Einführende Vorträge zum Hebräerbrief

Kapitel 4

Einführende Vorträge zum Hebräerbrief

Das führt uns zu dem wichtigen, aber häufig falsch verstandenen Kapitel 4. Was heißt „Ruhe Gottes“? Nicht Ruhe der Seele oder Ruhe des Gewissens und noch weniger Ruhe des Herzens! Sie ist nichts dieser Art, sondern ganz einfach das, was der Apostel sagt: Gottes Ruhe. Seine Ruhe ist nicht einfach deine Ruhe. Es geht nicht um unseren Glauben, der die Ruhe ergreift, welche Christus demjenigen gibt, der Ihm vertraut nach Seinen Worten: „Kommet her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben.“ (Mt 11,28). Er sagt nämlich nicht: „Ich werde euch Gottes Ruhe geben.“ Dazu war die Zeit noch nicht da; und diese Ruhe ist außerdem von einem ganz anderen Charakter. Gottes Ruhe ist die Ruhe Seiner eigenen Genugtuung. Seine Ruhe ist eine Verwandlung dieses ganzen gegenwärtigen Schauplatzes der Prüfung und des Kampfes – der Folgen der Sünde. Natürlich muß das Volk Gottes für jenen zukünftigen Schauplatz zubereitet werden sowie auch der Schauplatz für sie. Die Erlösten sind für Gott unvergleichlich wichtiger als der Bereich, den sie ausfüllen werden.

Doch auch der Schauplatz selbst hat seine Bedeutsamkeit. Es wäre Gott nicht angemessen (und wohl auch uns nicht), den Seinen in einer Welt wie dieser noch so überwältigende Segnungen zu gewähren. Er wünscht Sich eine Ruhe, die Seiner so würdig ist wie die Gerechtigkeit, zu der wir in Christus bereitet sind. Was für  Seine Gerechtigkeit gilt, gilt auch für  Seine Ruhe. Daher geht es hier nicht darum, wie es die Nichtjuden so leicht voraussetzen, daß das Herz Trost empfängt und daß der Geist mit dem Bewußtsein von Segen seitens Gottes und Seiner Gnade zu uns erfüllt wird.

Auch der Jude konnte die erwähnte Ruhe, allerdings in einer anderen Richtung, traurig mißverstehen. Sie war ihm irdisch, wenn nicht sogar sinnlich. Infolgedessen stolperte ein jüdischer Gläubiger häufig über ein ernstes Rätsel in seinen Augen, nämlich den Gegensatz zwischen den Umständen, durch die er zu gehen hatte, und jenem Christus, von welchem die Propheten zu ihm redeten. Der Apostel geht jetzt keinesfalls leichtfertig über den Kummer auf unserem Weg hinweg; er vergißt auch nicht, daß Pilgerschaft in der Wüste ein Bild von unseren irdischen Umständen ist. Er beschäftigt sich mit Schriftstellen, die von Israels Reise zum gelobten Land, aber nicht von dessen Einzug sprechen, und wendet sie auf die gegenwärtigen Umstände an. Gleichzeitig stellt er den Lesern die Ruhe Gottes als Hoffnung vor.

„Fürchten wir uns nun, daß nicht etwa, da eine Verheißung, in seine Ruhe einzugehen, hinterlassen ist, jemand von euch scheine zurückgeblieben zu sein. Denn auch uns ist eine gute Botschaft verkündigt worden, gleichwie auch jenen; aber das Wort der Verkündigung nützte jenen nicht, weil es bei denen, die es hörten, nicht mit dem Glauben vermischt war. Denn wir, die wir geglaubt haben, gehen in die Ruhe ein.“ (V. 1–3). Das heißt: Wir sind auf dem Weg. Der Apostel sagt nicht, daß wir schon eingegangen sind oder etwas dieser Art. Das würde seiner Erörterung und ihrem Ziel völlig widersprechen. Es ist folglich ein grundlegender Fehler, den Abschnitt in dieser Weise auszulegen. Das gerade Gegenteil ist gemeint, nämlich daß wir noch nicht in die Ruhe eingegangen sind. Statt dessen wandern wir, wie es manche geistlichen Lieder zum Ausdruck bringen, auf dem Weg dorthin. Damit will ich nicht sagen, daß wir auf dem Weg zu Gott sind 1; doch wir sind ganz gewiß auf dem Weg zu Seiner Ruhe. Wir gehen in die Ruhe ein; sie liegt schon vor uns; und dieser Ruhe wandeln wir entgegen. Wir sind indessen noch nicht da. „Wir, die wir geglaubt haben, gehen in die Ruhe ein, wie er gesagt hat: „So schwur ich in meinem Zorn: Wenn sie in meine Ruhe eingehen werden!““

Es stimmt natürlich, daß der Heilige Geist uns ständig die Ruhe als nahe bevorstehend verkündigt, um uns stets bewußt zu erhalten, daß uns nur eine kurze Zeitspanne von ihr trennt. Mag dieses Intervall auch noch so kurz sein – wir sind keineswegs in der Ruhe; wir gehen ihr entgegen. Gegenwärtig wird unser Aufenthaltsort, über jeden Widerspruch erhaben, tatsächlich in der Wüste gesehen. Demnach ist es völlig unpassend und außerhalb des Gesichtsfelds der Lehre unseres Briefes (wie auch dem der Briefe an die Römer, Korinther und Philipper), uns als innerhalb der himmlischen Örter zu betrachten. Den Ephesern hingegen zeigt Paulus unsere Segnung in und mit Christus in jenem Himmelsbereich. Dort stimmt dieser Gesichtspunkt mit der dargestellten Wahrheit genau überein. Es handelt sich nämlich um eine Wahrheit, und zwar von der höchsten Ordnung. Aber soweit es den Brief an die Hebräer betrifft, könnten wir aus ihm niemals diese Seite der Wahrheit Gottes erfahren und noch weniger ihre Anwendung auf uns; denn wir werden einfach an unserem tatsächlichen Ort betrachtet, d. h.: Wir wandern durch die Wüste.

Hier wird Einwänden entgegengetreten, die auf den Schriften des Alten Testaments beruhen. Es gab zwei – und ausschließlich zwei – Gelegenheiten in alten Zeiten, die als Eingang in die Ruhe Gottes betrachtet werden konnten.

Von der ersten lesen wir, als Gott die Schöpfung bildete. Doch trat der Mensch in irgendeiner Weise in jene Ruhe ein? Gott ruhte zweifellos von Seinen Werken. Aber sogar von Gott wird niemals gesagt, daß Er  in Seinen Werken ruhte. Gab es damals etwas, das für alle Zeit Gott zufrieden stellte oder den Menschen segnete? Alles war gut, ja, sogar sehr gut. Aber konnte Gott in Seiner Liebe ruhen? Sicherlich nicht, bevor nicht alles auf dem Fundament der Erlösung fest gegründet werden konnte! Das wünschte Gott schon vor allen Welten. Nichts als die Erlösung konnte in Seine Ruhe einführen. Folglich vermochte eine Ruhe, die beeinträchtigt werden konnte in einer Welt, die ständig forderte, daß Er immer und immer wieder in noch gesegneterer Weise ein neues Werk begann, weder dem Herzen noch den Gedanken Gottes entsprechen. Die Schöpfungsruhe ist also keinesfalls Seine Ruhe. Sie diente als Zeichen und Zeugnis von letzterer – nicht mehr.

Damit kommen wir zum zweiten Beispiel, das von tiefem und besonderem Interesse für Israel ist. Als Josua das Volk siegreich in den Besitz Kanaans hineinführte – war das die Ruhe Gottes? Keineswegs! Worin liegt der Beweis? Wir finden ihn in demselben Psalm: „Wenn sie in meine Ruhe eingehen werden!“  Das wurde nämlich erst später mitgeteilt. So schreibt David: „Heute ... nach so langer Zeit.“ Nicht nur nach der Schöpfung, sondern auch nachdem Josua das Volk in dem Land angesiedelt hatte, wird ein bestimmter Tag in der Zukunft festgelegt. „Denn wenn Josua sie in die Ruhe gebracht hätte, so würde er danach nicht von einem anderen Tage geredet haben.“ (V. 8). Sie waren demnach noch nicht in die Ruhe eingetreten. Sie lag noch vor ihnen.

Ist die Ruhe nicht auch heute noch zukünftig? Welches Ereignis hätte inzwischen Menschen in die Ruhe Gottes eingeführt? Was könnte mit der Schöpfung oder mit dem Volk, welches durch die Vernichtung seiner Feinde in Kanaan ansässig wurde, verglichen werden? Was nichtjüdische Theologie zu diesem Thema angeführt hat, nämlich das Werk des Herrn am Kreuz und dessen Anwendung, um den Bedürfnissen der Seele zu begegnen – so wertvoll letzteres auch für den Apostel war und für den Glauben sein muß – findet überhaupt keinen Platz in den Ausführungen des Apostels. Wäre es anders – wo fänden sich solche Gedanken in diesem Zusammenhang? Die Vorstellung, das sei der hier betrachtete Gegenstand, ist so vollständig abwegig und sinnwidrig, daß sie meiner Ansicht nach nur von einer außerordentlichen Voreingenommenheit, wenn nicht sogar Gedankenlosigkeit zeugt. Außerdem fehlt es jenen Menschen an Unterwürfigkeit unter die Heilige Schrift, da sie erlauben, daß ihre Theorien das klare Wort Gottes beiseite setzen – ein offensichtlicher Hinweis auf das Fehlen jener unendlichen Wahrheit.

Der Apostel zieht darum sofort die Schlußfolgerung, daß weder bei der Schöpfung noch in Kanaan die Ruhe Gottes wirklich gekommen war. Der letzte Teil des Alten Testaments zeigt uns, wie Israel immer mehr entwurzelt und zuletzt aus seinem Land vertrieben wurde, obwohl es auch seine zukünftige Sammlung voraussagt. Das Neue Testament zeigt uns die Verwerfung des Messias, das Verderben Israels, die Erlösung der Gläubigen und die Bildung der Kirche als solcher in einem Leib (seien es Juden oder Nichtjuden) im scharfen Gegensatz zur Ruhe Gottes. Folglich muß die Ruhe noch kommen. Sie ist noch nicht da. Sie ist zukünftig. Das ist die Anwendung der Aussage: „Also bleibt noch eine Sabbathruhe dem Volke Gottes aufbewahrt. Denn wer in seine Ruhe eingegangen ist, der ist auch zur Ruhe gelangt von seinen Werken, gleichwie Gott von seinen eigenen.“ (V. 9–10).

Daraus folgert der Apostel: „Laßt uns nun Fleiß anwenden, in jene Ruhe einzugehen.“ (V. 11). Das heißt: Du kannst nicht gleichzeitig arbeiten und ruhen in derselben Weise. Jeder muß bekennen, daß Ruhe ein Ende der Arbeit bedeutet. Die Erklärung lautet demnach, daß jetzt nicht Zeit für Ruhe ist, sondern für Fleiß; und die sittliche Grundlage, warum wir arbeiten, besteht darin, daß die Liebe – sei es in Gott Selbst, in Seinem Sohn oder in Seinen Kindern – nicht ruhen kann, wo sie Sünde und Elend findet. Beide sind in der Welt. Zweifellos sind für den Gläubigen seine Sünden ausgelöscht und vergeben; und die Hoffnung verwirklicht schon mit Freude die endgültige Befreiung durch den Herrn. Doch in Hinsicht auf den Ablauf dieses Zeitalters und alle Gegenstände auf der Erde ist es unmöglich an Ruhe zu denken oder von ihr zu sprechen. Das gilt nicht nur für unsere Leiber als ein Teil der gefallenen Schöpfung. Es gibt also keine Ruhe außer jener, die wir durch den Glauben in unseren Seelen genießen. Alles andere wäre reine Gefühlsduselei und nicht die Wahrheit Gottes. Ich sollte das Elend und die Entfremdung der Erde von Gott empfinden. Ich sollte – wenn auch mit Freude im Herrn – mit einem traurigen Herzen, das zu weinen weiß, in eine Welt hineingehen, wo so viel Sünde, Kummer und Sorgen bestehen. Dennoch wird eine Zeit kommen, wenn Gott Tränen – ja, jede Träne – von den Augen abwischen wird. Das wird die Ruhe Gottes sein. Wir sind auf der Reise zu dieser Ruhe – mehr nicht; wir reisen noch. Gleichzeitig sollen wir arbeiten. Die Liebe kann nichts, als sich abmühen, in einer Welt wie dieser. Wo ein Geist vorhanden ist, der den Druck der Sünde fühlt, gibt es auch die Liebe, welche in der Kraft der Gnade Gottes aufsteht, um das vorzustellen, was aus der Sünde heraushebt und von ihr befreit. So sagt der Apostel: „Laßt uns nun Fleiß anwenden, in   jene Ruhe einzugehen.“

Erlaubt mir, hier einige Worte an jene Personen zu richten, welche durch alte Gedanken zu diesem Thema ein wenig verwirrt sind! Schaue dir noch einmal genauer die beiden Hauptaufforderungen des Kapitels (Verse 1 und 11) an! Ich frage dich: Ist es vertrauenswürdig und gesund, diese jetzt auf die Ruhe des Gewissens anzuwenden? Werden Seelen, die niemals geschmeckt haben, daß der Herr gütig ist, zur Furcht aufgefordert? Und wie bringen wir den Aufruf zur Arbeit oder zum Fleiß mit den Worten des Apostels in Römer 4,4 und 5 zur Deckung, wo die Rechtfertigung aus Glauben ohne jedes Werk jenseits aller Spitzfindigkeit das Thema ist? Was kann das Ergebnis solcher Vorurteile bei der Auslegung (egal, wer sie unterstützen mag) anders sein, als das Evangelium der Gnade Gottes zu trüben? Darum erweist sich mir klar und sicher eine solche Meinung als falsch. Die Probe für eine falsche Meinung besteht darin, daß sie stets die Wahrheit Gottes durcheinanderbringt. Tatsächlich läuft sie häufig, wie hier, den einfachsten und grundlegendsten Wesenszügen des Evangeliums entgegen. Nehmen wir noch einmal den Text, auf den schon hingewiesen wurde! „Dem aber, der nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt ...“ (Röm 4,5). Die verbreitete Fehlauslegung verlangt von den Menschen Werke, um für ihr Gewissen in die Ruhe einzugehen. Doch diese Lehre ist genauso falsch, wie das geschriebene Wort wahr ist. Der Inhalt der Wahrheit vor uns in Hebräer 4 besteht nicht in der gegenwärtigen Ruhe der Seele durch den Glauben, sondern in der Ruhe Gottes, nachdem Er einen Schauplatz, Seiner würdig, am Tag der Herrlichkeit zubereitet haben wird. Dieser wird auch solchen angemessen sein, die Er liebt.

Darum wird uns als Nächstes die Vorsorge der Gnade gezeigt – nicht für die Ruhe der Herrlichkeit, sondern für jene, die jetzt hienieden noch der Ruhe entgegen reisen. Worin besteht die Vorsorge? Im Wort Gottes, welches an uns herantritt, uns prüft, sich mit uns beschäftigt und die Gedanken und Gesinnungen des Herzens beurteilt! Außerdem im Priestertum Christi, welches überführt und kräftigt und alles, was wir auf der Erde benötigen, darreicht, nämlich die Gnade und Barmherzigkeit unseres Gottes! „Laßt uns nun mit Freimütigkeit hinzutreten zu dem Thron der Gnade, auf daß wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zur rechtzeitigen Hilfe.“

Fußnoten

  • 1 denn wir sind schon zu Gott gebracht. (Übs.).
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