Christus vor Augen
Verse 9-11: Der Inhalt des Gebets von Paulus
Ab Vers 9 kommt nun eine erlesene Zusammenstellung dessen vor uns, was ein Christ für andere beten kann. Bei besonders guten Pralinen trägt die Packung die Aufschrift „Auslese“. Was uns jetzt vorgestellt wird, könnte man überschreiben mit „Auserwähltes, Auserlesenes“. Es fällt zuerst auf, dass dieser Mann Gottes - Paulus -, der mit den Interessen des Himmels in Verbindung stand und die Gedanken Gottes kannte, der zugleich eine besondere Liebe zu den Kolossern hatte, jetzt nicht für seine eigenen Angelegenheiten betet. Er gleicht hier dem Patriarchen Abraham in 1. Mose 18.
In 1. Mose 15 betet Abraham auch. Die Schlacht mit Kedorlaomer war vorbei, und Abraham hatte auf jedes Angebot des Königs von Sodom verzichtet. Doch dann war dieser großartige Mann plötzlich nicht mehr ganz auf der Höhe seines Glaubens. Als Gott sagt: „Ich bin dir ein Schild, dein sehr großer Lohn“, antwortet Abraham: „Was willst du mir geben? Ich gehe doch kinderlos dahin.“ Was willst du mir geben? So ähnlich beten auch wir manchmal.
Einige Kapitel später kommen drei Personen, der Herr in der Mitte. Die Engel sind viel taktvoller, als wir Menschen es oft sind. Sie wissen, was sich gehört. Als sie merken, dass der Herr mit Abraham etwas zu besprechen hatte, gehen sie diskret beiseite. Da fängt Abraham in unnachahmlicher Weise an zu bitten. „Sollte der Richter der ganzen Erde nicht Recht üben?“ Das ist Abraham! Er steht auf dem Berg mit Gott und redet nicht mehr von sich. Er interessiert sich für das, was Gott betrifft. Und es geht ihm um die Stadt Sodom, wo sein Neffe Lot wohnt. Vielleicht gab es dort 50, 40, 30, 20, 10 Gerechte! Beten wir auch so? Beten wir für andere? Für das Werk Gottes?
Vers 9: Erfüllt sein mit der Erkenntnis seines Willens
Paulus betet nicht dafür, dass die Kolosser erfüllt sein mögen mit mancherlei Gedanken darüber, wo sie den nächsten Urlaub zubringen sollten. Natürlich dürfen wir auch dafür beten, dass der Herr uns in diesen Dingen leitet. Aber es steht hier etwas ganz anderes.
„… damit ihr erfüllt sein möget mit der Erkenntnis seines Willens in aller Weisheit und geistlicher Einsicht.“ Es geht um die Erkenntnis des Willens Gottes für unseren persönlichen und unseren gemeinsamen Weg. Was ist hier grundsätzlich wichtig? Es ist nicht so sehr die bloße Kenntnis des Wortes Gottes, die uns das Licht gibt, obwohl das Wort Gottes von Gott immer zu unserer Führung benutzt wird. Aber es ist der persönliche Zustand der Seele, durch den Gott uns leitet. „Mein Auge auf dich richtend, will ich dir raten“ (Ps 32,8).
Gott tut mir seine Gedanken nicht kund, solange ich im Eigenwillen handeln will. Das müssen sich zum Beispiel junge Brüder merken, wenn sie nach einer Frau Ausschau halten. Mach das nicht so, wie wir alle es vielleicht einmal gebetet haben, bevor wir es besser verstanden: „Herr zeig mir doch deinen Willen, aber bitte, gib mir diese!“ Den Nachsatz sagst du natürlich nicht, denn so plump reden wir nicht. Aber im Herzen kann diese Bitte doch vorhanden sein. Solange wir für die einzelnen Bereiche unseres Lebens eigene Pläne schmieden, die Gott gleichsam unterschreiben soll, wird uns Gott seinen Willen nicht zeigen können.
Gott hat uns kein Gesetzbuch mit lauter Einzelbestimmungen gegeben, aus denen heraus wir dann den Weg erkennen können. Nein, Er verbindet die Erkenntnis seines Willens mit dem Weg der Weisheit und des geistlichen Verständnisses.
Diese Dinge werden uns geschenkt durch die Kenntnis Gottes, durch den vertrauten Umgang mit Ihm. Wir lernen Gott kennen, wenn wir mit Ihm gehen. Dann offenbart Er uns nicht lauter einzelne Vorschriften und „Rezepte“, sondern Grundsätze, die Ihm und seinem Wesen entsprechen. Deswegen ist es keine gute Frage: „Wo steht denn, dass man das nicht darf?“ Frage lieber: „Mein Vater, ist das von Dir - oder von der Welt?“ Wenn es von der Welt ist, wollen wir sagen: „Nein, danke!“ Uns beschäftigt manchmal - leider - die Überlegung, wie weit wir gehen können, bis eine Sache „Welt“ wird. Das aber ist weder aufrichtig noch geistlich. Denn die Welt fängt in meinem Herzen an, nicht bei irgendeiner Grenze. Wenn ich das Weltliche liebe, ist schon dieses Begehren „Welt“ für mich.
Erkenntnis und geistlicher Zustand sind untrennbar miteinander verbunden
Was wir lernen müssen, ist, dass die Erkenntnis des Willens Gottes verbunden ist mit meinem geistlichen Zustand. Wenn das Auge einfältig ist, zeugt das von einem guten Zustand. Das gleiche gilt für unser Herz, denn das Herz lenkt die Augen. Andererseits gilt auch: Wenn wir unser Auge nicht einfältig auf Christus richten, ist unser Leib finster (vgl. Lk 11,34). Jemand hat einmal gesagt: Wenn ich über eine Sache über längere Zeit hinweg keine Klarheit, einfach kein Licht bekomme, liegt das oft daran, dass mein Auge nicht einfältig ist.
Wir lernen über das Herz den Weg Gottes kennen. Daher sollten wir uns immer wieder fragen: Ist unser Auge noch einfältig? Ist Christus der Gegenstand, um den sich alles dreht?
Noch ein Wort zur Unterscheidung von Weisheit und geistlicher Einsicht. Bei Weisheit geht es um das Erfassen der Ursache. Geistliche Einsicht ist die Anwendung dieser Weisheit im praktischen Leben. Beides ist für den Gläubigen wichtig.
Vers 10: Ein Lebenswandel, würdig des Herrn
Wenn wir den Willen Gottes durch den Umgang mit Gott gelernt haben, sind wir fähig, das zu tun, was jetzt in Vers 10 folgt: „Um würdig des Herrn zu wandeln zu allem Wohlgefallen.“ Würdig des Herrn zu wandeln ist ein hoher Anspruch, und es ist der geistliche Zustand, der unterscheidet, was „würdig“ des Herrn ist. Wir haben im Ganzen vier verschiedene Arten eines würdigen Wandels in der Schrift. Neben dieser Stelle: „würdig des Gottes“ (1. Thes 2,12), „würdig des Evangeliums“ (Phil 1,27) und „würdig der Berufung“ (Eph 4,1). Letzteres kann der Heilige Geist den Kolossern nicht sagen. Zu ihnen sagt er: „würdig des Herrn“. In allen genannten vier Stellen handelt es sich dem Wesen nach um dieselbe Sache, nur ist der Blickwinkel jeweils ein anderer.
Würdig des Herrn: Der Titel „Herr“ ist die zuerst genannte Herrlichkeit des Herrn Jesus in diesem Abschnitt. Weitere Vortrefflichkeiten der Person unseres Heilands folgen in den nächsten Versen. „Herr“ ist ein Titel, der nicht so sehr unsere Zuneigungen anspricht, sondern eher von Autorität redet. Würdig des Herrn zu wandeln bedeutet dabei mehr, als nur „nicht zu sündigen“. Wir sind oft froh, wenn wir die Sünde umschiffen, wenn wir an einer Gefahr gerade noch vorbeigekommen sind. Das aber ist noch nicht „würdig des Herrn“ zu wandeln. Wir müssen wirklich mit Christus vertraut sein, damit wir unseren Weg entsprechend Seinen Gedanken gehen können.
Zu allem Wohlgefallen
Würdig des Herrn zu leben bedeutet daher, einen Lebenswandel zu führen, der in den Augen Gottes in Übereinstimmung mit der Person des Herrn Jesus ist, der Seiner würdig ist und Ihm gefällt, und zwar zu „allem Wohlgefallen“. Es geht nicht um mein Wohlgefallen, auch nicht ums das Wohlgefallen der Menschen, sondern um sein Wohlgefallen. Hier merken wir, dass der Herr Jesus gerade das, wovon wir jetzt sprechen, selbst getan hat in Bezug auf seinen Gott. Wenn man anfängt, einmal über den Herrn Jesus nachzudenken - leider tun wir es viel zu wenig, weil wir so sehr mit unseren Problemen und den persönlich geprägten Bedürfnissen und Bitten beschäftigt sind -, merkt man als Erstes, dass Er nie etwas für sich selbst tat. Nie wurde Er müde, Gutes zu tun. Er wurde in jedem Umstand und zu jeder Zeit durch göttliche Grundsätze geleitet.
So ging Er umher, „wohl tuend und heilend“ (Apg 10,38). Der Herr Jesus war immer einfühlsam für jede Not, die um Ihn her existierte. Und doch ließ Er sich nicht durch die Not leiten. Das ist nämlich eine Gefahr für uns. Wenn Not vorhanden ist, lassen wir uns schnell durch diese leiten. Der Herr Jesus hat wie kein anderer die Not empfunden. Aber Er hat sich nicht durch sie leiten lassen. Er wurde nur durch den Willen Gottes geleitet. Dass doch auch wir mehr nach SEINEM Wohlgefallen fragen würden!
Ich habe den Eindruck gewonnen, dass alles, was in einem Menschen gut ist, in der Person des Herrn Jesus sichtbar wird. Wenn man wissen will, was ein gutes Werk ist - „in jedem guten Werk Frucht bringend“ -, muss man den Herrn Jesus anschauen. Was man nicht direkt von Ihm ableiten kann, ist kein gutes Werk. Menschen mögen es gut nennen, aber Gott denkt anders. Vieles, was Menschen als gute Werke bezeichnen, mögen wohltätige und sogar zum Teil edle Dinge sein. Aber sie tun es vielfach ohne Gott. Daher sind sie dem Wesen nach nicht gut.
Ein Christ und überhaupt ein Geschöpf kann nur dann in den Augen Gottes etwas Gutes tun, wenn es zugleich gehorsam ist. Gott braucht nicht zu gehorchen, aber wir können nur dann etwas Gutes tun, wenn wir zugleich gehorsam sind. In Epheser 2 steht, dass die guten Werke zuvor bereitet worden sind, damit wir in ihnen wandeln sollen. Das ist an sich etwas unfassbar Großes. Es schließt nämlich ein, dass Gott für unser ganzes Leben vom Anfang bis zum Ende einen klaren Plan hat. Selbst die guten Werke, das, was wir im Gehorsam tun sollen, liegt gewissermaßen alles schon da.
Es ist wahr, dass das hier und auch in Epheser 2,10 gebrauchte griechische Wort für „gut“, agathós, auch das bezeichnet, was praktisch und sittlich gut und somit im Ergebnis wohltätig ist. Und doch glaube ich nicht, dass wir hier in erster Linie an wohltätige Werke denken müssen, von denen andere Nutzen haben. Das griechische „agathós“ beschreibt eben auch das, was dem Charakter und dem Wesen nach gut ist. Wenn der Herr sagt, dass nur Einer gut (agathós) ist, Gott - bedeutet das wohltätig? Wenn Maria sich zu den Füßen Jesu niedersetzte, um seinen Worten zuzuhören, dann hatte sie, sagt der Herr, das gute (agathós) Teil erwählt. Hat das irgendetwas mit Wohltätigkeit zu tun? Wir dürfen die Bedeutung der griechischen Wörter nicht überdehnen.
Das Erkennen des Willens Gottes
Es ist also für uns wichtig zu erfahren: „Gott, was möchtest du jetzt?“ Ich weiß, dass die Erkenntnis seines Willens in der Praxis oft ein Problem darstellt. Wir haben kein Gesetzbuch, Gott möchte unser Gewissen einbeziehen und prüfen, ob wir wirklich abhängig von Ihm leben wollen. Daher verbindet Gott die Frage der Erkenntnis seines Willens immer auch mit einer gewissen Prüfung, ob wir wirklich den Willen Gottes tun wollen. Ich nenne einmal die eine oder andere „Regel“, die für das Erkennen seines Willens nützlich sein kann.
- Solange man noch etwas Eigenes will, wird Gott seinen Willen in der Sache nicht zeigen können.
- Du fragst immer wieder: „Was soll ich tun, Herr?“ Vielleicht will der Herr, dass Du einmal gar nichts tust. Vielleicht sollst Du einfach da bleiben, wo Du bist. Wir wollen oft viel zu viel. Wir sind heute durch den technischen Fortschritt mobil wie nie zuvor. Diese Mobilität verleitet uns jedoch, stets unterwegs zu sein, immer etwas vorzuhaben. Fragen wir eigentlich noch den Herrn, ob Er das will?
- Eine sehr schöne Regel ist, auch wenn man sie nicht immer anwenden kann: Würde es der Herr Jesus getan haben? Viele Fälle in unserem Leben werden sofort klar, weil wir erkennen, dass Er etwas Bestimmtes nicht getan hätte. Dann sollten auch wir es nicht tun. Es ist nicht der Wille Gottes.
Es gibt noch manche andere nützliche Regel - zum Beispiel die, dass der Wille Gottes immer in Übereinstimmung mit seinem Wort ist. Aber das möchte ich an dieser Stelle nicht weiter vertiefen.
Gute Werke
Noch einmal zu guten Werken. Was Gott „gute Werke“ nennt, ist in den Augen der Menschen oft alles andere als gut. Als Rahab, die Hure, die Kundschafter aufnahm, war sie in den Augen ihrer Landsleute eine Verräterin. Aber in den Augen Gottes war sie eine Glaubensheldin. Jakobus nennt gerade diese Frau als Beispiel für gute Werke. Ein anderes Beispiel ist Abraham. Was er machen sollte und auch zu tun beabsichtigte, war in den Augen der Welt Kindesmord. In den Augen Gottes war es Gehorsam, eine ganz gewaltige Tat des Glaubens.
Was der Glaube tut, wird von der Welt nicht verstanden. Als Maria kurz vor dem Tod Jesu das Pfund kostbaren Salböls über ihren Meister ausgoss, war die Reaktion der Jünger: Wozu diese Verschwendung? Das erinnert mich an einen Besuch, den ich einmal von einigen jungen Studenten erhielt. Eine gläubige junge Frau sagte: „Mich am Sonntagmorgen hinzusetzen und anzubeten, das ist für mich Zeitverschwendung. Da gehe ich lieber ins Krankenhaus und helfe dort den Menschen.“ Meine Antwort war: „Sie erinnern mich an die Jünger, die Maria von Bethanien vorwarfen: „Wozu diese Verschwendung?“ Ist es wirklich Verschwendung, dem Herrn Jesus die erste Zuneigung in der Anbetung zu geben? Nein! Aber so sieht es die Welt und der Unglaube. Nicht aber der Glaube. Der Herr Jesus verteidigt Maria und sagt: „Sie hat ein gutes Werk an mir getan.“ An den Herrn Jesus in Liebe zu denken ist ein gutes Werk.
Wachsend durch die Erkenntnis Gottes
Wir müssen als Christen wachsen. Der Gedanke des Wachsens kommt jetzt in Vers 10 ein zweites Mal vor uns: „Wachsend durch die Erkenntnis Gottes.“ Hier haben wir das großartige Mittel, wodurch allein wir wachsen können. Wir wachsen durch das zunehmende Erkennen der Offenbarung Gottes in Christus Jesus. Damit schließt der 2. Petrusbrief: „Wachst aber in der Gnade und Erkenntnis unseres Heilandes Jesus Christus.“ Da lernen wir, wo wir hinschauen müssen, wenn wir wachsen wollen. Nicht auf die Geschwister, nicht auf die Versammlung, sondern auf Ihn, auf Gott selbst, der sich in Christus offenbart hat. Diese Erkenntnis ist die Quelle wahren Wachstums.
Wahres Christentum ist nicht, dieses oder jenes zu tun, es ist Wachstum. Wachstum ist eine Notwendigkeit des Lebens. Wir wachsen, bis wir die Ewigkeit erreicht haben. So gibt es „Kindlein“, „Jünglinge“ und „Väter“. Alles ist eine Frage des Wachstums. Das göttliche Leben entwickelt sich in dem Gläubigen stufenweise. Über das Mittel zu dessen Entfaltung sprachen wir schon: die Erkenntnis Gottes. Wie köstlich ist es, wenn man mehr und mehr mit Gott und seinen Gedanken vertraut wird und daraus seine Kraft für das tägliche Leben schöpft! Das führt uns zum nächsten Vers.
Vers 11: Gekräftigt mit aller Kraft zum Ausharren
Wohin wachsen wir und wozu werden wir gekräftigt? „Gekräftigt mit aller Kraft nach der Macht seiner Herrlichkeit.“ Stärker kann man die Ausdrücke nicht häufen. Gott wählt nicht umsonst die verschiedenen Wörter, die nicht alle genau dasselbe meinen. Wir spüren hier eine geballte Kraft. Gott selbst ist in seiner Herrlichkeit am Werk.
Wozu werden wir gekräftigt? Ich hätte vielleicht gesagt: zum Verkündigen des Evangeliums. Oder für eine andere wertvolle Tätigkeit. Nein. Wofür brauchen wir in dieser Welt alle Hilfsquellen Gottes, seine Herrlichkeit und Macht? In gewissem Sinn zum Nichtstun - zu allem Ausharren.
Gottes Wort ist immer ausgewogen. Natürlich sollen wir auch etwas tun, denn unser Herr möchte uns auch in seinem Dienst benutzen. Ich freue mich in diesem Zusammenhang über den 58. Vers in 1. Korinther 15, der uns beide Seiten - das Ausharren und das Handeln - vorstellt: „Daher, meine geliebten Brüder, seid fest, unbeweglich.“ Wenn es um das Festhalten der offenbarten Wahrheit geht, müssen wir unbeweglich sein wie ein Fels in der Brandung. Dann kann kommen, was da wolle. Aber auf einmal verändert der Heilige Geist die Sprache und spricht von höchster Dynamik: „alle Zeit überströmend in dem Werk des Herrn.“
Es ist jedoch bezeichnend, dass der Apostel in unserem Brief das Ausharren betont. Der Grund dafür: Wir leben in einer bösen, gefahrvollen Welt, in der es für uns viel Leiden und Ungemach gibt. Es ist so, als wollte Gott die ganze Macht seiner Herrlichkeit aufbieten, um uns Kraft zu geben zum Ausharren in den Umständen, in denen wir sind. Ich glaube nicht, dass wir hier eine Einschränkung machen sollten. Es gibt Gläubige, die viel Not haben durch Krankheit. Manche sind in Sorge über ihre Kinder oder haben andere innere Ängste. Wie viel Probleme gibt es! Um dann auszuharren unter dem Druck der Umstände und nicht zu ermatten, brauchen wir den Blick auf unseren Herrn auf der Erde und auf Christus in seiner Herrlichkeit. Beides ist wichtig.
Dieselbe Reihenfolge wie in 1. Korinther 15 - Ausharren, danach Werke - finden wir auch in 2. Korinther 12,12: „Die Zeichen des Apostels sind unter euch vollbracht worden.“ Ich hätte vermutet, dass jetzt vor allem die Wunderwerke genannt werden. Aber Paulus spricht zuerst von „allem Ausharren“. Erst danach kommen die Wunderwerke. Auszuharren auf einem Weg des Gehorsams, des Duldens und Leidens ist nach meinem Verständnis die höchste Frucht, die wir Gott zur Ehre bringen können. Gewiss sollen wir auch für den Herrn wirksam sein. Aber es gibt viele Umstände, wo wir nichts tun können als nur die Hände zu falten und dann auf Gott zu warten, bis Er etwas tut. Dazu brauchen wir alle „Kraft, die nach der Macht seiner Herrlichkeit“ ist.
Wodurch bekommen wir Kraft?
Vor vielen, vielen Jahren hörte ich einen Vortrag von einem geschätzten Bruder. Er sprach über die Verse, die wir gerade überdenken. Er sagte: „Wenn ihr Kraft haben wollt, müsst ihr nicht den Herrn Jesus anschauen auf der Erde, sondern in der Herrlichkeit. Sonst gibt es keine Kraft.“ Wir haben uns als junge Brüder unterhalten und konnten das nicht so recht verstehen. Wir haben uns gefragt: „Ist das denn nicht gut, den Herrn Jesus anzuschauen in der Welt, wie Er hier war? Gibt es denn etwas Besseres?“
Nun, den Herrn anzuschauen, wie Er hier auf der Erde war, formt - wie nichts sonst - unsere Gesinnung. Diese Seite wird uns in Philipper 2 gezeigt: „Diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus war [war, ist und sein wird]“. Doch wenn es um die Frage der Kraft geht, wird uns Christus in Herrlichkeit vorgestellt. Das ist Philipper 3. Ich sage nicht, dass nicht auch die Beschäftigung mit dem Herrn Jesus, wie Er sich auf der Erde offenbarte, Kraft in sich birgt. Glaubensmänner früherer Jahrhunderte kannten zumeist gar keine andere Sichtweise. Doch wenn die Schrift vom Überwinden und von sittlicher Umgestaltung spricht, lenkt sie in aller Regel den Blick auf Christus in der Herrlichkeit (Joh 17,19; Apg 7,55.56; 2. Kor 3,18; Phil 3,8-14; 1. Joh 3,2.3).
Ich greife einmal die Stelle aus dem Gebet des Herrn heraus: „Ich heilige mich selbst für sie, damit auch sie Geheiligte seien durch Wahrheit.“ Er heiligte sich (oder: sonderte sich ab) dadurch, dass Er diese Erde verließ und zum Vater ging. Dort im Himmel wollte Er der Anziehungspunkt für die Seinen sein, und auf diese Weise würden auch sie Geheiligte sein durch Wahrheit. Wenn unsere Herzen mit Ihm droben beschäftigt sind, werden sie von allem, was hier unten ist, weggezogen. Die Herrlichkeit seiner Person und Er in der Herrlichkeit - das ist es, liebe Freunde, wodurch uns Kraft zufließt zum Ausharren und zum Überwinden in notvollen Situationen. Und wird nicht auch die Hoffnung, bald bei Dem zu sein, den unsere Seele liebt, uns beflügeln, Ihm schon hier ähnlicher zu sein?
Langmut mit Freuden
„Zu allem Ausharren und aller Langmut mit Freuden.“ Freude in schwierigen Umständen kann man nicht aus Büchern lernen, sondern nur in innigem Umgang mit dem Herrn. Auch die Welt will fröhlich sein, und sie weiß, ihre Feste mit Freuden zu feiern. Aber an der Wurzel von allem ist ein böser Krebs - Sünde.
Bei uns nicht! Das macht uns glücklich. Zwar begegnen auch uns auf unserem Glaubensweg mancherlei Nöte und Gefahren. Wir müssen sie durchleben. Doch uns hilft Jemand. Ganz an der Wurzel unseres Seins ist Christus, ist Freude. Wir müssen nicht denken: Ich muss Freude offenbaren, obwohl der Krebs der Sünde da unten frisst. Nein, wenn wir nur tief genug hinuntergehen, finden wir im Grund unseres Herzens Christus. Wie beglückend ist das! Wir brauchen nicht mit gesenktem Kopf durch leidvolle Prüfungen zu gehen. Wir besitzen Ihn, die Quelle der Freude, besitzen Ihn schon jetzt. Und wir werden Ihn haben, wenn wir - für ewig - in seiner Gegenwart sind.