Einführender Vortrag zum 2. Timotheusbrief
Kapitel 1
„Paulus, Apostel Christi Jesu durch Gottes Willen, nach Verheißung“ (V. 1). Jetzt geht es nicht um ein Gebot, als spräche er von Autorität, sondern „nach Verheißung des Lebens, das in Christus Jesu ist.“ Hier stand das Zerbröckeln aller Dinge vor dem Apostel. Darum ist es eines der besonderen Kennzeichen dieses zweiten Briefes, dass er das herausstellt, was niemals vergeht – was schon bestand, bevor es überhaupt eine Welt gab, die sich auflösen kann, nämlich das Leben, welches in Christus war, bevor die Welt begann.
So erreicht Paulus das Ende seines Dienstes und seine Gedanken berühren jene des Apostels Johannes. In der Lehre Johannes' ist nichts kennzeichnender für ihn als das Leben in Christus. Nun erkennen wir, wie Paulus, als er jene Grenze zu den schwierigen und sehr gefährlichen Zeiten berührt, in denen Johannes allein zurückbleiben sollte, in letzten Bemerkungen gerade die Wahrheit vorstellt, welche Johannes mit besonderer Sorgfalt und Fülle entwickeln würde.
„Timotheus, meinem geliebten Kinde: Gnade, Barmherzigkeit, Friede von Gott, dem Vater, und Christus Jesu, unserem Herrn! Ich danke Gott, dem ich von meinen Voreltern her ... diene“ (V. 2–3). Was für eine ungewöhnliche Sprache bei Paulus! Wie kommt das? Paulus, „der Alte“, wie er anderswo schreibt (Philemon 9), stand kurz davor, die Welt zu verlassen. Tätiger Dienst lag nicht mehr vor ihm. Diesen hatte er bis zum Äußersten kennengelernt; doch er war zu Ende. Er hatte nicht länger mehr zu erwarten, Kämpfe für die Kirche (Versammlung) Gottes kämpfen zu müssen. Er hatte den guten Kampf des Glaubens gekämpft. In der Zukunft mussten andere dieses Werk fortsetzen. Jetzt standen vor seinem Herzen – wie sie auch dem Grundsatz nach, wunderbar zu sagen!, vor unserem sterbenden Herrn standen – zwei Dinge: Erstens ein tieferes Bewusstsein von dem, was in Gott ist, wie es sich in Christus offenbart hat, bevor es eine Schöpfung gab, und zweitens ein umso tieferes Empfinden von dem, was in der menschlichen Natur anerkannt werden kann. Anscheinend sind diese beiden Wahrheiten für viele sehr schwer zu vereinbaren. Nach ihrer Ansicht ist der Gedanke, dass der Empfang des Lebens in Christus sehr kostbar und ein Preis ist, dem das Herz sich stets zuwendet, dazu da, jede Anerkennung von Dingen, die nicht diese Höhe erreichen, auszuschließen. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Als der Herr in seinen Dienst eintrat, sagte Er: „Was habe ich mit dir zu schaffen, Weib?“ (Johannes 2, 4). Doch als Er am Kreuz starb, beruft Er Johannes, für seine Mutter zu sorgen. Eine ähnliche Verbindung erkennen wir auch bei Paulus. Natürlich war sie, wie kaum gesagt werden muss, bei unserem Herrn unendlich tiefgehender. Der Knecht folgte indessen, soweit möglich, unmittelbar den Schritten seines Meisters.
Es ist schön, diese doppelten Bemühungen und Gedankenrichtungen des Apostels aufzuspüren. Dabei handelt es sich einerseits um das, was unvergänglich ist und sich über und jenseits der Natur befindet; und im Zusammenhang damit legt er andererseits den äußersten Wert auf alles, was er in jenen Menschen anerkennen kann, die auf natürliche Weise mit ihm verbunden sind, d. i. jede Familie, die Gott fürchtet. „Ich danke Gott, dem ich von meinen Voreltern her mit reinem Gewissen diene, wie unablässig ich deiner gedenke in meinen Gebeten Nacht und Tag, voll Verlangen, dich zu sehen, indem ich eingedenk bin deiner Tränen.“ Darüber hatte er bisher noch kein Wort verlauten lassen. In dem Charakter des Timotheus gab es einige Schwächen. In ihm vermischte sich anscheinend ängstliches Zurückschrecken vor Leid mit Schamgefühl. Er war ein Mann, der einen stärkeren Arm, als er selbst hatte, benötigte, um sich darauf zu stützen. Er war nun einmal so. Gott hatte ihn so gemacht. Es hat keinen Zweck, dieses zu leugnen. Aber der Apostel erkennt das an, und zwar mit Liebe, was andere vielleicht verachtet hätten. Keineswegs werden hier natürliche oder geistliche Bande gering geschätzt – im Gegenteil.
Timotheus bebte also unter Schwierigkeiten. Er war zu empfindsam gegen schlechte Behandlung, Entmutigungen und die mancherlei Kümmernisse, die über ihn kamen. Der Apostel erinnerte sich gut daran, empfand es tief, fühlte wahrscheinlich sogar mit ihm und verlangte sehr, ihn noch einmal zu sehen. Sein persönlicher Wunsch, zum Herrn zu gehen, behinderte durchaus nicht dieses Verlangen – im Gegenteil. „Auf daß ich mit Freude erfüllt sein möge; indem ich mich erinnere des ungeheuchelten Glaubens in dir, der zuerst wohnte in deiner Großmutter Lois und deiner Mutter Eunike, ich bin aber überzeugt, auch in dir“ (V. 4–5). Ich weise darauf hin, um zu zeigen, dass Bindungen wie diese, welche mit der Natur im Zusammenhang stehen, gerade in jenem Augenblick vor das Herz des Apostels traten. Oberflächlich Denkende mögen vielleicht meinen, dass solche Gedanken zu einer solchen Zeit verbannt und vergessen werden müssten. Es gibt Menschen, welche der Ansicht sind, dass das Herannahen des Todes alle anderen Gedanken auslöschen sollte. Nicht der Apostel Paulus! In seinem weiten Herzen, welches alles so richtig und mit einfältigem Auge beurteilte, vertieften sich in solchen Augenblicken die Empfindungen bezüglich dessen, was er um sich herum sah. Dinge, von denen er bisher nie gesprochen hatte, werden jetzt in ihrer Bedeutung vorgestellt. Das Licht der Ewigkeit beleuchtete ihm schon hell die gegenwärtigen Angelegenheiten, anstatt ihn vollständig aus diesen herauszunehmen. Das muss, wie ich glaube, berücksichtigt werden.
„Um welcher Ursache willen ich dich erinnere, die Gnadengabe Gottes anzufachen, die in dir ist durch das Auflegen meiner Hände. Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Furchtsamkeit gegeben [letzteren zeigte Timotheus], sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. So schäme dich nun nicht des Zeugnisses unseres Herrn [es muss wohl, wie ich vermute, Grund für diese Ermahnung bestanden haben], noch meiner, seines Gefangenen, sondern leide Trübsal mit dem Evangelium, nach der Kraft Gottes; der uns errettet hat und berufen mit heiligem Rufe, nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem eigenen Vorsatz und der Gnade, die uns in Christo Jesu vor den Zeiten der Zeitalter gegeben“ (V. 6–9). Hier kommt Paulus erneut auf das zurück, was völlig außerhalb der Natur steht und schon existierte, bevor ihr Schauplatz ins Dasein trat. Gleichzeitig berücksichtigte er vollkommen alles hienieden, was eine Quelle des Trostes für einen Menschen sein konnte, der den Ruin des Christentums voraussah.
Danach spricht Paulus noch von seinem eigenen Werk und von seinen Leiden. Anstatt diese vor Timotheus zu verbergen, stellt er sie ausführlich vor. Er wollte Timotheus' Herz daran gewöhnen, Härten zu erwarten und nicht zu vermeiden. Weiter schreibt er ihm: „Halte fest das Bild gesunder Worte, die du von mir gehört hast, in Glauben und Liebe, die in Christo Jesu sind. Bewahre das schöne anvertraute Gut durch den Heiligen Geist, der in uns wohnt“ (V. 13–14). Gleichzeitig offenbart er seine Gefühle der Zuneigung in Bezug auf eine besondere Person und ihre Familie. „Der Herr gebe dem Hause des Onesiphorus Barmherzigkeit, denn er hat mich oft erquickt und sich meiner Kette nicht geschämt; sondern als er in Rom war, suchte er mich fleißig auf und fand mich“ (V. 16–17). Onesiphorus handelte wohl nicht nur in Rom auf diese Weise. „Der Herr gebe ihm, daß er von seiten des Herrn Barmherzigkeit finde an jenem Tage!“ (V. 18). In diesem Brief erkennen wir dieselbe Note der Barmherzigkeit wie in dem vorigen. „Und wieviel er in Ephesus diente, weißt du am besten.“