer kleiner werden. Wer sich als verlorener Sünder in Wahrheit erkannt hat, gibt sich ganz auf und ergreift Jesus Christus im lebendigen Glauben. So lange er Ihn festhält, bekennt er, dass er außer Ihm kein Heil zu finden weiß und unsere Aufgabe, ja unser steter Kampf ist, in diesem Glauben fest zu stehen. Bemerken wir neue Bosheiten und Listen des Satans, der Welt und unseres natürlichen Lebens, so ermahnt uns dies um so viel mehr zum Wachen und Beten. Wer auf sich selbst verzichtet hat, der hat sich kennen gelernt, der hält sich für gering, ja für nichts. Das Leben in Christo befestigt ihn in dieser Erkenntnis. Man glaubt oft, dass man in der Selbsterkenntnis und in dem „kleiner werden“ Fortschritte macht, während man doch nicht einmal dahin kommt, sich ganz aufzugeben und sich für nichts mehr zu achten, wozu wir doch ermahnt sind, und lernt also das köstliche Werk der Erlösung in Jesus Christus nie recht verstehen. –
Der neue Mensch sündigt nicht; der alte kann nicht anders. Der alte und neue Mensch werden auch in der Heiligen Schrift streng geschieden. Sie haben keine Gemeinschaft miteinander. Bei dem wahrhaft Gläubigen lebte der alte Mensch früher, der neue jetzt. Der alte Mensch ist mit Christus gekreuzigt (Gal 2,19). „Da wir dieses wissen, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt worden ist, damit der Leib der Sünde abgetan sei, dass wir der Sünde nicht mehr dienen“ (Röm 6,6). Wo der neue Mensch lebt, muss jener abgelegt sein; wo aber bald dieser, bald jener lebt und regiert, da ist ein krankhafter Zustand, da ist der Glaube schwach und die Erkenntnis Jesu Christi und seines Erlösungswerkes gering. Wer sich aber von dem Satan, der Welt und der Sünde, von seinem früheren Leben und der Gemeinschaft, der er jetzt abgestorben und mit Christus entschieden gegenüber steht, überrumpeln lässt, soll sich dadurch zu größerem Ernst und Anhalten im Wachen und Beten ermahnen lassen. „Meine Kinder, ich schreibe euch dies, damit ihr nicht sündigt; und wenn jemand gesündigt hat – wir haben einen Sachwalter bei dem Vater, Jesus Christus, den Gerechten“ (1. Joh 2,1). In Röm 7,14. heißt es: „Ich bin fleischlich, unter die Sünde verkauft“, in Röm 8,8.9: „Die aber, die im Fleisch sind, vermögen Gott nicht zu gefallen. Ihr aber seid nicht im Fleisch, sondern im Geist, wenn nämlich Gottes Geist in euch wohnt. Wenn aber jemand Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein“. – Hatte Gott keinen Gefallen an Paulus? Hatte dieser den Geist Gottes nicht? War er nicht sein? In Röm 7,15.19 lesen wir: „Denn nicht das Gute, das ich will, übe ich aus, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich“. In Röm 6,2.12.14 steht: „Wir, die wir der Sünde gestorben sind, wie sollten wir noch darin leben? Also herrsche nicht die Sünde in eurem sterblichen Leib, um seinen Begierden zu gehorchen. Denn die Sünde wird nicht über euch herrschen, denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade“. Predigte der Apostel anderen und war selbst fehlbar? „Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meines Sinnes widerstreitet und mich in Gefangenschaft bringt unter das Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist“ (Röm 7,23). „Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus hat mich freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes“ (Röm 8,2).“ Gott aber sei Dank, dass ihr Sklaven der Sünde wart, aber von Herzen gehorsam geworden seid dem Bild der Lehre, dem ihr übergeben worden seid! Freigemacht aber von der Sünde, seid ihr Sklaven der Gerechtigkeit geworden“ (Röm 6,17.18). „Jetzt aber sind wir von dem Gesetz losgemacht, da wir dem gestorben sind, in dem wir festgehalten wurden, so dass wir in dem Neuen des Geistes dienen und nicht in dem Alten des Buchstabens“ (Röm 7,6). Sobald man in Nüchternheit und ohne Vorurteil die drei angeführten Kapitel prüft, so wird man finden, dass der Apostel im siebten Kapitel durchschnittlich nur von dem Menschen gegenüber dem göttlichen Gesetz redet und nicht von sich oder überhaupt von einem wahrhaft Gläubigen.
Mit dem „Dorn für das Fleisch“ in 2. Korinther 12,7 des Apostels Paulus habe ich mich oft getröstet, und dachte, es müsse damit wohl die Sünde gemeint sein, unter welcher ich am meisten seufzte. Es fiel mir aber nicht einmal ein, dass ich zu dieser Erklärung gar keinen Grund in der Schrift hatte, um so weniger da mir so hohe, außerordentliche Offenbarungen nicht gegeben worden waren, deren ich mich überheben konnte. Ich dachte auch nicht daran, dass so viele Menschen ihre Hauptsünden mit diesem Dorn entschuldigten, aber so viel weiß ich jetzt, dass alle Worte des Apostels keinen Raum geben für die Auffassung dieser Stelle, als habe er unter irgend einer Sünde noch gefangen gelegen.
Das Wörtchen: „Täglich sterbe ich“ (1. Kor 15,31) was ich so oft verkehrt anwandte und vergeistigte, hat beim genauem Durchlesen keinen anderen Sinn, als wie es in Römer 8,36 ausgedrückt ist: „Deinetwegen werden wir getötet den ganzen Tag; wie Schlachtschafe sind wir gerechnet worden“.
Im Philipper 3,12 und 13, wo der Apostel bekennt, dass er es noch nicht ergriffen habe oder schon vollkommen (vollendet) sei, müssen wir vor allen Dingen wissen, was er denn zu ergreifen suchte. Dies drückt der Apostel in den Versen 11 und 14 aus: „Ob ich auf irgendeine Weise hingelangen möge zur Auferstehung aus den Toten“ und: „jage ich, das Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus“. An der „ersten Auferstehung“ (vgl. Off 20,6), an der Auferstehung der Gerechten, wünscht der Apostel Teil zu haben, deswegen ist er auch von Christo ergriffen. Das ist das Ziel seiner Wünsche und Hoffnungen; der Kampfpreis seiner Berufung, die Krone der Gerechtigkeit; den Lohn seiner Mühe und Arbeit; an dem Tag verwandelt sich der kämpfende Glaube in ein seliges Schauen. Dies Ziel hat er noch nicht erreicht, den Lauf bis dahin noch nicht vollendet; aber er arbeitet mit allem Ernst, es zu erreichen; er vergisst Alles und wirft Alles von sich, um nur dahin zu gelangen; er gibt sich ganz ihm hin und ermahnt auch die Philipper zu gleichem Ernst mit den Worten: „So viele nun vollkommen sind, lasst uns so gesinnt sein“ (Phil 3,15).
Was nun die Stelle betrifft, die der Apostel an die Galater, die zum Teil Christum verloren hatten und von der Gnade abgefallen waren, schreibt: „Denn das Fleisch begehrt gegen den Geist, der Geist aber gegen das Fleisch; denn diese sind einander entgegengesetzt, damit ihr nicht das tut, was ihr wollt“ (Gal 5,17), so braucht man zur rechten Anwendung und Auffassung nur Vers 16 und 18 zu lesen: „Ich sage aber: Wandelt im Geist, und ihr werdet die Lust des Fleisches nicht vollbringen. Wenn ihr aber durch den Geist geleitet werdet, so seid ihr nicht unter Gesetz“. Wer in Christus lebt, ist frei; wer ohne Ihn kämpft, bleibt gefangen und ein Knecht der Sünde. –
Die „Auserwählung in Ihm vor Grundlegung der Welt“ (Eph 1,4) ist eine Wahrheit, die niemand antasten darf. Wenn wir sie recht verstehen, so beugt sie uns in den Staub und drängt uns zur Ehre und Anbetung unseres Gottes; aber nie darf sie zu einem Ruhekissen unseres Fleisches werden; und uns taub gegen alle Ermahnungen des Geistes machen.
Alle Heiligen sind große Sünder gewesen. Das ist wahr; sie sind nur als Gottlose gerecht worden. Es ist auch wahr, dass einige Männer Gottes tief gefallen sind. Lesen wir aber solche Mitteilungen in der rechten Weise, so bemerken wir überall die große Barmherzigkeit und den Ernst Gottes. Solches ist uns zum Trost und zur Warnung geschrieben; aber sehr oft habe ich mich leichtsinniger Weise dadurch beruhigt und meine Sünden entschuldigt. Wenn wir aber, indem wir in Christus gerechtfertigt zu werden suchen, auch selbst als Sünder befunden worden sind – ist also Christus ein Diener der Sünde? Das sei ferne!“ (Gal 2,17). Diese Worte sind wohl zu beherzigen.
Der Spruch Salomos: „Der Gerechte fällt täglich siebenmal“, hat mir auch oft einen falschen Trost bereitet, bis ich endlich diese Stelle einmal selbst las; sie heißt: „Denn der Gerechte fällt siebenmal und steht wieder auf, aber die Gottlosen stürzen nieder im Unglück“ (Spr 24,26). Da fand ich dann, dass da nicht vom Sündigen, sondern vom Unglück die Rede war und dass das Wörtchen täglich gar nicht da stand. –
Jetzt will ich zu der Mitteilung meiner weiteren Erfahrungen wieder zurückkehren.
Es verflossen mehrere Jahre und es fiel mir nicht einmal ein zu denken, dass ich in meinem Glauben nicht recht gesund und fest stände. Ich hatte einen tiefen Blick in mein Verderben getan und täglich bemerkte ich neue Seiten der Bosheit in meinem Herzen. Ich wusste, dass allein in dem Herrn Jesus Heil und außer Ihm nur Sünde und Ohnmacht war. Wenn ich oft, niedergeworfen durch Betrug und Macht der Sünde, meine selbstgemachten und von anderen gehörten Trostgründe nicht mehr haften wollten, so warf ich mich zu den Füßen meines Herrn, und trotz meines unwürdigen Wandels vor Ihm, hat er seine Gnade nicht von mir genommen. Ich preise jetzt seine große Liebe und Geduld, welche die Zeit meiner Unwissenheit übersehen hat; die Zeit, wo ich so wenig mit Ernst in seinem uns offenbarten Wort forschte, wo ich so oft seinen Geist betrübte und dessen Ermahnungen kein Gehör gab. Was mir zunächst die Augen öffnete, waren die Worte: „Du hast noch nicht mit der Sünde in Wahrheit gebrochen; du hast dich noch nicht selbst aufgegeben“. Das schrieb der Geist tief in mein Herz, so dass es mich immer verfolgte. Ich fühlte, welch einen Hass ich gegen die Sünde und mich selbst hatte, welch furchtbare Kämpfe ich durchgemacht und nun sollte ich noch nicht gebrochen und mich noch nicht selbst aufgegeben haben? Ich will hier nicht weiter darauf eingehen, in welch ein Meer von Anklagen und Entschuldigungen ich geriet. Nun will ich das Resultat meiner Betrachtungen und Gebete in wenigen Worten mitteilen. Ich entdeckte bei allem Kampf gegen die Sünde doch noch eine verborgene Lust zu derselben und eine geheime Liebe zu ihrer Gemeinschaft. Ich sprach von meiner Verderbtheit und Ohnmacht des Fleisches, ich wusste dies bei andern Menschen, besonders wenn diese so etwas gern zu ihrem eigenen Trost hörten, ins grellste Licht zu stellen und dennoch war ich nicht bereit, mich selbst zu verleugnen und von mir abzulassen. Ich erkannte, dass die Welt verging mit all ihrer Lust (1. Joh 2,17), und dennoch wollte ich nicht allem entsagen und alles verlassen, woran das Herz von Natur gehangen hat. Ich bekannte, dass in dem Herrn Jesus die Reinigung, die Kraft und der Sieg gegen alle Unreinigkeit und alle Feinde liege, und doch hatte ich nicht Lust, durch Glauben und Geduld in seiner Gemeinschaft festzuhalten. Diese und ähnliche Wahrheiten waren mir auch früher oft durch den Geist gezeigt worden, aber immer wieder hatte ich sie durch allerlei Scheingründe, wie die oben angeführten, zu dämpfen versucht, wozu ich auch ein volles Recht zu haben glaubte. Doch jetzt konnte ich dies nicht mehr, denn ich erkannte, dass ich zu teuer erkauft war. Ich fing an, fleißig in der Schrift zu forschen. Lange konnte ich über das sechste und achte Kapitel des Römerbriefes nicht hinwegkommen. Ich las sie immer wieder und unter viel Gebet. Meine Vorurteile schwanden nach und nach und dieser Abschnitt war es, der großes Licht auf mein bisheriges geistliches Leben verbreitete. Ich suchte und forschte dann immer weiter und am längsten verweilte ich bei dem 1. Johannesbrief. Es war mir in diesem Brief alles so neu und fremd, dass ich bei jedem einzelnen Vers stehen bleiben und um Erleuchtung und Aufschluss durch den heiligen Geist bitten musste. Bald konnte ich diesen, wie auch den Römerbrief auswendig; es war mir, als sei ich zu einem neuen Leben erwacht. Jetzt erst konnte ich mit dem Psalmisten singen: „Dein Wort ist Leuchte meinem Fuß und Licht für meinen Pfad“ (Ps 119,105), und dein Wort ist „kostbarer als Gold und viel gediegenes Gold, und süßer als Honig und Honigseim“ (Ps 19,11). Nun erst verstand ich, dass Jesus Christus nicht allein um unserer Sünden willen dahin gegeben, sondern auch um unserer Gerechtigkeit willen auferweckt ist. Er wurde um meinetwillen angesehen als der Übeltäter und musste sterben, und ich werde nun um seinetwillen als Gerechter betrachtet und lebe. „Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm“ (2. Kor 5,21). Christus Jesus, „der selbst unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz getragen hat, damit wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben, durch dessen Striemen ihr heil geworden seid“ (1. Pet 2,24). Es ist mein Trost, meine Kraft und die Freude meines Glaubens, dass der Herr Jesus auferweckt ist und jetzt zur Rechten Gottes sitzt. Mein Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott (Kol 3,3); durch den Glauben stehe ich mit Ihm in der innigsten Gemeinschaft, verbunden durch das Band des Geistes und der Liebe. Er lebt in mir, und wenn Er wiederkommt, werde ich Ihn sehen, wie Er ist und Ihm gleich sein (1. Joh 3,2). Mit großem Verlangen warte ich auf den Tag seiner Ankunft, auf das Ziel meiner Hoffnung, zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus. Preis aber und Ehre und Anbetung sei dem Gott, der sich meiner so herzlich angenommen, der uns eine so vollkommene Erlösung geschenkt hat in seinem eingeborenen Sohn, unserem Herrn und Heiland.