Einführender Vortrag zum 1. Timotheusbrief
Kapitel 2
Im nächsten Kapitel beschäftigt sich der Apostel weiterhin mit dem, was schicklich ist. Wir werden diesen Gegenstand als eines der Hauptthemen des Briefes finden. Es geht nicht nur um die Belehrung für Erlöste oder die Bekehrung von Sündern, sondern auch um den Anstand, der die Erlösten Gottes kennzeichnen sollte – ihr richtiges Verhalten denen gegenüber, die sich außerhalb und innerhalb [der Versammlung; Übs.] befinden. Dabei beginnen wir mit dem, was sich menschlichen Autoritäten gegenüber gehört, also solchen, die draußen sind. „Ich ermahne nun vor allen Dingen, daß Flehen, Gebete, Fürbitten, Danksagungen getan werden für alle Menschen, für Könige und alle, die in Hoheit sind, auf daß wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und würdigem Ernst“ (V. 1–2). Sollte es für uns nicht wichtig sein, ob wir auch wirklich ausreichend besorgt und im Herzen geübt sind in Hinsicht auf das, was uns diesbezüglich geziemt? Nehmen wir tatsächlich den uns zustehenden Platz der Fürsprache ein, und folgen wir darin unserer Pflicht vor Gott, der uns eine so gesegnete Aufgabe gegeben hat? Handeln wir entsprechend den Gedanken Gottes in dieser Welt, und sind wir auch besorgt um solche, die sich außerhalb unserer Reichweite befinden? Wir stehen wirklich schon in dieser Welt in einer erkannten und nahen Beziehung zu einem Heiland-Gott, den wir persönlich kennen. Dieses Bewusstsein führt uns sofort jene Menschen außerhalb vor unsere Blicke. Das Christentum nährt keinen Geist grober und aufsässiger Unabhängigkeit. Und was gehört sich den Obrigkeiten gegenüber? Gebet, Fürbitte, selbst für die Höchsten, seien es Könige oder sonstige Herrscher! Vor allem sie benötigen eine solche Fürbitte. Nichts, außer dem festen Bewusstsein von der unendlichen Segnung jenes Platzes, den die Gnade uns gegeben hat, kann uns zu einem solchen Gebet anleiten und darin stärken. Dennoch sind wir manchmal geneigt, uns in dem Genuss der Gnade auszuruhen, ohne daran zu denken, was uns denen gegenüber geziemt, die draußen sind. Indem wir von dem, was drinnen ist, in Anspruch genommen werden – wie oft vergessen wir die Menschen draußen!
Aber die Begründung reicht tiefer. „Denn dieses ist gut und angenehm vor unserem Heiland-Gott, welcher will, daß alle Menschen errettet werden“ (V. 3–4). Paulus spricht jetzt von Gottes gnädiger Bereitwilligkeit. Nicht seine Ratschlüsse, sondern seine Natur treten hier vor uns. Wir müssten blind sein, wenn wir nicht erkennen, dass in diesen Briefen als ein Hauptthema die gute und liebende Natur Gottes dargestellt wird, welche wünscht, dass wir auf alle Menschen ohne Ausnahme blicken. Natürlich ist es etwas anderes, inwiefern die Ratschlüsse Gottes wirken und wie weit das wirkungsvolle Werk seiner Gnade reicht. Doch nichts kann Gottes Natur ändern; und beides gilt sowohl für den Geist der Gnade, der den Gläubigen geziemt, als auch für ihre eifrige Besorgtheit für die Herrlichkeit Gottes. Darum sagt Paulus: „Denn Gott ist einer, und einer Mittler zwischen Gott und Menschen“ (V. 5). Das kennzeichnet überall die Grundlage des Ersten und Zweiten Timotheusbriefs. Beide sprechen nicht von dem Vater und seiner Familie. Es geht um Gott und den Menschen. Es geht auch nicht um Gott, wie Er einst mit Israel handelte; denn damals gab es diesen Mittler nicht. Damals gab es eine Verheißung. Der Mittler der Gnade war indessen noch nicht gekommen. Aber abgesehen von unseren himmlischen Beziehungen und den vielen Segnungen, die wir auf der Erde schon in unseren Herzen durch den Heiligen Geist kennen und genießen, sollten wir unbedingt noch etwas besonders bedenken und beachten, nämlich den öffentlichen Charakter – wenn ich es so ausdrücken darf – eines Christen und das, was ihn deutlich vor den Menschen auszeichnen sollte. Das ist das Zeugnis von Gott als einem Heiland-Gott – das Zeugnis von einem Gott, der sich mit Menschen beschäftigt. Dementsprechend hat Er sich in einem Mittler offenbart. Darum spricht Paulus in einer solchen Weise von Ihm: „Denn Gott ist einer, und einer Mittler zwischen Gott und Menschen, der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gab zum Lösegeld für alle, wovon das Zeugnis zu seiner Zeit verkündigt werden sollte, wozu ich bestellt worden bin als Herold und Apostel (ich sage die Wahrheit, ich lüge nicht), ein Lehrer der Nationen, in Glauben und Wahrheit.“
Der Apostel verfolgt seine allgemeinen Ermahnungen weiter – allerdings im Blick auf eine angemessene und anständige äußere Ordnung, so wie letztere sogar dem Auge eines unbekehrten Menschen begegnet. „Ich will nun, daß die Männer“ - das gilt also nicht für Frauen - „an jedem Orte beten, indem sie heilige Hände aufheben, ohne Zorn und zweifelnde Überlegung“ (V. 8). Es gibt Anlässe und Orte, wo das Reden vollkommen unpassend für Frauen ist. Männer hingegen beten überall. Es gibt keinen Ort, an dem es nicht angebracht ist; aber es soll „ohne Zorn und zweifelnde Überlegung“ oder Vernünftelei geschehen. Solches widerspräche völlig dem Geist des Gebets. Das Gebet ist ein Ausdruck unserer Abhängigkeit von Gott; und Streitereien auf der einen Seite und jedes ärgerliche Empfinden auf der anderen, selbst wenn wir voraussetzen, dass es einigermaßen gerechtfertigt ist, passt nicht zu einem Gebet. Falls solche Gefühle an ihrem Platz berechtigt sind, so haben sie dennoch beim Nahen zu Gott nichts zu suchen. Gleicherweise ist auch ein Geist des Zweifels ganz und gar unangebracht.
Im Blick auf die Frauen sagt er: „Desgleichen auch, daß die Weiber in bescheidenem Äußeren mit Schamhaftigkeit und Sittsamkeit sich schmücken, nicht mit Haarflechten und Gold oder Perlen oder kostbarer Kleidung“ (V. 9). Es spielt keine Rolle, was der besondere Zeitgeschmack oder die allgemeinen Gewohnheiten einer Zeit oder eines Landes sein mögen – die christliche Frau sowie auch der christliche Mann sollten über dem Zeitlauf stehen und nicht der Welt gleich sein. Daher ist es gerade Mangel in dieser Hinsicht, den Paulus als Gelegenheit nimmt, ihn mit dem Christentum in seiner äußeren Ordnung vor den Menschen zu verbinden. Unser Verlangen sollte aufrichtig dahin gehen, dass unser Heiland-Gott sozusagen nichts von seinen besonderen Wesenszügen [vor der Welt; Übs.] in und durch sein Volk verlieren möge; denn von diesem großen Gesichtspunkt ist der Apostel in diesen Briefen so sehr erfüllt. Auf diese Weise kann also auch eine Frau genauso gut wie ein Mann zu einem richtigen und Gott gemäßen Zeugnis beitragen.
Doch Paulus verfolgt sein Thema noch etwas weiter. Er schreibt: „Ein Weib lerne in der Stille in aller Unterwürfigkeit. Ich erlaube aber einem Weibe nicht, zu lehren, noch über den Mann zu herrschen“ (V. 11–12). Er geht sogar noch etwas darüber hinaus. Eine Frau mag sagen: „Ich missbrauche meine Autorität ja gar nicht; ich übe sie nur aus.“ Doch genau das ist falsch. Es ist ihr verboten, eine solche auszuüben. Das gilt demnach allumfassend. Es spielt keine Rolle, ob die Frau stark und der Mann schwach ist. Es wäre besser gewesen, wenn sie dieses bedacht hätten, bevor sie Ehemann und Ehefrau wurden. Doch selbst in diesem Fall gibt es keine Ausrede. Die Frau hat keine Autorität über ihren Mann auszuüben. Das gilt natürlich (muss ich es noch hinzufügen?) für alle anderen Beziehungen. Darum geht der Apostel bis zu den Wurzeln zurück. „Adam wurde zuerst gebildet, danach Eva; und Adam wurde nicht betrogen, das Weib aber wurde betrogen und fiel in Übertretung“ (V. 13–14). Das bedeutet: Paulus entscheidet die Dinge mit jener wunderbaren Kraft, die Gott ihm mehr als jedem anderen Apostel gegeben hat und die jeden Wesenszug bis zu seinen Quellen im Menschen und in Gott zurückverfolgt. So beruht seine Entscheidung in dieser Angelegenheit auf den unbestreitbaren Tatsachen am Anfang der göttlichen Geschichte in Bezug auf Mann und Frau. In einem gewissen Sinn wurde der Mann nicht verführt. Das war umso schlimmer. Er wurde ein aufsässiger Sünder. Die Frau war schwach und wurde von der Schlange verleitet. Der Mann handelte bewusst – mit offenen Augen. Adam sündigte gegen Gott wissentlich. Natürlich war beider Handeln furchtbar und verderblich; nichtsdestoweniger zeigen sie schon von Anfang an einen Unterschied in ihrem Charakter. Die Männer als Menschenklasse neigen nicht so sehr dazu verführt zu werden wie Frauen. Letztere sind offener, vom Augenschein eingenommen zu werden. Ein Mann mag roher und noch schlimmer sein – herausfordernder in seiner Sünde. Auch der Herr erwähnt dieses ohne Einschränkung. Danach verbindet der Apostel diese Wahrheit mit dem Los einer Frau hier auf der Erde. „Sie wird aber gerettet werden in Kindesnöten, wenn sie bleiben in Glauben und Liebe und Heiligkeit mit Sittsamkeit“ (V. 15). Das heißt nicht einfach: Wenn „sie“ bleibt, sondern vielmehr, wenn „sie bleiben.“ Wie ernst ist dieses Wort sowohl für den Mann als auch die Frau! In seinen Regierungswegen vermischt Gott die ernstesten Wahrheiten mit den persönlichsten Lebensumständen, indem Er zeigt, dass Er die Gewissen in eifrige Übung versetzt haben möchte, sogar wenn es sich um Umstände wie diese handelt. Ich stimme denen nicht zu, welche den Ausdruck „Kindesnöte“ auf die Inkarnation (Fleischwerdung) beziehen.