Einführende Vorträge zum Hebräerbrief
Kapitel 2
„Deswegen“ (hier folgt die Schlußfolgerung, obwohl sie schon das nächste Kapitel einführt) „sollen wir umso mehr auf das achten, was wir gehört haben, damit wir nicht etwa abgleiten. Denn wenn das durch Engel geredete Wort“ - offensichtlich faßt Paulus hier das Thema zusammen - „fest war und jede Übertretung und jeder Ungehorsam gerechte Vergeltung empfing, wie werden wir entfliehen, wenn wir eine so große Errettung vernachlässigen? welche den Anfang ihrer Verkündigung durch den Herrn empfangen hat und uns von denen bestätigt worden ist, die es gehört haben.“ (V. 1-3). Es fällt auf, wie Paulus hier denselben Platz einnimmt wie jeder andere Jude, der die Botschaft von solchen empfangen hat, die Christus persönlich gehört hatten. So vollkommen schrieb er nicht im Charakter des Apostels der Nationen, der sein Amt hervorhebt, sondern als einer aus Israel, der die Verkündigung jener gehört hatte, welche Begleiter des Messias auf der Erde waren. Er sagt: „Es wurde uns bestätigt.“ Er macht sich mit seiner Nation eins, anstatt seine himmlischen Beziehungen anzuführen, die ihn aus seinem Volk und den Nichtjuden herausgeführt hatten, indem er zu letzteren gesandt worden war. Er blickt auf das ihnen angemessene Zeugnis und nicht auf jenes, zu welchem er in ganz besonderer Weise abgesondert wurde. Er beschäftigt sich, so weit es möglich war, mit ihnen auf ihrem eigenen Boden - natürlich ohne seinen eigenen preiszugeben. Er vernachlässigt keineswegs das Zeugnis an den Juden als solchen: „Indem Gott außerdem mitzeugte, sowohl durch Zeichen als durch Wunder und mancherlei Wunderwerke und Austeilungen des Heiligen Geistes nach seinem Willen.“ (V. 4).
Nun geht Paulus auf eine weitere und völlig andersgeartete Seite der Herrlichkeit Christi ein. Er ist nicht allein Sohn Gottes, sondern auch Sohn des Menschen. Ich will nicht sagen, daß beides in gleicher Weise notwendig war. Es war jedoch zweifellos unbedingt notwendig, und zwar sowohl für die Herrlichkeit Gottes als auch für Seine Errettung, wem immer Er sie auch zuteilte. Taste Christus auf einer dieser beiden Seiten an; und alles ist verloren. Taste Ihn an in Bezug auf Seine Menschheit! Das ist kaum weniger verhängnisvoll als ein Angriff auf Seine Göttlichkeit. Ich gebe zu, daß Seine göttliche Herrlichkeit eine Stellung einnimmt, welche Seine Menschheit nicht besitzen kann. Dennoch ist Seine menschliche Vollkommenheit nicht weniger notwendig, um eine Basis für unsere Segnung durch die Erlösung zu gründen, indem Er Gott in Seiner Gerechtigkeit und Liebe verherrlichte. Damit beschäftigt sich der Apostel jetzt. Jesus war genauso wahrhaftig Gott wie Mensch. In beiden Wesenszügen steht Er über den Engeln. Seine Überlegenheit als Sohn Gottes wurde im ersten Kapitel in meisterlicher Weise aus der Juden eigenen Schriften bewiesen. Daraus hatte Paulus seine Schlußfolgerungen gezogen und mit äußerstem Nachdruck darauf bestanden, ein solches Zeugnis zu beachten, und vor der Gefahr gewarnt, dasselbe aufzugeben. Das Gesetz war, wie er anderswo geschrieben hatte, von Engeln in der Hand eines Mittlers angeordnet worden (Gal 3, 19). Gerade vorher hatte er bezeugt, daß es „fest“ war und daß „jede Übertretung und jeder Ungehorsam gerechte Vergeltung empfing.“ „Wie werden wir entfliehen, wenn wir eine so große Errettung vernachlässigen?“ Eine äußere Verletzung derselben und innere Empörung sollten ihren Lohn finden. Auch die Ahndung in Verbindung mit dem Evangelium würde der Bedeutung der Gnade entsprechend ausfallen; und Gott würde jede Geringschätzung eines Zeugnisses, welches vom Herrn begonnen und vom Heiligen Geist weitergeführt und durch Zeichen, Wunder, Kräfte und Austeilungen nach Seinem Willen bestätigt worden ist, bestrafen.
Jetzt betrachtet der Apostel die andere Seite. „Nicht Engeln hat er unterworfen den zukünftigen Erdkreis.“ (V. 5). Wie Gott auch immer die Engel im Zusammenhang mit dem Gesetz verwendet hatte, die kommende Welt war nicht dazu bestimmt, ihnen untertan zu sein. Es ist das Wohlgefallen Gottes, einen Engel zu benutzen, wenn es sich um eine Frage der Vorsehung, des Gesetzes oder von Kraft handelt. Wo es allerdings um die Offenbarung Seiner Herrlichkeit in Christus geht, muß Er andere Werkzeuge gebrauchen, die Seiner Natur und Seinen Zuneigungen mehr entsprechen. „Es hat aber irgendwo jemand bezeugt und gesagt: „Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst, oder des Menschen Sohn, daß du auf ihn siehst? Du hast ihn ein wenig unter die Engel erniedrigt; mit Herrlichkeit und Ehre hast du ihn gekrönt und ihn gesetzt über die Werke deiner Hände.““ (V. 6-7). So sehen wir als erstes eine Frage zur Kleinheit des Menschen im Vergleich zu dem, was Gott gemacht hat. Kaum gestellt, wird diese Frage beantwortet, und zwar von einem jeden, welcher auf den Zweiten Menschen und nicht auf den ersten blickt. Betrachte den Menschen in Christus und dann spreche, wenn du es vermagst, von Seiner Kleinheit! Betrachte den Menschen in Christus und sei dann fasziniert von den Wundern des Himmels! Sei die Schöpfung auch so groß wie möglich - Er, der alles gemacht hat, steht über ihr. Der Sohn des Menschen besitzt eine Herrlichkeit, welche den Glanz der strahlendsten Gegenstände weit übertrifft. Aber Gott zeigt hier auch, daß die Erniedrigung des Heilands, in welcher Er ein wenig unter die Engel erniedrigt wurde, das Ziel hatte, in die himmlische Herrlichkeit zu führen.
Halten wir fest, daß Er ein wenig unter die Engel erniedrigt wurde! Warum geschah das? „Jetzt aber sehen wir ihm noch nicht alles unterworfen. Wir sehen aber Jesum, der ein wenig unter die Engel wegen des Leidens des Todes erniedrigt war, mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt - sodaß er durch Gottes Gnade für alles den Tod schmeckte.“ (V. 8-9). Das war also noch nicht alles. Er wurde „mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt“ als Frucht Seines Leidens bis in den Tod. Darin lag nicht allein ein herrliches Endziel, sondern auch eine gnädige Absicht. „Sodaß er durch Gottes Gnade für alles den Tod schmeckte.“ Das war die einzige Tür der Befreiung für das, was durch den Sündenfall ruiniert wurde; und es geschah, weil es das einzige Mittel war, in sittlicher Hinsicht Gottes Wesen unangetastet zu erhalten, welcher doch in Liebe auf jedes Werk Seiner Hände herabsah. Anders konnte es keine wirksame, weil gerechte Befreiung geben. Die Erlösung mag unendlich mehr enthalten, aber sie mußte eine gerechte Grundlage haben. Diese hat der Tod Christi gegeben. Indem er aus der Gnade Gottes hervor strömte, ist der Tod Christi die Grundlage der Versöhnung für das Universum. Gottes Gnade hat diesen Tod auch zu einem Teil Seiner Gerechtigkeit gemacht, um den Menschen auf diese Weise aus dem Verderben, dem Elend und dem Unterworfensein unter den Tod, in welchem er lag, herauszuführen. Christi Tod hat in die Hand Gottes zudem jenen unendlichen Schatz der Segnung gelegt, in welchem Er uns jetzt nach Seinem Wohlgefallen als Versöhnte in Seine Gegenwart treten läßt.
Der Apostel zieht jetzt noch nicht alle Folgerungen. Er legt jedoch in diesen beiden Kapiteln die zweifache Herrlichkeit Christi dar: Er ist Sohn Gottes und Sohn des Menschen. Indem er den letzten Gesichtspunkt weiterverfolgt, nähert er sich den Wesenszügen Christi, die Ihn aufgrund Seines Mitempfindens für den Priesterdienst passend machten. Ich denke nicht, daß Jesus nach den Gedanken Gottes Hoherpriester werden konnte, weil Er Mensch war. Nicht Seine Menschheit, sondern Seine Gottheit ist die Grundlage Seiner Herrlichkeit. Nichtsdestoweniger, wäre Er nicht sowohl Mensch als auch Sohn Gottes, könnte Er nicht Hoherpriester geworden sein. Wie für die Sühne war auch für Sein Priestertum diese Voraussetzung unumgänglich. Da es indessen zugunsten des Menschen besteht, muß Er außerdem ein Mensch sein. Darum wird hier gezeigt: „Denn es geziemte ihm, um deswillen alle Dinge und durch den alle Dinge sind, indem er viele Söhne zur Herrlichkeit brachte, den Urheber ihrer Errettung durch Leiden vollkommen zu machen. Denn sowohl der, welcher heiligt, als auch die, welche geheiligt werden, sind alle von einem.“ (V. 10-11). Beachte! Es wird nicht gesagt: „Sind alle eins.“ Diese Höhe erreicht der Hebräerbrief nirgends. Nirgendwo finden wir hier den Leib, noch weniger die Einheit. Den Leib müssen wir in anderen Paulusbriefen suchen, obwohl wir die Einheit in anderer Gestalt auch bei Johannes finden. Doch der Hebräerbrief geht an keiner Stelle so weit. Er beschäftigt sich mit dem, was für die Empfänger noch bedeutsamer war und auch, möchte ich hinzufügen, für uns von höchst möglicher Wichtigkeit ist. Denn alle, welche meinen, Gott entsprechend auf der Grundlage des Epheserbriefes und der Briefe des Johannes leben zu können ohne die Lehre des Hebräerbriefes, machen einen traurigen Fehler.
Mögen die Menschen sagen, was sie wollen - wir haben beim Durchgang durch diese Wüste unsere Bedürfnisse; und auch wenn wir gerne über den Umständen schweben möchten, so kann ein solcher Zustand - falls überhaupt - nicht lange gedeihen. Darum erfahren wir, daß Christus als Priester empfindsam gemacht worden ist für die Schwachheiten, die wir fühlen. Das ist um so notwendiger, weil wir ein geübtes Gewissen Gott gegenüber aufweisen und empfinden, was für eine Wildnis die Sünde hervorgebracht hat - diesen beschmutzten Schauplatz unserer Pilgerreise.
Folglich beginnt der Apostel im letzten Abschnitt des Kapitels die erhabenen Wahrheiten einzuführen, welche einen großen Teil des Briefes an die Hebräer bilden. Er spricht von Christus, dem Heiliger. „Sowohl der, welcher heiligt, als auch die, welche geheiligt werden, sind alle von einem.“ Das spricht von ein und demselben Zustand, ohne auf Einzelheiten einzugehen. „Um welcher Ursache willen er sich nicht schämt, sie Brüder zu nennen.“ Der Heiligende und die Geheiligten besitzen eine gemeinsame Beziehung. Wir möchten vielleicht denken, daß es eine solche Gemeinsamkeit nicht geben kann, weil Er der Heiliger und sie die Geheiligten sind. Aber sie ist da, denn: „Um welcher Ursache willen er sich nicht schämt, sie Brüder zu nennen.“ Er nannte sie niemals so, bevor Er Mensch geworden war; und das geschah erst in Vollkommenheit als auferstandener Mensch aus den Toten. Der Apostel führt ganz passend Psalm 22 usw. ein: „Indem er spricht: „Ich will deinen Namen kundtun meinen Brüdern; inmitten der Versammlung will ich dir lobsingen.“ Und wiederum: „Ich will mein Vertrauen auf ihn setzen.“ (V. 12-13). Er beweist die Wirklichkeit dieser gemeinsamen Beziehung zwischen dem Heiligenden und den Geheiligten. Er konnte wie sie, und zwar in einer Weise, wie sie es niemals gesagt hatten, aussprechen: „Ich will mein Vertrauen auf ihn setzen.“ Tatsächlich ist Psalm 16 ein Muster von Seinem ganzen Weg als Mensch - in Hinsicht auf Vertrauen im Leben, Vertrauen im Tod und Vertrauen in der Auferstehung. Wie in allem hat Er auch hierin den Vorrang; doch es ist ein Vorrang der auf gemeinsamer Grundlage beruht. Er könnte Ihm nicht gerecht werden, wäre Er nicht ein Mensch gewesen. Wäre Er ausschließlich Gott, würde jedes Reden von einem Vertrauen auf Gott in Bezug auf Ihn unnatürlich und unmöglich sein. Es gilt also auch für Ihn, obwohl Er der Heiligende ist, daß Er und sie „von einem“ sind. So lesen wir weiter: „Siehe, ich und die Kinder, die Gott mir gegeben hat.“ Das ist zwar ein anderer, aber doch ein genauso guter Beweis von einer gemeinsamen Verwandtschaftsbeziehung.
„Weil nun die Kinder Blutes und Fleisches teilhaftig sind, hat auch er in gleicher Weise an denselben teilgenommen, auf daß er durch den Tod den zunichte machte, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel, und alle die befreite, welche durch Todesfurcht das ganze Leben hindurch der Knechtschaft unterworfen waren. Denn er nimmt sich fürwahr nicht der Engel an.“ (V. 14-16). Letzteres besagt, daß Er sich nicht besonders mit den Engeln beschäftigt. Er hilft ihnen nicht. Sie sind nicht die Gegenstände Seiner Anteilnahme in dem Werk, das hier beschrieben wird. „Sondern des Samens Abrahams nimmt er sich an. Daher mußte er in allem den Brüdern gleich werden, auf daß er in den Sachen mit Gott ein barmherziger und treuer Hoherpriester werden möchte [hier finden wir den Grund für alle diese Beweise von Seinem Menschsein], um die Sünden des Volkes zu sühnen.“ Ich benutze das Wort „sühnen“ oder „Sühne“, weil es dem Wort „Versöhnung“ unbedingt vorzuziehen ist 1. Man kann nicht von einem Versöhnen der Sünden sprechen. Es geht nicht darum, Sündiges wieder in Ordnung zu bringen. Für letzteres ist Sühnung geschehen; das Volk indessen wurde versöhnt. Ehemalige Sünder sind mit Gott versöhnt. Sünden hingegen lassen in sich selbst keine Versöhnung zu (das wäre ein großer Irrtum). Wegen der Sünde des Volkes ist sowohl Sühne als auch Versöhnung erforderlich. „Denn worin er selbst gelitten hat, als er versucht wurde, vermag er denen zu helfen, die versucht werden.“ (V. 18). Für Ihn bestand die Versuchung ausschließlich in Leiden. Er litt, indem Er versucht wurde, wegen jener inneren Heiligkeit, welche die Versuchung zurückwies, aber gleichzeitig ihre Schärfe auf das Tiefste empfand.
Fußnoten
- 1 Das griechische Wort kann beides bedeuten. (Übs.).