Einführender Vortrag zum 1. Thessalonicherbrief
Kapitel 3
Aber diese Erwartung hemmte nicht im Geringsten die zarte Anteilnahme des Apostels an denen, die durch irgendwelche besonderen Leiden niedergedrückt wurden, denn das Christentum ist weder verträumt noch gefühlsselig, sondern sehr wirksam in seiner Kraft, sich jedem Bedürfnis anzupassen. Es ist eine echte Befreiung von allen wirklichkeitsfremden Vorstellungen – sei es aufseiten der Vernunft, sei es der Phantasie in den Dingen Gottes. Der Aberglaube hat seine Gefahren, aber ebenso auch der Dogmatismus 1 des reinen Intellekts. Die Heilige Schrift erhebt den Gläubigen über beide Schwierigkeiten. Dennoch zeigt der Apostel, welche Besorgnis er bezüglich der Thessalonicher hegte. Er bezweifelte keinesfalls das wachsame Auge des Herrn. Nichtsdestoweniger war sein ganzes Herz ihretwegen in Bewegung. Da er nicht selbst reisen konnte, sandte er Timotheus; und er freute sich sehr über den guten Bericht, welchen er durch letzteren erhalten hatte. Paulus hatte nämlich befürchtet, dass sie durch die große Woge der Schwierigkeiten, die über sie hinweg brandete, erschüttert worden waren. Zweifellos waren sie in einem gewissen Maß darauf vorbereitet; denn er hatte ihnen mitgeteilt, als er noch bei ihnen weilte, dass sie zum Erdulden solcher Drangsale „gesetzt“ seien.
Wie erfreut war jetzt sein Geist, als er erfuhr, dass der Versucher keinen Erfolg gehabt hatte! Timotheus war mit guten Nachrichten hinsichtlich ihres Glaubens und ihrer Liebe zurückgekehrt. Trotz allem hatten sie den Apostel allezeit in gutem Andenken, „indem euch sehr verlangt, uns zu sehen, gleichwie auch uns euch“ (V. 6). Die Liebe war immer noch brennend – wie in ihm, so auch in ihnen. „Deswegen, Brüder, sind wir in all unserer Not und Drangsal über euch getröstet worden durch euren Glauben; denn jetzt leben wir, wenn ihr feststehet im Herrn“ (V. 7–8). Aber inmitten der Danksagung flehte er für sie.
Wir können in diesem Brief insbesondere zwei Gebete erkennen. Das erste steht am Ende von Kapitel 3, das zweite am Ende des letzten Kapitels. Das erste enthält mehr oder weniger einen Rückblick auf den Eingang des Evangeliums unter den Erlösten in Thessalonich und den Dienst des Apostels selbst. Dieser Dienst sollte die Thessalonicher natürlich zur Nachahmung anregen in Bezug auf den wahren Charakter und die Ausführung der Arbeit für den Herrn im Umgang mit allen Menschen. Paulus verbindet ihn innig mit Gebet in Blick auf folgendes Ziel: „Unser Gott und Vater selbst aber und unser Herr Jesus richte unseren Weg zu euch. Euch aber mache der Herr völlig und überströmend in der Liebe gegeneinander und gegen alle (gleichwie auch wir gegen euch sind), um eure Herzen tadellos in Heiligkeit zu befestigen vor unserem Gott und Vater, bei der Ankunft unseres Herrn Jesus mit allen seinen Heiligen“ (V. 11–13).
Hier finden wir sofort klare Richtungsweisung für unsere Gedanken, und zwar in mehr als nur einer Weise. Paulus betet nicht, dass sie in Heiligkeit befestigt sein möchten, damit sie einander lieben können. Stattdessen bittet er darum, dass sie in Liebe überströmen, damit sie in Heiligkeit befestigt seien. Liebe geht immer der Heiligkeit voraus. Das beginnt mit der Bekehrung – am Anfang des Werkes in der Seele – bis zum letzten Augenblick. Was das Herz zuerst zu Gott emporhebt, ist ein schwaches Gefühl von seiner Liebe in Christus. Ich will jetzt nicht von der Liebe Gottes sprechen, welche durch den Heiligen Geist, der uns gegeben wird, in unsere Herzen leuchtet. In dem ersten Fall gibt es noch keine Kraft, um in der göttlichen Liebe zu ruhen – kein Überströmen der Liebe. Doch es gibt wenigstens eine Hoffnung auf Liebe – auch wenn sie noch so schwach ist. Dabei mag es sich einfach nur um den Gedanken handeln, dass „Überfluß an Brot“ vorhanden ist für jeden „verlorenen Sohn“, der im Haus des Vaters seine Zuflucht sucht (Lukas 15). Wenn wir auf Gott und Christus blicken und die Gnade, welche den Ratschlüssen des Vaters und dem Werk des Sohnes entsprechen, ist das zugegebenermaßen ein dürftiger Maßstab. Die Hoffnung auf die Stellung eines Knechtes in einem solchen Haus ist armselig. Dennoch ist ein solcher Stand in den Augen eines Sünders, dessen Augen durch Selbstsucht und Befriedigung seiner Lüste und Leidenschaften verdunkelt und verengt sind, kein geringes Teil. Und ist die Sünde in jeder Form nicht Selbstsucht? Wir wissen, wie dieselbe das Herz verschließt und jede Erwartung von Güte in anderen zerstört. Die Gnade Gottes indessen bewirkt – wenn auch vielleicht zuerst als winzigen Funken, trotzdem handelt es sich um einen Anfang – das, was wirklich groß, gut und ewig ist, und facht dieses dann zur vollen Flamme an. Folglich macht sich der „verlorene Sohn“, wie wir lesen dürfen, von dem fernen Land auf, weil er sonst keine Ruhe finden kann. Nichtsdestoweniger lag auf der Seite des Vaters unvergleichlich mehr Entschiedenheit vor, ihm entgegenzugehen, wie wir gut wissen; denn es war nicht der Sohn, welcher zum Vater lief, sondern der Vater zum Sohn. So ist es immer. Es ist dasselbe wahre Wirken der Liebe, wie schwach es anfangs auch zu sehen sein mag, das den Sünder von seinem elenden Sündenbett aufweckt. Niemand könnte letzteres Ruhe nennen. Liebe stört ihn auf aus den schuldigen Träumen des Todes. Auf der anderen Seite ist es die Fülle der Liebe, welche einem Herzen erlaubt, in die Reichtümer der Gnade gegen uns einzutreten, indem sie nicht einfach ein Pfand dieser Reichtümer aufleuchten lässt, sondern diese selbst in unser Herz senkt. Diese Heiligkeit bewahrt nicht nur in den Wünschen, sondern wirklich und tiefgehend, den Frieden in Liebe.
Es ist jetzt natürlich nicht meine Aufgabe, den wunderbaren Weg zu entfalten, auf welchem sich diese Liebe an uns erweist. Ich beabsichtige auch nicht, denn es ist hier nicht nötig, mein eigentliches Thema zu verlassen, um von der Offenbarung dieser Liebe in Christus zu sprechen. Letztere ist die Liebe, welche Gott erwiesen hat, indem Er uns, als wir noch Sünder waren, mit sich selbst durch den Tod seines Sohnes versöhnt hat, sodass wir sogar in Ihm frohlocken dürfen durch unseren Herrn Jesus Christus. Doch ich bestehe darauf, dass alle praktische Heiligkeit eine Frucht der Liebe ist, welcher sich das Herz übergeben hat und welche es in Einfalt annimmt und völlig genießt. Das gilt also für eine Seele, die ausschließlich die Gnade Gottes kennenlernen möchte.
Hier verlangt der Apostel auf das Bestimmteste ihr Wachstum in Heiligkeit und betet für sie, auf dass sie würden „überströmend in der Liebe gegeneinander und gegen alle (gleichwie auch wir gegen euch sind), um eure Herzen tadellos in Heiligkeit zu befestigen.“ Auch die Art und Weise, in welcher diese Ermahnung hier mit dem Kommen Christi verbunden wird, ist bemerkenswert. Paulus setzt voraus, dass die Heiligkeit aus der Liebe herausströmt und weiter fortschreitet und solange ungebrochen anhält, bis sich der Heilige zuletzt in der Entfaltung der Herrlichkeit befindet. Das ist nicht der Zeitpunkt, zu dem Christus kommt, um uns aufzunehmen, sondern der Augenblick, an dem Gott uns mit Ihm bringen wird. Lasst mich fragen: Warum wird in diesem Kapitel nicht von dem Kommen gesprochen, bei dem Er die Heiligen zu sich nimmt, wie in dem folgenden? – Weil hier unser Wandel in Liebe und Heiligkeit im Blick des Heiligen Geistes steht! Und dieser Wandel hat engste Verbindung zum Erscheinen Christi, bei dem wir mit Ihm kommen. Dafür gibt es einen ganz einfachen Grund. Wo es sich um den Wandel handelt, steht eindeutig die Verantwortlichkeit vor den Erlösten; und die Erscheinung des Herrn Jesus ist gerade der Zeitpunkt, an dem wir in den Resultaten unserer Verantwortlichkeit offenbar werden. Dann, wenn keine Selbstliebe länger unser Urteil über uns selbst und unsere Wertschätzung anderer verdunkeln kann und nur noch die Wahrheit übrig bleibt und sich entfaltet, wird jeder von uns in voller Klarheit sehen, und zwar alles, was in uns bewirkt worden ist und was wir getan haben. Der Herr wird ganz gewiss kommen, um uns in seine Gegenwart zu versetzen. Er wird aber auch bewirken, dass wir mit Ihm zusammen bei seiner Ankunft in Herrlichkeit erscheinen. In diesem Augenblick wird allerseits offenbar werden, inwieweit wir treu oder untreu waren. Alles wird zu seiner Herrlichkeit ausschlagen. Folglich sehen wir in diesem dritten Kapitel, wie mir scheint, den Grund dafür, warum der Heilige Geist die Aufmerksamkeit auf sein Kommen mit allen seinen Heiligen richtet und nicht auf sein Kommen für sie.
Fußnoten
- 1 Dogmatismus = unkritische Behauptung von Lehrsätzen (Übs.)