Einführender Vortrag zum 1. Thessalonicherbrief

Kapitel 5

Einführender Vortrag zum 1. Thessalonicherbrief

Nachdem der Apostel die Thessalonicher mit diesem Trost bezüglich ihrer Geschwister versehen hat, wendet er sich dem Tag des Herrn, das ist seinem Erscheinen, zu. „Was aber die Zeiten und Zeitpunkte betrifft, Brüder, so habt ihr nicht nötig, daß euch geschrieben werde. Denn ihr selbst wisset genau, daß der Tag des Herrn also kommt wie ein Dieb in der Nacht“ (V. 1–2). „Der Tag des Herrn“ ist in der Heiligen Schrift ohne Ausnahme jene Zeit, in welcher der Herr offen sichtbar kommt mit seinem schrecklichen Gericht für die sündigen Menschen. Der Ausdruck steht nirgendwo in irgendeinem Zusammenhang mit einem Christen auf der Erde und Christi Umgang mit ihm. Allerdings gibt es einen ähnlichen Ausdruck, der anscheinend mit den Erlösten verbunden ist. Dieser lautet nicht „Tag des Herrn“, sondern „Tag Christi“. Zugestandenermaßen gibt es zwischen den beiden eine Verbindung. Der „Tag Christi“ spricht von einem besonderen Aspekt des „Tages des Herrn“. Dabei geht es um die Zuteilung eines persönlichen Platzes im Königreich an diejenigen, die in Christus sind. Folglich wird, wenn es sich um die Frucht der Arbeit im Dienst Christi, die Belohnung der Treue und  ähnliches handelt, der „Tag Christi“ erwähnt.

Aber der „Tag des Herrn“ im eigentlichen Sinn ist ohne Ausnahme der Tag, an welchem der Herr das Gericht über den Menschen als solchen auf der Erde ausübt. Über diesen Tag zu schreiben, empfand der Apostel keine Notwendigkeit. Es war schon ausreichend bekannt, dass der Tag des Herrn wie ein Dieb in der Nacht kommt. Das konnte schon aus den Angaben und der Ausdrucksweise des Alten Testaments geschlossen werden. Alle Propheten sprechen davon. Wenn du die Bücher von Jesaja bis Maleachi durchsuchst, wirst du feststellen, dass der Tag Jahwes jener Augenblick göttlichen Eingreifens ist, von dem an der Mensch nicht mehr seine eigenen Wege verfolgen darf. Der Herr-Gott wird sich dann mit dem System der Welt in allen seinen Teilen befassen; und die Götzen der Nationen werden zusammen mit ihren umnachteten Verehrern vergehen. Der Herr hingegen wird an jenem Tag hoch erhoben sein und sein Volk in seine wahre Stellung geführt. Auch die nichtjüdischen Völker werden dann ihren eigenen Platz akzeptieren. Das ist die Zeit, in der sich die göttliche Herrschaft sichtbar entfaltet. Jahwe wird Zion als den Zentralsitz seines irdischen Thrones einnehmen; und alle Völker werden sich seiner Autorität in der Person Christi unterwerfen.

Darum weist der Apostel, wenn er von dem Tag des Herrn spricht, darauf hin, dass letzterer schon ausreichend genug bekannt ist, sodass darüber eigentlich nichts Neues gesagt werden muss. In dieser Hinsicht benötigten die Thessalonicher keine Belehrung. Auf diese Weise wird indessen der Unterschied umso klarer herausgestellt, der in der Handlungsweise [Gottes; Übs.] mit den Erlösten und mit der Welt besteht. Als Paulus sich mit dem Kommen des Herrn befasste, benötigten sie Belehrung, als er vom Tag Jahwes sprach, nicht. Der Tag Jahwes gehörte zur allgemeinen Erkenntnis aus dem Alten Testament. Für einen Schriftkenner, der über das Alte Testament belehrt war, gab es keinen Zweifel über seine Bedeutung. Nicht einmal ein Jude hätte darüber gestritten; und ein Christ beugt sich natürlich dem Zeugnis Gottes im Alten Testament. Dennoch mochte ein Christ vielleicht das noch nicht wissen, was er vor allem verstehen sollte, nämlich die Art und Weise, in welcher seine eigenen besonderen Hoffnungen in Verbindung mit dem Tag Jahwes standen.

Gerade diesbezüglich rufen manche Erklärer sehr viel Verwirrung hervor, indem sie nicht zwischen der Hoffnung des Christen und „dem Tag“ für die Welt zu unterscheiden wissen. Das enthüllt ein großes Geheimnis: Das Herz möchte beides in einem sehen. Wir verstehen gut, dass die Menschen das Beste von beidem haben möchten. Das kann jedoch nicht sein. Folglich schreibt Paulus, wenn er von dem Tag des Herrn spricht (und ich lenke eure Aufmerksamkeit darauf, weil wir seine Bedeutung im nächsten Brief sehen): „Wenn sie sagen: Friede und Sicherheit! dann kommt ein plötzliches Verderben über sie, gleichwie die Geburtswehen über die Schwangere“ (V. 3). Er sagt nicht „über euch“, sondern „über sie“. Warum dieser Unterschied? Wenn er von der Ankunft des Herrn redet, schreibt er: „euch“ und „wir“; wenn er sich jedoch mit dem Tag Jahwes beschäftigt, lesen wir: „sie“.

Tatsächlich schließt der Apostel die Gläubigen aus; denn er sagt: „Ihr aber, Brüder, seid nicht in Finsternis, daß euch der Tag wie ein Dieb ergreife.“ Dazu gibt er eine sittliche Begründung: „Ihr alle seid Söhne des Lichtes und Söhne des Tages; wir sind nicht von der Nacht, noch von der Finsternis. Also laßt uns nun nicht schlafen wie die übrigen, sondern wachen und nüchtern sein. Denn die da schlafen, schlafen des Nachts, und die da trunken sind, sind des Nachts trunken. Wir aber, die von dem Tage sind, laßt uns nüchtern sein, angetan mit dem Brustharnisch des Glaubens und der Liebe und als Helm mit der Hoffnung der Seligkeit. Denn Gott hat uns nicht zum Zorn gesetzt, sondern zur Erlangung der Seligkeit durch unseren Herrn Jesus Christus“ (V. 5–9). „Seligkeit“ bedeutet hier die vollständige Befreiung, die noch nicht da ist – die Erlösung des Leibes und nicht allein der Seele. Denn Christus starb für uns, „auf daß wir, sei es daß wir wachen oder schlafen, zusammen mit ihm leben“ (V. 10).

Beachten wir sorgfältig, dass das Wachen und Schlafen sich hier auf den Leib bezieht. Es hat überhaupt nichts mit unserem sittlichen Zustand zu tun. Unmöglich könnte der Heilige Geist sagen, dass wir mit dem Herrn zusammenleben – unabhängig davon, ob wir uns in einem richtigen oder falschen Zustand befinden. Der Heilige Geist sieht einen sündigen Zustand niemals als etwas Leichtzunehmendes an. Nichts liegt der Redeweise der Heiligen Schrift ferner, als dass der Geist Gottes mit Gleichgültigkeit darüber hinweggeht, ob ein Erlöster in einem guten oder schlechten Zustand ist. Zweifellos hat Paulus soeben die Worte „wachen oder schlafen“ in einem anderen Sinn benutzt. Dabei scheint er mir aber vorauszusetzen, dass ein Gläubiger bei der weiteren Verfolgung des Themas sie unmöglich in einer sittlichen Bedeutung verstehen könnte. In Vers 6, zum Beispiel, geht es beim Schlafen oder Wachen wirklich um sittliche Zustände. Wenn wir jedoch zum 10. Vers kommen, bezieht sich dieser auf die Frage von Leben und Tod im Leib und nicht auf die Wege der Erlösten. Tatsächlich ist diese Art des Aufnehmens von Worten, um sie danach in einem anderen Sinn wiederzuverwenden, eines der Kennzeichen des sprunghaften, lebendigen und kraftvollen Stils des Apostels.

Ich würde diese Bemerkung nicht machen, wenn ich nicht ausgezeichnete Männer gekannt hätte, die manchmal in großer Gefahr standen, diese Tatsache zu übersehen, und die Schrift in einem eingeengten und falsch-buchstäblichen Sinn betrachteten. Das ist nicht die rechte Art, um die Bibel zu verstehen. Darin liegt auch eine der großen Gefahren bei der Benutzung einer Konkordanz für Bibelleser, welche durch Wortgleichheit gefangen werden, anstatt die Reichweite der Worte und ihre jeweilige wahre Bedeutung zu erfassen suchen.

Wir werden also dann mit Ihm leben. „Deshalb“, sagt Paulus, „ermuntert einander und erbauet einer den anderen“ (V. 11). Danach gibt er ihnen bestimmte Belehrungen; und ich weise darauf hin, weil sie von praktischer Bedeutung sind. Er fordert diese jungen Gläubigen auf, jene zu erkennen, die unter ihnen arbeiteten und ihnen vorstanden bzw. sie im Herrn führten und ermahnten. Sie sollten diese um ihres Werkes willen in Liebe sehr hochschätzen und in Frieden untereinander sein.

Diese Ermahnung ist nach meiner Meinung immer angemessen und entstammt großer Weisheit; und sie ist auch für uns sehr wertvoll, und zwar aus dem einfachen Grund, weil wir uns in einem gewissen Maß – wenn auch aus anderen Gründen – in ähnlichen Umständen befinden wie diese Erlösten in Thessalonich. Sicherlich befanden sie sich noch in einem vergleichsweise kindlichen Zustand – viel mehr als meine Zuhörer hier. Doch wie belehrt Erlöste auch sind – der Herr gibt ihnen solche, die arbeiten und ihnen vorstehen im Herrn; denn derselbe Herr gibt gewiss immer noch dieselben Mittel der Hilfe und der Aufsicht. Er erweckt seine Arbeiter und sendet sie in die Welt. Genauso stammen von Ihm solche, welche die sittliche Kraft und Weisheit besitzen, um zu führen. Demnach gilt jenseits allen rechtmäßigen Widerspruchs für die Thessalonicher (und nicht nur für sie), dass nicht unbedingt eine apostolische Einsetzung nötig ist, wenn einige Brüder den anderen im Herrn vorstehen. Es ist ein Mangel und sogar ein Fehler Letzteres auf eine solche Bestellung festzulegen, obwohl zugegeben sei, dass die Apostel gewöhnlich Älteste eingesetzt haben. Aber der Inhalt dessen, was wir hier finden, besteht darin, dass sich auch bei einer Einsetzung geistliche Kraft und Stärke in dieser Weise gezeigt haben müssen. So ermahnt der Größte der Apostel die Erlösten, solche Männer anzuerkennen, die mit diesen Kennzeichen – und ausschließlich diesen – ihnen im Herrn vorstanden, völlig unabhängig von jeder apostolischen Amtshandlung. Zweifellos war eine angemessene äußere Einsetzung an ihrem Platz wünschenswert und wichtig. Was ist aber mit Orten (und ich möchte hinzufügen: in Zeiten), in denen eine solche Amtshandlung nicht möglich war und ist?

Das sind jetzt unsere Umstände; denn so sehr wir vielleicht eine solche äußere Einsetzung begrüßen und würdigen möchten – wir können sie nicht haben. Wir besitzen diese biblische Autorität nicht; wer sollte demnach eine solche Bestellung durchführen? Zweifellos versuchen viele christliche Körperschaften und insbesondere ihre Leiter Paulus, Barnabas sowie Titus nachzuahmen. Aber ganz gewiss ist bloße Nachahmung nichts wert oder sogar Schlimmeres; und außerdem sind jene, die führen bzw. dazu befähigt sind, diejenigen, welche eingesetzt werden, und nicht die Personen, welche einsetzen, wenn wir uns wirklich vor dem Herrn beugen 1. Doch viel mehr, nämlich unmittelbare Autorität vonseiten des Herrn, ist zu diesem Zweck nötig. Wo finden wir diese heutzutage? Es ist klar: Wenn deine Autorität zur Einsetzung aus dir selbst stammt, kann diese nicht erhabener sein als ihre Quelle. Handelt es sich um eine von Menschen gegebene Autorität, kann sie nicht mehr als eine menschliche Macht ausüben. Doch der Apostel – oder vielmehr der vorausschauende Heilige Geist – begegnet in seiner Ermahnung verschiedenen Unklarheiten. Er zeigt, dass eine Gruppe von Gläubigen, auch wenn sie sich noch nicht lange versammeln, mehr als einen Mann in ihrer Mitte haben kann, der befähigt ist, die anderen zu führen. Ein solcher hat das Recht auf Achtung und Liebe wegen seines Werkes in dieser Arbeit. Falls es heutzutage solche gibt (und wer will es leugnen?) – sind die Erlösten nicht aufgerufen, diese zu erkennen? Gibt es niemand, der unter ihnen arbeitet – niemand, der sie im Herrn führt? Offensichtlich sollten wir solchen Wahrheiten wie diesen nicht ausweichen; denn die gegenwärtige und schon lange anhaltende Verwirrung in der Christenheit hebt diese Ermahnung keinesfalls auf, sondern gibt vielmehr einen neuen Grund, an ihr sowie an der ganzen Heiligen Schrift festzuhalten. Das mag für hochdenkende Menschen nicht immer angenehm sein, aber seien wir versichert: Diese Wahrheit ist an ihrem Platz von nicht geringer Bedeutung.

Ferner ruft der Apostel in den Umständen, in welchen die Thessalonicher sich befanden, die Brüder auf, gegen unordentliche Wege wachsam zu sein; denn unter ihnen scheint die Gefahr des Eigenwillens bestanden zu haben. Beides geht nämlich zusammen: Friede fördert Liebe und Achtung. Unordentlich wandelnde Menschen neigen dazu, niemand über sich im Herrn anzuerkennen. Daher ermahnt Paulus alle, solche zu ermahnen. Außerdem sollen sie die Kleinmütigen trösten, die Schwachen stützen und gegen alle langmütig sein. Danach folgt eine Gruppe von anderen Ermahnungen, bei denen ich jetzt nicht zu verweilen brauche. Mein Thema ist hier nicht so sehr, den ermahnenden Teil des Briefes zu betrachten, sondern vielmehr den allgemeinen Faden der Zielrichtung vorzustellen, die ihn durchzieht, um einen zusammenfassenden Blick auf seinen Aufbau zu geben.

Fußnoten

  • 1 im Unterschied zu der heutigen Praxis. (Übs.)
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