Der verheißene König und sein Reich
Kommentar zum Matthäus-Evangelium
Kapitel 21
Der königliche Einzug in Jerusalem (21,1–11)
„Und als sie sich Jerusalem näherten und nach Bethphage kamen, an den Ölberg, da sandte Jesus zwei Jünger und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf euch gegenüber; und sogleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Fohlen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir. Und wenn jemand etwas zu euch sagt, so sollt ihr sprechen: Der Herr benötigt sie, und sogleich wird er sie senden. Dies aber ist geschehen, damit erfüllt würde, was durch den Propheten geredet ist, der spricht: 'Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir, sanftmütig und auf einer Eselin reitend, und zwar auf einem Fohlen, einem Jungen des Lasttiers.' Als aber die Jünger hingegangen waren und getan hatten, wie Jesus ihnen aufgetragen hatte, führten sie die Eselin und das Fohlen herbei und legten die Kleider auf sie, und er setzte sich darauf. Und eine sehr große Volksmenge breitete ihre Kleider auf dem Weg aus; andere aber hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Die Volksmengen aber, die vor ihm hergingen und die nachfolgten, riefen und sagten: Hosanna dem Sohn Davids! Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn! Hosanna in der Höhe! Und als er in Jerusalem einzog, kam die ganze Stadt in Bewegung und sprach: Wer ist dieser? Die Volksmengen aber sagten: Dieser ist der Prophet, Jesus, der von Nazareth in Galiläa“ (21,1–11).
Der Herr näherte sich der Stadt Jerusalem. Er befand sich mit seinen Jüngern in Bethphage, beim Ölberg, einem anderen Dorf gegenüber, das nicht namentlich genannt ist. Er sagte zu zwei Jüngern: „Geht hin in das Dorf, euch gegenüber; und sogleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Fohlen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir. Und wenn jemand etwas zu euch sagt, so sollt ihr sprechen: Der Herr benötigt sie, und sogleich wird er sie senden.“
Obwohl der Herr verworfen war und sich auf dem Weg nach Jerusalem befand, wo Er das Königtum nicht bekommen, sondern vielmehr leiden und sterben würde, so war Er doch der König, der Sohn Davids. Er stellte sich als Sohn Davids seinem Volk vor, damit sie ohne Entschuldigung seien im Blick auf seine Verwerfung. In Sacharja 9,9 lesen wir: „Frohlocke laut, Tochter Zion; jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König wird zu dir kommen: Gerecht und ein Retter ist er, demütig und auf einem Esel reitend, und zwar auf einem Fohlen, einem Jungen der Eselin.“
Trotz der Sanftmut und Demut, die den Herrn kennzeichneten, handelte Er mit der Autorität, die Er als Herr besaß: Auf seinen Befehl führten die Jünger eine Eselin und ihr Fohlen herbei, ohne dass jemand einen Einwand gehabt hätte. Sie legten ihre Kleider als Sattel darüber und der verworfene König setzte sich darauf.
Eine sehr große Volksmenge folgte Ihm. Die einen breiteten ihre Kleider auf den Weg aus, andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie darüber, um die königliche Straße, die den Sohn Davids zur Stadt des großen Königs führte, entsprechend den orientalischen Sitten zu schmücken. Um dem Herrn Jesus als dem König ein öffentliches Zeugnis zuteil werden zu lassen, brach das vorausgehende und nachfolgende Volk unter der vorübergehenden Wirksamkeit der göttlichen Macht in den Ruf aus: „Hosanna dem Sohn Davids! Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn! Hosanna in der Höhe!“
So jauchzten sie dem Messias zu mit dem Ruf, den der Überrest Israels in einer kommenden Zeit erneuert aussprechen wird, ein Ruf, durch den er dann sein brennendes Verlangen nach Befreiung zum Ausdruck bringt, nachdem er unter der satanischen Macht des falschen Königs gelitten hat (vgl. Ps 118,25.26).
Dabei wird ihn auch das schmerzliche Bewusstsein erfüllen, den Messias bei seinem ersten Kommen verworfen zu haben. „Hosanna“ bedeutet: „Hilf doch!“ oder: „Gib doch Heil!“. Der Herr sagte später zu den Juden: „Siehe, euer Haus wird euch öde gelassen; denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: „Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ (Mt 23,38.39). Die Juden sahen den Herrn, nachdem Er ans Kreuz gegangen war, nicht wieder, bis zu dem Augenblick, wo Er in Herrlichkeit erscheinen wird, zur Befreiung des Überrestes, der während der großen Drangsal zu seiner Aufnahme zubereitet wird.
„Und als er in Jerusalem einzog, kam die ganze Stadt in Bewegung und sprach: Wer ist dieser? Die Volksmengen aber sagten: Dieser ist Jesus, der Prophet, der von Nazareth in Galiläa.“ In Jerusalem hatte niemand eine solche Kundgebung erwartet, denn der Augenblick war ganz nahe, wo man Maßnahmen ergriff, um Ihn zu töten. Die Bewegung, die der Einzug des Herrn in Jerusalem hervorrief, erinnert an die Bestürzung, die es mehr als dreißig Jahre vorher gab, als die Magier vom Morgenland in dieser selben Stadt nach dem König der Juden, der geboren worden war, fragten.
Wie ist dieses Verhalten für den traurigen Zustand des Volkes so bezeichnend; es wurde beunruhigt durch das, was für sie ein Gegenstand der Freude hätte sein sollen! Für die Welt wird es nicht anders sein, wenn Er wiederkommen wird: „Christus wird ... zum zweiten Mal denen, die ihn erwarten, ohne Sünde erscheinen zur Errettung“ (Heb 9,28). Für die übrigen aber, die nichts von Ihm wissen wollten, wird dieses Kommen ein Gegenstand der Bestürzung und der Furcht werden, weil dann „der Tag kommt, brennend wie ein Ofen“ (Mal 3,19). Einen kleinen Augenblick lang werden sie sagen können: „Friede und Sicherheit!“, dann aber kommt ein plötzliches Verderben über sie und sie werden nicht entrinnen.
Als der Herr in Jerusalem einzog, gab die Volksmenge auf die Frage: „Wer ist dieser?“ nicht die Antwort: „Es ist der Sohn Davids“. Sie sagten von Ihm: „Dieser ist Jesus. der Prophet, der von Nazareth in Galiläa.“ Das war zutreffend, aber sie nahmen Ihn nicht als solchen auf. Es scheint, dass in Gegenwart der Juden in Jerusalem, die Christus besonders widerstanden haben, das Volk nicht mehr wagte, Ihn als Sohn Davids zu bekennen. Es war weniger verpflichtend, Ihn als „Prophet, der von Nazareth in Galiläa ist“, zu bezeichnen. Um den verworfenen Jesus zu bekennen, bedarf es des Glaubens. Unter einem vorübergehenden Eindruck zu stehen, nützt nichts, so richtig er auch sein mag. Wir werden bald sehen, wer die sind, die den Mut haben, den Herrn Jesus vor seinen Feinden zu bekennen.
Möge der Herr uns davor bewahren, uns des Bekenntnisses unseres Herrn Jesus zu schämen! Wir sollten stets daran denken, dass vor dem, der heute verachtet wird, sich bald jedes Knie beugen muss.
Der Herr Jesus im Tempel (21,12–17)
„Und Jesus trat in den Tempel ein und trieb alle hinaus, die im Tempel verkauften und kauften; und die Tische der Wechsler und die Sitze der Taubenverkäufer stieß er um. Und er spricht zu ihnen: Es steht geschrieben: 'Mein Haus wird ein Bethaus genannt werden.'; ihr aber macht es zu einer Räuberhöhle. Und es kamen Blinde und Lahme im Tempel zu ihm, und er heilte sie. Als aber die Hohenpriester und die Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder, die im Tempel schrien und sagten: Hosanna dem Sohn Davids!, wurden sie unwillig und sprachen zu ihm: Hörst du, was diese sagen? Jesus aber spricht zu ihnen: Ja, habt ihr nie gelesen: 'Aus dem Mund der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet.'? Und er verließ sie und ging zur Stadt hinaus nach Bethanien und übernachtete dort“ (21,12–17).
Der Herr gebrauchte seine Autorität, um den Tempel von allem zu reinigen, was seiner Bestimmung widersprach, denn es stand geschrieben: „Mein Haus wird ein Bethaus genannt werden“ (Jes 56,7). Dies wird besonders dann der Fall sein, wenn der Herr es bei seinem zweiten Kommen reinigen und die Segnungen einführen wird, wovon Jesaja 56 redet. Die Juden hatten dieses Bethaus zu einer Räuberhöhle gemacht. Der HERR hatte dies schon ihren Vätern vorgeworfen: „Ist denn dieses Haus, das nach meinem Namen genannt ist, eine Räuberhöhle geworden in euren Augen?“ (Jer 7,11). Hier nun sagt der Herr Jesus in positiver Weise: „Ihr aber macht es zu einer Räuberhöhle.“ Sie hatten den Tempel in der Tat zu einem Kaufhaus gemacht, wo man Geld wechselte, Ochsen und Tauben an die anreisenden Juden verkaufte, die dem HERRN opfern wollten.
Man kann sich gut vorstellen, wie bei den Neigungen der Kinder Jakobs zum Handeln und bei der Gewissensverhärtung, von der die Geldliebe begleitet ist, man aus diesem heiligen Ort eine Räuberhöhle gemacht hat. Entspricht das nicht dem, was der Herr mit anderen Worten auch von dem heutigen „Haus Gottes“ auf der Erde sagt, über das seine schrecklichen Gerichte kommen werden (Off 18,11–19)? Anstatt sich darin in einer dem Haus Gottes geziemenden Weise zu verhalten, hat der Mensch die Welt und alle Arten des Bösen hereingebracht.
Wenn der Herr auch mit großer Autorität gegen das Böse in dem Haus seines Vaters auftrat, die Ihm als dem König zustand, so war sein Herz doch immer bei denen, die ihren Zustand fühlten und Ihn brauchten. Blinde und Lahme kamen zu Ihm in den Tempel und Er heilte sie. Der Glaube weiß die Macht der Gnade auszunutzen, selbst in dem Augenblick, wo andere, die Christum verworfen hatten, diese Macht im Gericht zu spüren bekamen. Das wird auch dann, wenn Christus als König kommen wird, so sein. Der gläubige Überrest wird in Gnaden aufgenommen, während die Ungläubigen gerichtet werden.
Da waren auch kleine Kinder, die im Tempel die Worte ausriefen, die sie soeben auf der Straße gehört hatten. Sie zweifelten nicht daran, dass Jesus der Sohn Davids sei. „Als aber die Hohenpriester und die Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder, die im Tempel schrien und sagten: Hosanna dem Sohn Davids!, wurden sie unwillig und sprachen zu ihm: Hörst du, was diese sagen? Jesus aber spricht zu ihnen: Ja, habt ihr nie gelesen: ‚Aus dem Mund der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet?'“ Die Verhärtung und der Hass dieser Menschen war derart, dass die Wunder, die der Herr tat und das Zeugnis, das Ihm gegeben wurde, sie erzürnte. Deshalb wandte sich der Herr von ihnen ab: „Und er verließ sie und ging zur Stadt hinaus nach Bethanien und übernachtete dort.“ Er hat nichts mehr mit ihnen zu tun. Sie sind ihrem schrecklichen Los überlassen.
Die hier erwähnten Blinden, Lahmen und kleinen Kinder waren Menschen, die von der Gnade und der Macht im Herrn Jesus Gebrauch machen wollten. Die Blinden und die Lahmen stellen zwei Charakterzüge des Zustandes des natürlichen Menschen dar: Er kann Gott nicht sehen und ist unfähig, Gott gemäß zu leben. Wer aber seinen eigenen Zustand erkennt, kommt zu Jesus und wird geheilt. Die kleinen Kinder stellen solche dar, die einfältigen Glauben besitzen, der zur Aufnahme dessen, was Gott in seinem Wort sagt, nötig ist. Nur so kann der Mensch das ewige Leben erlangen.
Lasst uns wohl beachten, dass sich die Wahrheit den Einfältigen und den Unmündigen kundtut. Diese Kinder hatten die Volksmengen rufen gehört: „Hosanna dem Sohn Davids!“ Sie verlangten keine Auskunft bei denen, die so riefen. Was sie gehört hatten, entsprach dem Wort Gottes. Das genügte ihrem einfältigen Glauben, der auch der wahre Glaube ist. Dieser Glaube nimmt das Wort auf und glaubt Gott, ohne Erklärungen zu fordern. „Der Glaube ist aus der Verkündigung, die Verkündigung aber durch Gottes Wort“ (Röm 10,17).
Der unfruchtbare Feigenbaum (21,18–22)
„Frühmorgens aber, als er in die Stadt zurückkehrte, hungerte ihn. Und als er einen Feigenbaum am Weg sah, ging er auf ihn zu und fand nichts daran als nur Blätter. Und er spricht zu ihm: Nie mehr komme Frucht von dir in Ewigkeit! Und sogleich verdorrte der Feigenbaum. Und als die Jünger es sahen, verwunderten sie sich und sprachen: Wie ist der Feigenbaum sogleich verdorrt! Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr Glauben habt und nicht zweifelt, werdet ihr nicht allein das mit dem Feigenbaum Geschehene tun, sondern selbst wenn ihr zu diesem Berg sagt: Werde aufgehoben und ins Meer geworfen!, so wird es geschehen. Und alles, was irgend ihr im Gebet glaubend erbittet, werdet ihr empfangen“ (21,18–22).
Der Herr übernachtete in Bethanien. Als Er am folgenden Morgen nach Jerusalem zurückkehrte, hatte Er Hunger. Er suchte an dem Feigenbaum Frucht, aber Er fand nur Blätter. Der Feigenbaum ist ein Bild des Volkes Israel, also des Menschen in seinem natürlichen Zustand. Gott hat bei diesem Volk und beim Menschen überhaupt vergeblich nach Frucht ausgeschaut. Trotz des schönen Blätterschmuckes, das ein treffendes Bild für ein schön aussehendes Bekenntnis ist, hingen keine Feigen an ihm, obwohl der „Weingärtner“ um ihn gegraben und Dünger gelegt hatte (vgl. Lk 13,6–9). Der Herr verfluchte einen solchen Zustand. Gott erwartete keine Frucht mehr von diesem Baum. Der Mensch in Adam ist gerichtet, der Feigenbaum ist verdorrt. Um Frucht hervorzubringen, muss nun Gott selbst ins Mittel treten.
Die Jünger verwunderten sich darüber, dass der Feigenbaum in einem einzigen Augenblick verdorrte. Sie mochten gedacht haben, dass dies eine Tat der Macht gewesen sei, die nur der Herr besaß. Aber der Herr sagte ihnen: „Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr Glauben habt und nicht zweifelt, so werdet ihr nicht allein das mit dem Feigenbaum Geschehene tun, sondern selbst wenn ihr zu diesem Berg sagt: Werde aufgehoben und ins Meer geworfen!, so wird es geschehen. Und alles, was irgend ihr im Gebet glaubend erbittet, werdet ihr empfangen.“ Ein Berg ist das Bild einer großen Macht, einer großen Schwierigkeit, die zu überwinden ist. Aber der Glaube verfügt über die Macht Gottes und vermag daher alles, was nach seinem Willen ist.
Die Verbindung zwischen dieser Ermahnung an die Jünger und dem Gericht, das der Herr an dem Feigenbaum ausübte, wurde Wirklichkeit, als die Jünger nach dem Weggang des Herrn Jesus es mit dem gerichteten und verurteilten Volk Israel zu tun hatten. Sie begegneten großen Schwierigkeiten und starkem Widerstand von Seiten der Juden, aber der Glaube überwand sie. Israel war als ungläubiges Volk wie ein Berg, der bei der Zerstörung Jerusalems in das Meer der Nationen geworfen wurde. Aber die Ermahnung des Herrn lässt sich auch auf alle Schwierigkeiten, denen wir begegnen, anwenden. Wir können in ihnen durch den Glauben von der Macht Gottes Gebrauch machen. „Alles, was irgend ihr im Gebet glaubend erbittet, werdet ihr empfangen.“ Dabei ist es selbstverständlich, dass Gott nur Gebete erhört, die seinem Willen entsprechen.
Der Herr Jesus und die Obersten des Volkes (21,23–32)
„Und als er in den Tempel kam, traten, als er lehrte, die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes zu ihm und sprachen: In welchem Recht tust du diese Dinge, und wer hat dir dieses Recht gegeben? Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen: Auch ich will euch ein Wort fragen, und wenn ihr es mir sagt, so werde auch ich euch sagen, in welchem Recht ich diese Dinge tue: Die Taufe des Johannes, woher war sie, vom Himmel oder von Menschen? Sie aber überlegten bei sich selbst und sprachen: Wenn wir sagen: Vom Himmel, so wird er zu uns sagen: Warum habt ihr ihm denn nicht geglaubt? Wenn wir aber sagen: Von Menschen - wir fürchten die Volksmenge, denn alle halten Johannes für einen Propheten. Und sie antworteten Jesus und sprachen: Wir wissen es nicht. Da sagte auch er zu ihnen: So sage auch ich euch nicht, in welchem Recht ich diese Dinge tue.
Was meint ihr aber? Ein Mensch hatte zwei Kinder; und er trat hin zu dem ersten und sprach: Mein Sohn, geh heute hin, arbeite im Weinberg. Er aber antwortete und sprach: Ich will nicht. Danach aber reute es ihn, und er ging hin. Und er trat hin zu dem zweiten und sprach ebenso. Der aber antwortete und sprach: Ich gehe, Herr, und ging nicht. Wer von den beiden hat den Willen des Vaters getan? Sie sagen: Der Erste. Jesus spricht zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch, dass die Zöllner und die Huren euch vorangehen in das Reich Gottes. Denn Johannes kam zu euch auf dem Weg der Gerechtigkeit, und ihr glaubtet ihm nicht; die Zöllner aber und die Huren glaubten ihm; euch aber, als ihr es saht, reute es auch danach nicht, so dass ihr ihm geglaubt hättet“ (21,23–32).
Die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes wandten sich an den Herrn Jesus mit der Frage, wer Ihm das Recht gegeben habe, die Verkäufer und Käufer aus dem Tempel hinauszutreiben und die Tische der Wechsler umzustoßen. Sie konnten die Autorität Jesu nicht ertragen, denn sie betrachteten sich selbst als die alleinigen Führer des Volkes. In seiner vollkommenen Weisheit antwortete ihnen der Herr mit einer Frage, auf welche sie nichts erwidern konnten, ohne sich bloßzustellen.
Gott hatte dem Messias, der soeben einen triumphalen Einzug in Jerusalem gehalten hatte, Johannes als Vorläufer vorausgesandt. Wenn die Juden jetzt bekannten, dass sein Dienst von Gott war – woran sie nicht zweifelten – dann hätten sie nicht nur den Vorläufer, sondern auch den ihnen verheißenen Christus aufnehmen und selber das Volk lehren sollen, Ihn als Messias anzuerkennen.
Diese anmaßenden Menschen wollten aber lieber für unwissend gehalten werden, als dass sie eine Wahrheit bekennen würden, die sie selbst vor Gott verurteilten würde. Auch würden sie lieber für unwissend gehalten werden, als dass eine Behauptung aufgestellt würde, die sie selbst dem Zorn des Volkes ausgesetzt hätte. Darum antwortete ihnen der Herr: „So sage auch ich euch nicht, in welchem Recht ich diese Dinge tue.“ Wozu würde es gedient haben? Sie waren entschlossen, nicht an Ihn zu glauben.
Wenn der Herr ihnen auch nicht auf ihre Fragen antwortete, so zeigte Er ihnen doch ihren traurigen Zustand in einem Gleichnis.
Die Erklärung, die der Herr Jesus gibt, macht uns dieses Gleichnis leicht verständlich. Das erste Kind stellt die Klasse derer in Israel dar, die in grober Weise gesündigt hatten: Zöllner und solche, die ein schlechtes Leben führten und sich nicht um das Gesetz kümmerten. Aber auf die Stimme Johannes des Täufers hin zeigten sie Reue und taten Buße. Wohl hatten sie das Gesetz Moses nicht erfüllt, aber sie glaubten den Worten des Johannes. Sie wurden dadurch zu Kindern der Weisheit, von denen Jesus in einem anderen Zusammenhang geredet hatte (Mt 11,19). Die „guten“ Juden und die Obersten des Volkes führten äußerlich betrachtet ein ehrbares Leben. Sie konnten, wie der Pharisäer (Lk 18), sich rühmen, anders zu sein als die übrigen der Menschen oder als der Zöllner, der sich in wahrer Reue und im Glauben vor Gott an die Brust schlug und sprach: „O Gott, sei mir, dem Sünder, gnädig!“ Die Juden wollten es den bußfertigen Sündern nicht gleichtun. Sie behaupteten, im Weinberg Gottes zu arbeiten, taten es aber nicht. Darum wurden sie beiseite gesetzt und befanden sich nun am Vorabend des Gerichts.
Überall, wo die Gnade sich gezeigt hat, verbreitet sie einen hellen Schein. Das Tun des Menschen führt ihn ins ewige Verderben. Gott, der ihn retten will, verlangt nun aber nicht, dass er etwas tun soll. Die Juden, zu welcher Klasse sie auch gehören mochten, sollten der Botschaft glauben, die Johannes der Täufer ihnen im Auftrag Gottes ausgerichtet hatte. Und die, welche Johannes glaubten, glaubten auch dem Herrn. So ist es auch heute. Wenn man dem Wort glaubt, das in Bezug auf die Sünde das Licht Gottes ins Gewissen bringt, so glaubt man auch an den Herrn Jesus, der gekommen ist, um sich am Kreuz mit allen Sünden beladen zu lassen, die das Gewissen des Schuldigen belastet haben. Das ist der Weg der Errettung. Die Gnade bringt das Heil und fordert vom Sünder nichts, als nur, dass er es auch annimmt.
Das Gleichnis von den Weingärtnern (21,33–41)
„Hört ein anderes Gleichnis: Es war ein Hausherr, der einen Weinberg pflanzte und einen Zaun darum setzte und eine Kelter darin grub und einen Turm baute; und er verpachtete ihn an Weingärtner und reiste außer Landes. Als aber die Zeit der Früchte nahte, sandte er seine Knechte zu den Weingärtnern, seine Früchte in Empfang zu nehmen. Und die Weingärtner nahmen seine Knechte, einen schlugen sie, einen anderen töteten sie, einen anderen steinigten sie. Wiederum sandte er andere Knechte, mehr als die Ersten; und sie taten ihnen ebenso. Zuletzt aber sandte er seinen Sohn zu ihnen und sagte sich: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. Als aber die Weingärtner den Sohn sahen, sprachen sie untereinander: Dieser ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten und sein Erbe in Besitz nehmen! Und sie nahmen ihn, warfen ihn zum Weinberg hinaus und töteten ihn. Wenn nun der Herr des Weinbergs kommt, was wird er jenen Weingärtnern tun? Sie sagen zu ihm: Er wird jene Übeltäter auf schlimme Weise umbringen, und den Weinberg wird er an andere Weingärtner verpachten, die ihm die Früchte abliefern werden zu ihrer Zeit“ (21,33–41).
In diesem Gleichnis gibt uns der Herr in einem Bild einen Ausschnitt aus der Geschichte Israels, das verantwortlich war, Gott Frucht zu bringen. Zu diesem Zweck befand es sich in einer bevorzugten Stellung. Gott wird hier mit einem Hausherrn verglichen, der einen Weinberg pflanzte, ihn mit einem Zaun umgab, eine Kelter in ihm grub und einen Turm baute. Schon im Alten Testament wurde Israel mit einem Weinberg verglichen (Ps 80,9–17; Jes 5,1–7).
Die gepflanzte Rebe, die jedes Jahr gepflegt wird, soll Frucht bringen. Das ist ein Bild der menschlichen Natur, um die sich Gott in Israel umsonst bemüht hat. Der Hausherr hatte alles zum Schutz dieses Weinberges Erforderliche getan, damit die Weingärtner ihm die Früchte übergeben konnten, die ihm zukamen. „Als aber die Zeit der Früchte nahte, sandte er seine Knechte zu den Weingärtnern, seine Früchte in Empfang zu nehmen. Und die Weingärtner nahmen seine Knechte, einen schlugen sie, einen anderen töteten sie, einen anderen steinigten sie. Wiederum sandte er andere Knechte, mehr als die Ersten; und sie taten ihnen ebenso.“ Unter diesen Knechten sind die Propheten zu verstehen, die Gott zu den Juden sandte, als sich diese von Ihm abgewandt hatten, um den Götzen zu dienen. Sie sollten sie an die Beobachtung des Gesetzes erinnern, das sie so leichtfertig verlassen hatten.
Aber anstatt auf die Propheten zu hören, quälten und töteten sie diese Boten. Lange Zeit nachher sandte Gott seinen Sohn und sagte: „Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen! Als aber die Weingärtner den Sohn sahen, sprachen sie untereinander: Dieser ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten und sein Erbe in Besitz nehmen! Und sie nahmen ihn, warfen ihn zum Weinberg hinaus und töteten ihn.“ Wenn das Herz des Volkes und ganz besonders das seiner Obersten berührt werden konnte, so hätte dies durch das Kommen des Sohnes Gottes geschehen müssen. Aber es trat dabei nur ihr unverbesserlich schlechter Zustand zutage, also der Zustand des natürlichen Menschen überhaupt. Nicht nur weigerten sie sich, Gott zu geben, was Ihm gehört. Sie begehrten auch, die Herren des Weinbergs zu sein. Der Mensch will nichts mit Gott zu tun haben. Nachdem er den Sohn Gottes hinausgeworfen hat, glaubt er selbst Herr zu sein. Diese Haltung kennzeichnet auch die heutige Christenheit: Man will von Christus nichts wissen, sowenig wie das Volk Israel, als der Herr zu ihm kam.
Jesus fragte sie: „Wenn nun der Herr des Weinbergs kommt, was wird er jenen Weingärtnern tun? Sie sagen zu ihm: Er wird jene Übeltäter auf schlimme Weise umbringen, und den Weinberg wird er an andere Weingärtner verpachten, die ihm die Früchte abliefern werden zu ihrer Zeit.“ Damit sprachen sie ihr eigenes Urteil aus. Was sie sagten, ist wirklich eingetreten. Diese unglücklichen Juden sind bei der Zerstörung Jerusalems durch die Römer „auf schlimme Weise“ umgekommen oder unter die Nationen zerstreut worden. Der Weinberg wurde an andere Weingärtner verpachtet, d. h. Gott hat in Christus auf eine völlig neue Weise gewirkt, um unter den Menschen Frucht hervorzubringen. Wie wir im Gleichnis vom Sämann (Mt 13) gesehen haben, wirkt Gott durch sein Wort im Herzen des Menschen, um ihm neues Leben zu geben, das ihn befähigt, dem Herrn zu dienen.
Der Eckstein (21,42–46)
„Jesus spricht zu ihnen: Habt ihr nie in den Schriften gelesen: 'Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, dieser ist zum Eckstein geworden. Von dem Herrn her ist er dies geworden, und er ist wunderbar in unseren Augen.'? Deswegen sage ich euch: Das Reich Gottes wird von euch weggenommen und einer Nation gegeben werden, die dessen Früchte bringen wird. Und wer auf diesen Stein fällt, wird zerschmettert werden; auf wen irgend er aber fällt, den wird er zermalmen. Und als die Hohenpriester und die Pharisäer seine Gleichnisse gehört hatten, erkannten sie, dass er von ihnen redete. Und als sie ihn zu greifen suchten, fürchteten sie die Volksmengen, denn sie hielten ihn für einen Propheten“ (21,42–46).
Der Herr zeigte den Juden aus ihren eigenen Schriften, was sie zu erwarten hatten, wenn sie Ihn verwarfen: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, dieser ist zum Eckstein geworden. Von dem Herrn her ist er dies geworden, und er ist wunderbar in unseren Augen“ (vgl. Ps 118,22.23).
Mit den Bauleuten sind ganz besonders die Führer des Volkes gemeint, die in seiner Mitte eine große Verantwortung trugen. Wenn sie einerseits wegen ihres Ungehorsams nicht zu der Segnung Israels gelangt waren, so hatte Gott jetzt einen Eckstein bereitet, in dem alle seine Verheißungen in Erfüllung gehen sollten. Die Obersten des Volkes, die den Platz der Verantwortung von Bauleuten einnahmen, hätten im Blick auf diesen auserwählten, kostbaren Eckstein den Gedanken Gottes entsprechend handeln sollen. Aber wie unerfahrene Menschen den Wert eines köstlichen Steines nicht zu beurteilen vermögen, so verwarfen sie Ihn als Eckstein des Baues. Wie sind doch die Gedanken des Menschen den Gedanken Gottes so ganz entgegengesetzt! Noch nie ist dies so deutlich zutage getreten, wie beim Kommen seines Sohnes auf diese Erde.
Da die Bauleute diesen Stein nicht benutzt haben, sind sie auf Ihn gefallen und zerschmettert worden. Die Verwerfung Christi war die Ursache des Falles und des Gerichtes, das über das Volk gekommen ist. Nach der Zeit der Gnade, die nach dem Tod des Herrn begonnen hat, wird sich der Herr den Juden aufs Neue vorstellen. Wer Ihn dann nicht aufnimmt, den wird ein Gericht treffen, das noch viel schrecklicher ist als das Gericht durch die Römer. So belehrt uns Matthäus 24.
Dann werden es nicht die Juden sein, die auf den Stein fallen, sondern der Stein, Christus als vom Himmel kommend, wird auf sie fallen und sie durch Gerichte zermalmen. Zweifellos macht der Herr hier eine Anspielung auf den Stein, von dem Daniel spricht (Dan 2,34). Er wird sich vom Berg loslösen und die Reiche der Nationen und der Juden, die mit ihnen verbunden sind, zerstören. Die Hohenpriester und die Pharisäer erkannten, dass Er in diesem Gleichnis von ihnen redete. Anstatt nun den Herrn aufzunehmen, um so dem Unglück, für das sie reif waren, zu entfliehen, suchten sie, Ihn zu greifen. Sie wagten es aber wegen der Volksmenge doch nicht, die Ihn für einen Propheten hielt.