Das Buch des Propheten Jeremia
Kapitel 5
Alle Klassen des Volkes werden verurteilt
1. Die Geringen und die Großen, die Propheten und die Priester
Ist einer da, der Recht übt?
„Durchstreift die Gassen Jerusalems, und seht doch und erkundet und sucht auf ihren Plätzen, ob ihr jemand findet, ob einer da ist, der Recht übt, der Treue sucht – so will ich ihr vergeben. Und wenn sie sprechen: „So wahr der HERR lebt!“, so schwören sie darum doch falsch. HERR, sind deine Augen nicht auf die Treue gerichtet? Du hast sie geschlagen, aber es hat sie nicht geschmerzt. Du hast sie vernichtet – sie haben sich geweigert, Zucht anzunehmen; sie haben ihre Angesichter härter gemacht als Fels, sie haben sich geweigert umzukehren. Und ich sprach: Nur Geringe sind es; die sind betört, weil sie den Weg des HERRN, das Recht ihres Gottes, nicht kennen. Ich will doch zu den Großen gehen und mit ihnen reden; denn sie kennen den Weg des HERRN, das Recht ihres Gottes. Doch sie haben allesamt das Joch zerbrochen, die Fesseln zerrissen. Darum schlägt sie ein Löwe aus dem Wald, ein Wolf der Steppen vertilgt sie, ein Leopard belauert ihre Städte: Jeder, der aus ihnen hinausgeht, wird zerrissen; denn ihre Übertretungen sind viele, zahlreich ihre Abtrünnigkeiten. Weshalb sollte ich dir vergeben? Deine Söhne haben mich verlassen und schwören bei Nicht- Göttern. Obwohl ich sie schwören ließ, haben sie Ehebruch getrieben und laufen scharenweise ins Hurenhaus. Wie wohlgenährte Pferde schweifen sie umher; sie wiehern jeder nach der Frau seines Nächsten. Sollte ich dies nicht heimsuchen, spricht der HERR, oder sollte an einer Nation wie dieser meine Seele sich nicht rächen?“ (Jer 5,1–9)
Es ist der große Wunsch Gottes, einen Beweggrund zur Vergebung zu finden. In früherer Zeit hatte er schon zu Abraham über Sodom gesagt: „So will ich hinab gehen und sehen, ob sie nach ihrem Geschrei, das vor mich gekommen ist, völlig getan haben; und wenn nicht, so will ich es wissen“ (1. Mo 18,21). Auf diese Weise gab er Abraham die Gelegenheit, für die schuldige Stadt einzutreten und versprach, sie nicht zu zerstören, wenn er zehn Gerechte fände (vgl. 1. Mo 18,21–32).
Hier geht er noch weiter: „Ob einer da ist, der Recht übt, der Treue sucht – so will ich ihr vergeben“ (V. 1). Aber es ist umsonst. Selbst die Züchtigungen, die schon ausgeführt worden waren, um sie zurecht zu bringen, hatten keine Wirkung gezeigt: „Sie haben sich geweigert, umzukehren“ (V. 3). Ohne sie entschuldigen zu wollen, hat der HERR Erbarmen mit ihnen: „Nur Geringe sind es“ (V. 4). Aber der HERR sucht noch weiter: Vielleicht werden die Großen hören, diejenigen mit der größten Bildung und Verantwortung? Diese sind sogar noch widerspenstiger, „zahlreich ihre Abtrünnigkeiten“ (V. 6) und die Schilderung ihrer Übertretungen ruft die Frage hervor: „Sollte ich dies nicht heimsuchen?“ (V. 9.29; 9,9).
Die Ankündigung eines maßvollen Gerichts
„Ersteigt seine Mauern und zerstört, doch richtet ihn nicht völlig zugrunde; nehmt seine Ranken weg, denn sie sind nicht des HERRN. Denn das Haus Israel und das Haus Juda haben sehr treulos gegen mich gehandelt, spricht der HERR. Sie haben den HERRN verleugnet und gesagt: Er ist nicht; und kein Unglück wird über uns kommen, und Schwert und Hunger werden wir nicht sehen; und die Propheten werden zu Wind werden, und der da redet, ist nicht in ihnen: So wird ihnen geschehen. Darum, so spricht der HERR, der Gott der Heerscharen: Weil ihr dieses Wort redet, siehe, so will ich meine Worte in deinem Mund zu Feuer machen und dieses Volk zu Holz, und es soll sie verzehren. Siehe, ich bringe über euch eine Nation aus der Ferne, Haus Israel, spricht der HERR; es ist eine starke Nation, es ist eine Nation von alters her, eine Nation, deren Sprache du nicht kennst und deren Rede du nicht verstehst. Ihr Köcher ist wie ein offenes Grab; sie sind allesamt Helden. Und sie wird deine Ernte verzehren und dein Brot, sie wird deine Söhne und deine Töchter verzehren, sie wird verzehren dein Kleinvieh und deine Rinder, verzehren deinen Weinstock und deinen Feigenbaum; deine festen Städte, auf die du dich verlässt, wird sie mit dem Schwert zerstören. Aber auch in jenen Tagen, spricht der HERR, werde ich euch nicht den Garaus machen. Und es soll geschehen, wenn ihr sagen werdet: „Weshalb hat der HERR, unser Gott, uns dies alles getan?“, so sprich zu ihnen: Wie ihr mich verlassen und fremden Göttern gedient habt in eurem Land, so sollt ihr Fremden dienen in einem Land, das euch nicht gehört.“ (Jer 5,10–19)
Die Langmut Gottes, die zur Buße leitet und vor der Bestrafung abwartet bis der Auflehnung nicht mehr abzuhelfen ist, wird oft als Vorwand genommen, sein Eingreifen anzuzweifeln. In Prediger 8,11 lesen wir: „Weil das Urteil über böse Taten nicht schnell vollzogen wird, darum ist das Herz der Menschenkinder in ihnen voll, Böses zu tun“. Es ist unnütz, zu sagen: „Kein Unglück wird über uns kommen“ (V. 12), wenn der HERR es angeordnet hat. Der Tag ist nahe, an dem der aus dem Norden kommende Feind über das Volk herfallen wird, es mit dem Schwert vernichten oder in die Gefangenschaft wegführen wird. Wenn Gott eine Züchtigung über sein Volk kommen lässt, behält er sich immer einen Überrest zurück, um seine bedingungslos gegebenen Verheißungen zu erfüllen. Wenn er die Seinen züchtigt, sei es um sie zurecht zu bringen oder um sie zu erproben, kann das von Gott benutzte Werkzeug niemals die Grenzen überschreiten, die er ihm gesetzt hat (vgl. Hiob 1,12; 2,6; 38,11).
Die Propheten und die Priester tragen die größte Schuld
„Verkündet dies im Haus Jakob und lasst es hören in Juda und sprecht: Hört doch dies, törichtes Volk ohne Verstand, die Augen haben und nicht sehen, die Ohren haben und nicht hören. Wollt ihr mich nicht fürchten, spricht der HERR, und vor mir nicht zittern? Der ich dem Meer Sand zur Grenze gesetzt habe, eine ewige Schranke, die es nicht überschreiten wird; und es regen sich seine Wogen, aber sie vermögen nichts, und sie brausen, aber überschreiten sie nicht. Aber dieses Volk hat ein störriges und widerspenstiges Herz; sie sind abgewichen und weggegangen. Und sie sprachen nicht in ihrem Herzen: Lasst uns doch den HERRN, unseren Gott, fürchten, der Regen gibt, sowohl Frühregen als Spätregen zu seiner Zeit; der uns die bestimmten Wochen der Ernte einhält. Eure Ungerechtigkeiten haben dies weggewendet und eure Sünden das Gute von euch abgehalten. Denn unter meinem Volk finden sich Gottlose; sie lauern, wie Vogelfänger sich ducken; sie stellen Fallen, fangen Menschen. Wie ein Käfig voll Vögel, so sind ihre Häuser voll Betrug; darum sind sie groß und reich geworden. Sie sind fett, sie sind glatt; ja, sie überschreiten das Maß der Bosheit. Die Rechtssache richten sie nicht, die Rechtssache der Waisen, so dass es ihnen gelingen könnte; und das Recht der Armen entscheiden sie nicht. Sollte ich dies nicht heimsuchen, spricht der HERR, oder sollte an einer Nation wie dieser meine Seele sich nicht rächen? Entsetzliches und Schauderhaftes ist im Land geschehen: Die Propheten weissagen falsch, und die Priester herrschen unter ihrer Leitung, und mein Volk liebt es so. Was aber werdet ihr tun am Ende von all dem?“ (Jer 5,20–31)
Der HERR ist der Schöpfer, dem selbst das Meer gehorcht. Jeder Mensch sollte ihn fürchten! Wie konnte nur das Volk, das der HERR zu sich gerufen hatte, um sein Gott zu sein, ihn nicht respektieren? Wenn der religiöse Mensch sich von der Gottesfurcht abwendet, verliert er jedes moralische Empfinden und gibt sich hemmungslos seinen Neigungen hin. „Unter meinem Volk finden sich Gottlose“ (V. 26). Dies ist der Charakter der lügnerischen Propheten und der Priester, die durch dieselben herrschen. Aber das gesamte Volk bevorzugt diesen Zustand. Das Verhalten Paschkurs (Kap. 20), dasjenige der Priester und Propheten (Kap. 26,7–11) sowie das von Hananja (Kap. 28) illustrieren treffend diese Feststellungen.
Wie sieht es heute in der Christenheit aus? Dort, wo die Gottesfurcht aufgegeben wird, erscheinen die gleichen Merkmale. Lasst uns, um vor solchem Abweichen bewahrt zu bleiben, in demütiger Weise bemüht sein in der Aufrichtigkeit des Herzens vor Gott und im Vertrauen auf ihn zu wandeln (vgl. Jes 50,10). „Einige mein Herz zur Furcht deines Namens“ (Ps 86,11).