Der Prophet Sacharja
Kapitel 11
Israels Abtrünnigkeit und Strafe
„Öffne deine Tore, Libanon, und Feuer verzehre deine Zedern! Heule, Zypresse! Denn die Zeder ist gefallen, denn die Herrlichen sind verwüstet. Heult, Eichen Basans! Denn der unzugängliche Wald ist niedergestreckt. Lautes Heulen der Hirten, denn ihre Herrlichkeit ist verwüstet; lautes Gebrüll der jungen Löwen, denn die Pracht des Jordan ist verwüstet (11,1-3)!
Die Szene hat sich völlig geändert. Bisher begegneten wir lauter Segnungen, welche Gottes Güte über Israel ausschüttete. Aber das Volk erwies sich dieser Gnadenerweisungen unwürdig. Es ging nicht in den Wegen des HERRN, ja, es buhlte anderen Göttern nach. Was musste die Folge sein? Doch nur Gericht! Gott ist es sich selbst schuldig, seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit Nachdruck zu verschaffen. So kam, wie uns die ersten drei Verse dieses Kapitels darlegen, das Gericht über das untreue Israel, vor allem über seine Hirten und Führer, die es auf falsche Wege geleitet haben.
Der Libanon zeigt wohl die Herrschaft der Welt. Die Zedern stellen die menschliche Herrlichkeit dar und die Zypressen zeigen Behaglichkeit und Selbstbegnügen. Die Eichen stellen die Macht und Kraft dar; alles Dinge, die in der Welt in hohem Kurs stehen. Der Wald als die Organisation und Verbindung untereinander schien unzugänglich und damit unzerstörbar. Aber für Gottes Macht ist alles nur eitel, Stroh und Stoppeln. Alle menschliche Anmaßung, auch die religiöse, wird niedergeworfen und endet in Elend, Schmach und Verachtung. Die „jungen Löwen“ brüllen; es ist der beutegierige Nachwuchs, gerade wie heute, wo die verwerflichen Ideologien des Abgrundes hauptsächlich von der unreifen Jugend getragen werden. Dann aber wird den brüllenden Löwen, die der Herde nicht schonen, das Handwerk gelegt sein, denn ihr Rauben hat ein Ende. Die göttliche Heimsuchung hat sie getroffen, sie sind verzehrt, gefallen, verwüstet und niedergestreckt. So sieht sie der Prophet im göttlichen Gesicht.
„So sprach der HERR, mein Gott: Weide die Herde des Würgens, deren Käufer sie erwürgen und es nicht büßen, und deren Verkäufer sprechen: Gepriesen sei der HERR, denn ich werde reich!, und deren Hirten sie nicht verschonen. Denn ich werde die Bewohner des Landes nicht mehr verschonen, spricht der HERR; und siehe, ich überliefere die Menschen, jeden in die Hand seines Nächsten und in die Hand seines Königs; und sie werden das Land zertrümmern, und ich werde nicht aus ihrer Hand befreien“ (11,4-6).
Sacharja erhält von Gott den Auftrag, die Herde zu weiden. Aber er sieht nur eine „Herde des Würgens“, d.h. eine Herde, die der Vernichtung preisgegeben ist. Diese Verse weisen hin auf die Zeit, als der Sohn Gottes auf der Erde war. In dieser Zeit stand Israel unter dem Druck dreier verschiedener Joche:
- Die Römer. Sie werden von dem Propheten „Käufer“ genannt. Sie kamen, um zu schlachten und zu verderben. Sie schonten die Herde nicht, quälten und beleidigten die Juden, wo sie konnten.
- Herodes und die Führer des Volkes. Sie hatten die Juden für ihren eigenen Vorteil an die Römer verkauft. Die makkabäische Fürstenfamilie ließ den römischen Feldherrn Pompeius, der in Damaskus war, nach Jerusalem kommen.
- Die Hirten. Das sind vor allem die religiösen Führer des Volkes, die der Herde nicht schonten, und die, wie der Herr selber sagte, dem Volk „schwer zu tragende Lasten“ auferlegten.
So stand es mit der Herde, als der Herr Jesus, wie uns Johannes 10 zeigt, als der wahre und gute Hirte in den Schafstall trat. „Die Herde des Würgens“ umfasst also nicht nur den gläubigen Überrest, sondern das ganze Volk. Er stellte sich dem ganzen Volk vor und das ganze Volk sollte entscheiden, aber es begehrte seiner nicht. So fand der Herr in ihrer Mitte nur Gleichgültigkeit, ja, Hass und Feindschaft. Schließlich brachten sie Ihn sogar zu Tode, indem sie Ihn den Römern überlieferten, die Ihn dann kreuzigten. Da sie den wahren König verwarfen, werden sie nun dem Falschen folgen müssen, der sie ins Verderben leiten wird.
„Und ich weidete die Herde des Würgens, ja, die Elenden der Herde; und ich nahm mir zwei Stäbe: den einen nannte ich ‚Huld', und den anderen nannte ich ‚Verbindung', und ich weidete die Herde“ (11,7).
Wenn Israel treu geblieben wäre, dann wären sie nicht zu einer „Herde des Würgens“ geworden. Es hätte keine Elenden und Umkommende unter ihm gegeben. So aber mussten alle Segnungen aufhören und dem Gericht den Weg bereiten. Dennoch, Gott erbarmt sich seines Volkes. Er gab ihm den wahren und guten Hirten. Sein Hirtenstab ist ein doppelter: Er spricht von Huld und von Gemeinschaft. Aber Israel hat den von Gott gesandten Hirten verworfen und umgebracht, so entzog es sich selbst der Gnadengüter Gottes und verlor Gottes Huld und Gottes Gemeinschaft.
„Und ich vertilgte drei Hirten in einem Monat. Und meine Seele wurde ungeduldig über sie, und auch ihre Seele wurde meiner überdrüssig“ (11,8).
Wer sind die drei Hirten, die vertilgt werden? Die Tatsache, dass sie vertilgt werden zeigt, dass sie ihrer Berufung nicht entsprachen. Es waren also untreue Hirten, die diesen Titel nicht verdienen. Wir haben unter ihnen wohl nicht drei Personen zu verstehen, sondern drei Gruppen von Elementen, denen das Wohl der Herde nicht am Herzen lag, sondern sogar zu schaden suchten. Diese drei degenerierten Gruppen fasst der Prophet Jeremia in einem Vers zusammen: „Die Priester sprachen nicht: ‚Wo ist der HERR?' Und die, die das Gesetz handhabten, kannten mich nicht, und die Hirten fielen von mir ab; und die Propheten weissagten durch den Baal und sind denen nachgegangen, die nichts nützen“ (Jer 2,8). Müssen wir uns wundern, wenn der HERR ihrer überdrüssig wurde und dass sie schließlich im Verderben enden?
Wie ernst ermahnt der Herr den Petrus: „Weide meine Schafe!“. Sollten wir es ihm nicht alle nachtun? Der Hirten-Dienst ist in unseren Tagen eine sehr vernachlässigte Angelegenheit. Aufholen können wir wohl nicht mehr. Dafür ist es zu spät. Aber die uns noch verbleibende kurze Zeit bis zum Kommen des Herrn sollten wir mit Fleiß auskaufen und der Herde dienen, so gut wir es vermögen. Dann wird der Herr uns nicht überdrüssig werden, nein, Er wird uns belohnen mit der Krone der Gerechtigkeit. Lasst uns Eifer haben, es ist der Mühe wert!
„Da sprach ich: Ich will euch nicht mehr weiden; was stirbt, mag sterben, und was umkommt, mag umkommen; und die Übrigbleibenden mögen einer des anderen Fleisch fressen“ (11,9).
Die Halsstarrigkeit des Volkes hinderte den HERRN daran, sich weiter mit ihm zu beschäftigen. Mit den Worten: „Ich will euch nicht mehr weiden“ zieht Er sich zurück und überlässt das Volk sich selbst. Die fatalen Folgen kennen wir. Im Jahr 70 n. Chr. wurde unter dem römischen Feldherrn Titus Jerusalem zerstört. Sein Blut kam über Israel und seine Kinder. Die Belagerung und Einnahme Jerusalems ist das Furchtbarste, was die Annalen der Weltgeschichte uns zu erzählen haben. Buchstäblich ist das Wort Sacharjas in Erfüllung gegangen: Die Übrigbleibenden haben einander aufgefressen!
„Und ich nahm meinen Stab ‚Huld' und zerbrach ihn, um meinen Bund zu brechen, den ich mit allen Völkern gemacht hatte. Und er wurde an jenem Tag gebrochen; und so erkannten die Elenden der Herde, die auf mich achteten, dass es das Wort des HERRN war“ (11,10.11).
Die „Elenden der Herde“ sind die, welche sich um den Herrn scharten, als Er hier auf der Erde lebte. Sie erkannten in dem, der in Niedrigkeit kam, den Herrlichen, von Gott gesandt. Sie verstanden, dass nun eine neue Zeitepoche der bedingungslosen Gnade angebrochen war. Israel hatte versagt, die Nationen hatten versagt, alle Bündnisse wurden hinfällig. Aber seine Gnade machte den Weg zur Herrlichkeit offen. Weit ist die Türe geöffnet für alle Menschen und sie wird offen bleiben bis zu dem Augenblick, wenn der Herr kommen wird, um seine erkaufte Versammlung heimzuführen ins Vaterhaus.
„Und ich sprach zu ihnen: Wenn es gut ist in euren Augen, so gebt mir meinen Lohn, wenn aber nicht, so lasst es; und sie wogen meinen Lohn ab: dreißig Sekel Silber. Da sprach der HERR zu mir: Wirf ihn dem Töpfer hin, den herrlichen Preis, dessen ich von ihnen wert geachtet bin! Und ich nahm die dreißig Sekel Silber und warf sie in das Haus des HERRN, dem Töpfer hin“ (11,12.13).
Christus, der Hirte, der von dem Volk verworfen wird, verlangt seinen Lohn. Zum Hohn schätzen sie Ihn mit dreißig Silbersekel. Judas war der Erfüller dieser Weissagung. Welch eine traurige Gestalt und welch noch traurigerer Dienst! Christus vergleicht den Tempel mit dem Töpfer. Der Ort, wo der Töpfer seinen Lehm grub, war ein unreiner Ort (vgl. Jer 19,10.11). Er wurde Tophet genannt. Dort stand einst das Bild des Moloch, dem Israel sogar Kinder opferte. Später war der Blutacker an diesem Ort. Kein Israelit betrat diese Stätte. So unrein wie das Tophet, so unrein war der Tempel in Gottes Auge geworden.
„Und ich zerbrach meinen zweiten Stab ‚Verbindung', um die Brüderschaft zwischen Juda und Israel zu brechen“ (11,14).
Unter solchen Umständen konnte Gott nicht mit Israel sein. Er zog sich zurück. Die Folge war, dass der Zusammenhang des Volkes zerbrach und dies ist bis heute geblieben. Israel ist unter alle Völker zerstreut und der Aufenthalt der 10 Stämme ist uns unbekannt. Wohl rufen die frommen Juden noch Gott an, aber sie fühlen, dass Gott sie nicht hört, der Himmel ist wie Blei (5. Mo 28). Ihr Gottesdienst ist ein eitles Schreien und Wehklagen ohne Frieden. So ist es heute und es wird so bleiben, bis sie den erkannt haben, den sie durchstochen und umgebracht haben. Das wird sein, wenn Christus in Herrlichkeit kommen wird, um Sein messianisches Königreich aufzurichten; dann wird das zwölfstämmige Volk restlos um Ihn geschart sein.
„Und der HERR sprach zu mir: Nimm dir noch das Gerät eines törichten Hirten. Denn siehe, ich erwecke einen Hirten im Land: Der Umkommenden wird er sich nicht annehmen, das Versprengte wird er nicht suchen und das Verwundete nicht heilen; das Gesunde wird er nicht versorgen, und das Fleisch des Fetten wird er essen und ihre Klauen zerreißen. Wehe dem nichtigen Hirten, der die Herde verlässt! Das Schwert über seinen Arm und über sein rechtes Auge! Sein Arm soll völlig verdorren, und sein rechtes Auge völlig erlöschen“ (11,15-17).
Ehe der wahre Hirte sein Friedensreich aufrichten wird, erscheint vorerst der falsche Hirte, von dem der Herr im voraus gesagt hatte: „Der, welcher in seinem eigenen Namen kommen wird, den werdet ihr annehmen“ (Joh 5,43). Das Erscheinen des nichtigen Hirten wird eine furchtbare Drangsalszeit auslösen, wie Israel eine solche noch nie durchgemacht hat. Das Wesen dieses Antichristen, wie ihn das Neue Testament nennt, ist in klaren Zügen geschildert, aber auch sein Gericht ausgesprochen. Er hat seine Glieder zu Werkzeugen der Ungerechtigkeit missbraucht, so wird sein Arm verdorren und sein Auge erlöschen. Seine Geräte sind die Geräte eines törichten Hirten. Er verwendet den Stab nicht, um zu leiten und zu segnen. Er wird damit die Herde schlagen und töten. Seine Tasche braucht er nicht, um der Herde zum Lecken zu geben, sondern sie mit Raub zu füllen. Sein Horn benutzt er nicht, um die Herde zu sammeln und zusammenzuhalten, sondern um seine Lügen auszublasen und Torheiten und Lästerungen zu verkündigen. Er nimmt sich weder der Umkommenden, noch der Versprengten, noch der Verwundeten an, ohne Mitgefühl und ohne Erbarmen weidet er nur sich selbst.
Dementsprechend ist auch das Gericht über den falschen Hirten von ausnehmender Schärfe, ein weiterer Beweis davon, dass, wer die Seinen antastet, seinen Augapfel antastet. Dies wird stattfinden, bevor dem Volk Israel „die Sonne der Gerechtigkeit aufgehen wird mit Heilung in ihren Flügeln“ (Mal 3,20). Es wird die dunkelste und furchtbarste Zeit in der Geschichte Israels sein, eine Zeit des Schreckens und des Grauens. Armes, verblendetes Israel! Ach, dass du deine Heimsuchung erkannt und auf die Friedensbotschaft deines Erlösers und Messias gehört hättest!