Einführende Vorträge zum Hebräerbrief
Kapitel 6
„Deshalb“, fügt der Apostel in Kapitel 6 hinzu, „das Wort von dem Anfang des Christus lassend, laßt uns fortfahren zum vollen Wuchse.“ (V. 1). Er weist nach, daß wir nicht bei den jüdischen Elementen bleiben können, nachdem wir die christliche Wahrheit gehört und angenommen haben, ohne unsere Sicherheit zu verlieren. Nicht allein der Segen, nicht einfach Kraft und Freude, sondern auch der einzige Platz der Sicherheit hängen von einem Weitergehen zu diesem vollen Wuchs ab. Stehenbleiben bedeutete für die Hebräer Rückgang. Wenn jene, die von Christus gehört haben, zu den jüdischen Formen zurückkehren - was wird aus ihnen?
Dann spricht er von den verschiedenen Bestandteilen, aus denen „das Wort von dem Anfang des Christus“ (d. i., eine Kenntnis Christi ohne Seinen Tod, Seine Auferstehung und Seine Himmelfahrt) besteht. Die Leser sollten fortschreiten und „nicht wiederum einen Grund legen mit der Buße von toten Werken und dem Glauben an Gott, der Lehre von Waschungen und dem Hände-Auflegen und der Toten-Auferstehung und dem ewigen Gericht.“ Das heißt keinesfalls, daß das Aufgezählte nicht einen besonderen und wichtigen Platz einnimmt - das bestreitet niemand. Darin bestehen indessen nicht die Kraft und die Kennzeichen des Christentums. Die Merkmale werden paarweise genannt; und ein Jude würde sie voll anerkennen. Doch was bedeuten sie für einen Christen? Warum auf ihrer Grundlage leben? „Und dies wollen wir tun“ (nämlich zum vollen Wuchs fortschreiten), „wenn Gott es erlaubt. Denn es ist unmöglich, diejenigen, welche einmal erleuchtet waren und geschmeckt haben die himmlische Gabe, und teilhaftig geworden sind des Heiligen Geistes, und geschmeckt haben das gute Wort Gottes und die Wunderwerke des zukünftigen Zeitalters, und abgefallen sind, wiederum zur Buße zu erneuern, indem sie den Sohn Gottes für sich selbst kreuzigen und ihn zur Schau stellen.“ (V. 3-6).
Es geht hier um Personen, welche abfallen, nachdem sie jedes Vorrecht und die Kraft des Evangeliums genossen haben außer dem Segen einer neuen Natur und jener Einwohnung des Heiligen Geistes, welche erneuerte Seelen auf den Tag der Erlösung versiegelt hat (Eph 4, 30). Für solche Menschen, die den Messias auf der Erde unter dem Judentum verworfen hatten, bot Gott Buße und Vergebung der Sünden an. Für jemanden, der den auferstandenen und verherrlichten Christus aufgab, bestand keine Vorsorge der Gnade mehr. Es gibt keine dritte Stellung Christi, um diesem Fall zu begegnen. Es handelt sich nicht um eine Person, die zur Sünde überrascht wurde. Nein, es handelt sich nicht einmal um jenen schrecklichen Fall, daß ein Mensch in der Sünde vorangeht - so traurig es auch ist, daran zu denken, daß ein Mensch, von dem wir eigentlich Besseres hätten erwarten können, in diesen Zustand zu geraten vermag. Hier geht es um ein ganz anderes Übel. Der Apostel spricht von Menschen, die korrekt, moralisch und religiös sein mögen, aber, nachdem sie Jesus als den Christus nach dem Ausgießen des Heiligen Geistes bekannt haben, zurück in jüdische Grundsätze abgleiten. Möglicherweise betrachten sie diesen Schritt als einen weisen und heilsamen Halt auf einem zu schnellen Weg vorwärts, anstatt zu erkennen, daß sie dem Grundsatz nach Christus ganz und gar verlassen. Der hier vorausgesetzte Fall beinhaltet ein vollständiges Aufgeben der christlichen Wahrheit.
Der Apostel beschreibt einen Bekenner mit allen krönenden Hinweisen auf das Evangelium, aber keinen Bekehrten. Kein Wort, sowohl hier als auch in 2. Petrus, weist auf einen Letzteren hin. Außerdem benutzt er ungewöhnlich starke Ausdrücke, und zwar mit Absicht. Er setzt den Besitz der höchsten möglichen äußeren Vorrechte voraus, wie sie Gott in so überreichem Maß nach der Himmelfahrt des Herrn geschenkt hat. Er spricht hier zweifellos von Getauften. Wir lesen jedoch nichts von einer Bedeutung der Taufe, wie sie die Alten und gleicherweise einige heutige Menschen ihr zuerkennen, nämlich als eine Stufe des Fortschreitens im geistlichen Leben. Wir finden hier Wissen, Freude, Vorrecht und Kraft, aber kein Zeichen geistlichen Lebens. Erleuchtung ist keineswegs die neue Geburt, noch bedeutet Taufe in der Heiligen Schrift Erleuchtung. Sie beschreibt die Wirkung des Evangeliums auf eine dunkle Seele - das Aufscheinen der Gesinnung Dessen, der das einzige wahre Licht ist. Licht ist nicht Leben; und Leben ist in unserer Stelle nicht eingeschlossen.
Ferner hatten sie „die himmlische Gabe“ geschmeckt. Das ist nicht der Messias, wie Er gepredigt wurde, als die Jünger auf der Erde umher zogen, sondern Christus, nachdem Er in den Himmel gegangen ist - nicht Christus im Fleisch, sondern auferstanden und in der Höhe verherrlicht.
Außerdem waren sie „teilhaftig geworden ... des Heiligen Geistes.“ Von Ihm wurde jeder ein Teilhaber, der den Herrn bekannte und in das Haus Gottes eintrat. Dort wohnt der Heilige Geist; und alle, die sich dort aufhalten, werden Teilhaber Dessen in einer äußerlichen Weise (nicht: κοινωνοὶ, sondern: μέτoχοι), der die Versammlung des Hauses und Tempels Gottes aufbaut. Der Geist Gottes durchdringt sozusagen die ganze Atmosphäre des Hauses Gottes. Es geht nicht im geringsten um einen Menschen, der persönlich aus Gott geboren und vom Heiligen Geist versiegelt worden ist. Auf beides wird in diesem Fall nicht angespielt. Statt dessen hat er teil an diesem großen Vorrecht. Das griechische Wort spricht nicht von einer persönlich gekannten Gemeinschaft, sondern einfach von einer äußerlichen Teilhabe.
Darüber hinaus hatten sie „geschmeckt ... das gute Wort Gottes.“ Selbst in einem unbekehrten Menschen mögen starke Gefühlsempfindungen aufsteigen und vermag er das Wort Gottes bis zu einem gewissen Grad zu genießen. Das galt besonders für jene, welche im Judaismus gefangen lagen, dem Tal der verdorrten Totengebeine (Hes 37). Wie lieblich ist das Evangelium der Gnade! Sicherlich konnte nichts erbärmlicher sein als die leeren Schoten, welche die Pharisäer und Schriftgelehrten vor die Schafe des Hauses Israel warfen. Nichts schließt das natürliche Herz davon aus, von der gefälligen Lieblichkeit der guten Botschaft, die das Christentum verkündigt, angezogen zu werden.
Zuletzt hören wir von „Wunderwerke des zukünftigen Zeitalters.“ Das scheint mehr zu sein als nur eine einfache Teilhaberschaft an der Gegenwart des Heiligen Geistes, der das Haus Gottes bewohnt. Die dargestellten Menschen waren in einer wirklichen Weise mit wunderwirkenden Kräften bekannt gemacht worden - Beispiele von dem, was die Herrschaft des Messias kennzeichnen wird. Wir dürfen allen diesen Ausdrücken durchaus ihre volle Aussagekraft beimessen. Aber auch wenn wir sie noch so weit auslegen, umfassen sie nicht die neue Geburt und die Versiegelung mit dem Heiligen Geist. Wir lesen von allem, wie wir sagen dürfen, außer von dem inneren geistlichen Leben in Christus und dem in uns wohnenden Siegel davon. Das besagt: Jemand kann mit den höchsten Segnungen und Vorrechten ausgestattet sein in der Weise, daß sein Gemüt angesprochen wird, und außerdem äußere Machttaten erlebt haben, und dennoch alles aufgeben. Ein solcher Mensch wird ein um so heftigerer Feind Christi werden. Das ist tatsächlich das natürlich folgende Ergebnis. Viele traurige Fälle beweisen es. Sie sind abgefallen. Daher ist eine Erneuerung zur Buße unmöglich, indem sie den Sohn Gottes für sich selbst kreuzigen und der öffentlichen Schande aussetzen.
Warum sollte das unmöglich sein? Der vorausgesetzte Fall spricht von einer Person, welche nach den reichsten Erfahrungen und dem Genuß der Vorrechte sich abwendet und von Christus abfällt, um wieder das Judentum anzunehmen. Wenn dieser Weg verfolgt wird, kann es keine Buße geben. Nehmen wir an, ein Mensch war ein Widersacher des Messias auf der Erde! Dann gab es immer noch einen Zugang für ihn durch die Gnade aus der Höhe. Es war möglich, daß sogar ein Mensch, der Christus hienieden mißachtet hat, seine Augen geöffnet bekam, um Ihn im Himmel zu sehen und anzunehmen. Falls aber diese Stellung verlassen wird, gibt es keine weitere Möglichkeit, den Herrn den Menschen vorzustellen. Jene, die Christus in der ganzen Fülle Seiner Gnade und in der Größe Seiner Herrlichkeit verwerfen, in welcher Gott Ihn ihnen als Mensch vorstellt - jene, die Ihn nicht allein auf der Erde, sondern auch als versetzt in den Himmel verwerfen - welche Zuflucht bleibt ihnen? Welches denkbare Mittel könnte sie danach noch zur Buße führen? Es gibt keines! Was haben sie zu erwarten außer Christus, der im Gericht kommt? Früher oder später muß jeder Abfall unter dieses Gericht geraten. Darin liegt auch die Kraft des folgenden Vergleichs. „Denn das Land, welches den häufig über dasselbe kommenden Regen trinkt und nützliches Kraut hervorbringt für diejenigen, um derentwillen es auch bebaut wird, empfängt Segen von Gott; wenn es aber Dornen und Disteln hervorbringt, so ist es unbewährt und dem Fluche nahe, und sein Ende ist die Verbrennung.“
„Wir aber sind in Bezug auf euch, Geliebte, von besseren ... Dingen überzeugt.“ (V. 9). Es mochte genug Anlaß für Befürchtungen zu sehen sein - der Apostel war indessen hinsichtlich der beiden Endziele für sie von dem besseren überzeugt, nämlich dem, das mit der Seligkeit verbunden ist, auch wenn er so redete. Gott war nämlich nicht ungerecht; und auch der Apostel vermerkte durchaus Züge der Liebe und Hingabe, welche ihm dieses Vertrauen in Hinsicht auf seine Leser gab. Er schreibt dann: „Wir wünschen aber sehr, daß ein jeder von euch denselben Fleiß beweise zur vollen Gewißheit der Hoffnung bis ans Ende, auf daß ihr nicht träge werdet, sondern Nachahmer derer, welche durch Glauben und Ausharren die Verheißungen ererben.“ (V. 11-12). Hier finden wir ein bemerkenswertes Zeugnis von dem wahren Wesen des Briefes, das ist die Verbindung zweier besonderer Züge die für ihn kennzeichnend sind. Auf der einen Seite stehen die Verheißungen, der Eid Gottes, der Seine Wege mit Abraham ging, auf der anderen die Hoffnung, welche vor uns Heutige gestellt worden ist und die bis hinter den Vorhang reicht. Wir sollten das erstere sehr beachten, da der Schreiber sich nicht ausschließlich auf das beschränkt, was in den besonderen Bereich seiner Apostelschaft fällt. Hätte er entsprechend seines normalen Aufgabenbereichs geschrieben, wäre nichts besser mit der Linie seines Zeugnisses in Übereinstimmung gewesen, als bei unserer Hoffnung zu verweilen, die bis innerhalb des Vorhangs reicht. Die Besonderheit des Hebräerbriefs liegt in dieser Verknüpfung der Verheißungen mit Christi himmlischer Herrlichkeit. Ich glaube, daß niemand so wie Paulus geeignet war, das himmlische Teil vorzustellen. Gleichzeitig konnte er ausschließlich im Schreiben an die Hebräer die alt-testamentlichen Hoffnungen in einer solchen Weise einbringen, wie er es tat.
Ein weiterer Punkt, den wir bemerken können, ist der Gegensatz zwischen der Erklärung am Ende mit dem Anfang des Kapitels. Wir haben die höchsten äußeren Vorrechte kennen gelernt. Wir haben nicht nur das Herz des Menschen gesehen, wie es, so weit es kann, sich an der Wahrheit erfreut, sondern auch die Kraft des Heiligen Geistes, der auf alle Fälle den Menschen zum Werkzeug der Kraft machen kann, auch wenn dieses nur zu dessen Schande und tieferer Verdammnis hinterher führt. Kurz gesagt, mag ein Mensch die höchst-denkbaren Vorteile und die größte äußere Macht durch den Geist Gottes Selbst genießen - und trotzdem bleibt alles vergeblich. Doch dasselbe Kapitel mit seinen ernsten Versicherungen und Warnungen hinsichtlich der möglichen Erfolglosigkeit jedes Vorzugs, zeigt uns auch den schwächsten Glauben, den das ganze Neue Testament beschreibt, wie er in den sicheren Besitz der erhabensten Segnungen der Gnade gelangt. Wer außer Gott konnte so diktieren, daß gerade dieses 6. Kapitel den schwächsten Glauben schildert, den das Neue Testament irgendwo anerkennt? Was sieht schwächer aus, was verzweifelter in Bedrängnis als ein Mensch, der zu einem Zufluchtsort eilt? Gilt das nicht für eine Seele, die zu Jesus kommt? Gilt das nicht für eine Person, welcher der Herr auf der Stelle begegnet, um sie zu segnen? Hier wird ein Mensch auf das hochgradigste getrieben, um sein Leben zu fliehen (offensichtlich dem Bild von dem blutbefleckten Totschläger entnommen, der vor dem Bluträcher flieht; 4. Mo 35). Er wird indessen auf ewig gerettet und gesegnet entsprechend der Annahme Christi in der Höhe.
In denen, die in den ersten Versen so reich begünstigt wurden, gab es keine Wirklichkeit. Darum blieb (weil kein Gewissen vor Gott, kein Bewußtsein der Sünde, kein Anhangen an Christus vorhanden war) alles umsonst. Hier hingegen finden wir die Frucht des Glaubens - schwach, in der Tat, und heftig geprüft, aber in einem Licht, welches das Urteil Gottes gegen die Sünde würdigt. Obwohl es also nur um eine Flucht aus Todesangst der Seele zu einem Zufluchtsort geht - was gibt Gott einer Person in einem solchen Zustand? Starken Trost und einen Anker, der hinter den Vorhang ins Allerheiligste reicht! Unmöglich kann der Sohn von Seinem Platz auf dem Thron Gottes gestürzt werden. Daraus folgt, daß selbst der geringste Gläubige in keinster Weise geschädigt werden kann. Der Schwächste unter den Gläubigen ist mehr als ein Überwinder. So hat uns der Apostel zu diesem herrlichen Schlußpunkt geführt, nachdem er uns auch die schreckliche Gefahr jener Menschen gezeigt hat, welche einen solchen Christus aufgeben, wie Er uns in diesem Brief vorgestellt wird. Jetzt sieht er sich frei, das Wesen von Christi Priestertum sowie auch die daraus folgende Stellung des Christen zu entfalten. Aber darauf hoffe ich, wenn der Herr will, bei einer anderen Gelegenheit einzugehen.