Botschafter des Heils in Christo 1857
Das Kreuz
Von mir aber sei es fern, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch den mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt (Gal 6,14).
In dem Kreuz finden wir das gänzliche Ende unseres eigenen Lebens. Es führt uns in unser Nichts zurück. Wir verstehen in unserem praktischen Leben noch wenig davon, was wir dann am tiefsten fühlen werden, wenn wir auf den Herrn Jesus sehen, ja dann werden wir erkennen, wie wenig noch die Kraft des Kreuzes in unseren Seelen verwirklicht ist, wie wenig wir noch gelernt haben, uns selbst beiseite zu setzen.
Der Herr Jesus besaß alle Gerechtigkeit und zugleich wohnte in Ihm alle Fülle der Gottheit leibhaftig (vgl. Kol 2,9). Doch was für einen Pfad ging Er? Was war das Kreuz für Ihn? Wie offenbarte Er sich darin? Er setzte diese ganze Gerechtigkeit und diese ganze göttliche Macht völlig beiseite. Die vollkommene Stärke seiner Liebe wurde geprüft, nicht nur darin, dass Er sich nicht selber zu gefallen suchte (vgl. Röm 15,3), dass Er, „da er in Gestalt Gottes war, es nicht für einen Raub achtete, Gott gleich zu sein“, dass Er „sich selbst zu nichts machte und Knechtsgestalt annahm... sich selbst erniedrigte“ (Phil 2,7.8) und diesen Platz für unseren Ungehorsam einnahm, sondern darin, dass Er in diesem Platz der Liebe zufrieden war, gänzlich verworfen und vernichtet zu werden, damit die wahre Kraft dieser Liebe offenbar werden möge.
Das Fleisch in uns ist klug, sehr klug. Wenn wir Liebe zeigen, so erwarten wir, dass es auch anerkannt werde. Wird irgendeine erwiesene Wohltat gar nicht erwidert, vielleicht nicht einmal durch ein freundliches Wort, so fangen unsere Herzen an, in der Übung der Liebe matt und kalt zu werden. Verstehen wir, geliebte Brüder, die Worte des Apostels an die Korinther: „Wenn ich [auch], je überreichlicher ich euch liebe, umso weniger geliebt werde“ (2. Kor 12,15). Das wahre Wesen der Erniedrigung offenbart sich dann, wenn wir in den Beweisen der Liebe unermüdlich fortfahren, obgleich wir gerade deshalb noch immer mehr erniedrigt werden.
So war es mit dem Herrn Jesus. Voll Geduld und Milde setzte Er sich der Macht und Bosheit Satans aus. Und was fand Er in uns, als Er dieses Werk der Liebe vollbrachte? Der Mensch nahm durch Seine so tiefe Erniedrigung Veranlassung, Ihm mit der größten Geringschätzung zu begegnen. „Er war die Schmach der Menschen, die Verachtung des Volkes.“ Von allen Seiten war Er eingeschlossen: „Denn Hunde haben mich umgeben, eine Rotte von Übeltätern hat mich umzingelt. Sie haben meine Hände und meine Füße durchgraben“ (Ps 22,17). „Viele Stiere haben mich umgeben, gewaltige Stiere von Basan mich umringt. Sie haben ihr Maul gegen mich aufgesperrt wie ein reißender und brüllender Löwe“ (Ps 22,13.14). Er suchte Tröster, aber Er fand keine. Einer von denen, mit welchen Er in einem so herzlichen und vertrauten Umgang hienieden gestanden hatte, hob seine Ferse gegen Ihn auf. Und gerade jener Jünger, welcher der erste war, Ihm seine Anhänglichkeit zu bekennen („Wenn auch alle Anstoß nehmen werden, ich aber nicht“; Mk 14,29), verleugnete Ihn mit Schwüren und Flüchen (vgl. Mk 14,71).
Sein Kummer fand hier keinen Ausweg. Er fand keinen Trost bei Menschen. Und verschmäht und verworfen von denen, zu welchen Er in Liebe kam, um sie zu erretten, wandte seine Seele sich zu Gott und rief: „O Gott, sei nicht fern von mir; mein Gott, eile zu meiner Hilfe!“ (Ps 71,12), aber Gott hatte sein Angesicht vor Ihm verborgen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Finsternis und Zorn fiel bis auf das Äußerste auf Ihn, und kein Zuspruch kam von irgendeiner Seite – der tiefste Hass der Menschen um Ihn her, und Finsternis über Ihm! Außer der Macht der Liebe blieb nichts mehr für Ihn übrig. „Ich bin versunken in tiefen Schlamm, und kein Grund ist da; in Wassertiefen bin ich gekommen, und die Flut überströmt mich“ (Ps 69,3). Alle Wogen und Wellen gingen über Ihn, und außer der Liebe war in diesen Wogen alles untergegangen. Nur diese Liebe hielt Ihn aufrecht. Sie war größer als alles – und sie war wirksam für uns.
Wenn wir Ihn in dieser Erniedrigung und gänzlichen Vernichtung betrachten, so finden wir die unergründliche Tiefe der Liebe. Diese blieb und entfaltete sich dann am herrlichsten, als Er von allem entblößt war, denn Er ist Gott und „Gott ist Liebe“. Wir, teure Brüder, haben die Fülle der Liebe in dem Herrn Jesus gefunden, und – welche Freude! –, sie wird unser immerwährendes Teil sein, für immer werden wir sie kennen und genießen. Als der Herr Jesus umherging und seine wunderbare Macht im Gutes tun offenbarte, da fand das natürliche Herz etwas, was es anerkennen und gutheißen musste. Es freute sich, wenn die Kranken geheilt wurden, wenn geliebte Freunde wieder ins Leben zurückkehrten und vieles mehr, aber in dem Kreuz wurde diese Macht nicht offenbart. Hier gab es keine Wunder – nur Schwachheit und Niedrigkeit. Er ist in Schwachheit gekreuzigt worden (vgl. 2. Kor 13,4). Geprüft von den Menschen, versucht vom Satan, verlassen von Gott –, was blieb da noch außer seiner Liebe übrig, als die Tiefe, die Fülle und der Reichtum dieser Liebe, welche für immer unser gesegnetes Teil bleiben wird.
Das natürliche Herz in einem jeden von uns hasst die Kraft des Kreuzes. Wir wünschen etwas zu haben, worauf das Auge ruhen kann. Wir suchen ein wenig Ehre. Das Kreuz aber steht allem Stolz und aller menschlichen Ehre entgegen, und deshalb lieben wir es nicht. Fragen wir uns selbst, Geliebte, ob wir wirklich zufrieden sind, das Kreuz in dieser seiner wahren Gestalt auf uns zu nehmen und zu sagen: Ich wünsche nichts mehr? „Von mir aber sei es fern, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch den mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt.“ Möchten doch unsere Seelen stets in dieser gesegneten Zuversicht ruhen: Der Herr Jesus ist unser immerwährendes Teil, und zu ruhen in Ihm heißt ruhen in Gott, und „Gott ist Liebe.“ Diese Liebe aber werden wir umso völliger genießen, je mehr wir von allem anderen entblößt sind. Ehre, Talent, Gelehrsamkeit, Reichtum, Freunde, Ansehen und etwas der Art, was den natürlichen Menschen ergötzt, ist sehr geeignet, den Stolz in uns zu nähren, und Christus weniger kostbar und den Genuss seiner Liebe weniger völlig zu machen. Deshalb wolle der treue Herr uns reichlich zu erkennen geben, was es heißt, mit der Welt gekreuzigt zu sein, aber lasst uns auch, geliebte Brüder, stets Gott preisen für alles, was uns erniedrigt.