Auf dem Berg der Verklärung
Am Fuß des Berges
Während das Betrachten der Herrlichkeit Christi auf dem Berg unsere Herzen nährt, spricht das Verhalten der Jünger, „als sie von dem Berg herabgestiegen waren“ (Vers 37) in sehr ernster Weise zu unseren Gewissen. Wenn wir uns (im Geist) auf dem Berg befinden, lernen wir das, was Christus ist. Und wenn wir vom Berg heruntergestiegen sind, müssen wir lernen, was in unseren Herzen ist. Das ist eine schmerzhafte Belehrung, zugleich jedoch sehr nützlich.
Vier aufeinander folgende Begebenheiten sind unserer Betrachtung wert.
Die Unfähigkeit der Jünger, einen Dämon auszutreiben (Lk 9,37–43)
Diese Verse zeigen uns zunächst die Unfähigkeit der neun Jünger, die in der Ebene geblieben waren, einen besonders gewalttätigen Dämon auszutreiben. Es hat jedoch nicht den Anschein, dass die Rückkehr der drei Jünger Petrus, Jakobus und Johannes die Situation verändert hätte. Dabei war die Autorität über die unreinen Geister den zwölf Jüngern ausdrücklich durch den Herrn übertragen worden, und zwar von Beginn ihrer Berufung an, den Herrn zu begleiten (vgl. Mt 10,1; Mk 6,7). Was aber war dann die Ursache für ihren Misserfolg? Markus offenbart ihn uns in seinem Bericht: „Diese Art kann durch nichts ausfahren als nur durch Gebet und Fasten.“ Das Gebet drückt die Abhängigkeit des Menschen von Gott aus; das Fasten spricht davon, dass man von allem absteht, was das Fleisch in uns nährt, um „nüchtern in allem“ zu sein (2. Tim 4,5).
Ist es nicht genau das, was uns oft in unseren Prüfungen des christlichen Lebens fehlt? Es handelt sich nicht darum, ein Wunder zu vollbringen oder Dämonen auszutreiben (übrigens sollten wir die größtmögliche Vorsicht walten lassen, bevor wir uns in Geisteraustreibungen einmischen). In unserer Zeit geht es darum, den Sieg zu erringen über die geistlichen Mächte der Bosheit, die sich in den himmlischen Örtern befinden und uns den Genuss unseres Erbteils und unserer himmlischen Segnungen in Christus rauben wollen. Und dafür ist eine ständige und wiederholte persönliche Übung nötig. Ein gestern errungener Sieg garantiert überhaupt keinen weiteren Sieg am heutigen Tag.
Es ist eine schöne und unerlässliche Sache für das Gleichgewicht unseres christlichen Lebens, dass wir uns auf dem Berg aufhalten, sozusagen erhoben durch die Gnade Christi. Aber das Wesentliche unseres Lebens spielt sich in der Ebene ab und nicht auf dem Berg. Es reicht nicht aus, einmal Christus durch den Glauben betrachtet zu haben, um vor den Gefahren der Welt in der Ebene bewahrt zu werden.
Der Herr Jesus muss seine Jünger streng tadeln: „O ungläubiges und verkehrtes Geschlecht! Bis wann soll ich bei euch sein und euch ertragen?“ (Vers 41). Aus diesen Worten können wir den Kummer erahnen, den die Jünger dem Herz ihres Meisters bereiteten.
Das ist die erste Lektion, die uns das Verhalten der Jünger lehrt. Aber wir sollten uns davor hüten, die Jünger zu verurteilen. Wenn wir an ihrem Platz gewesen wären, hätten wir es in keiner Weise besser gemacht. Darüber hinaus haben wir heute eine höhere Verantwortung als die Jünger, denn wir besitzen den Heiligen Geist, den sie noch nicht hatten. Das Kreuz Christi hat zudem in vollkommener Weise unseren natürlichen Zustand offenbart, den die Jünger noch nicht in dieser Weise kannten.
Ein Streit: Wer ist der Größte (Lk 9,43–48)
Man hätte denken können, dass der Misserfolg die Jünger demütig erhalten würde. Und das umso mehr, als der Herr genau in diesem Moment von dem sprach, was Ihn in Jerusalem erwartete (Vers 44). Aber das Fleisch des Menschen lässt sich nicht korrigieren.
So entsteht unter den Jüngern ein Streit, wer unter ihnen der Größte sei. Daraufhin stellt ihnen Jesus ein Kind als Ausdruck der Schwachheit und Abhängigkeit vor. Man muss wie ein Kind werden, um in das Reich der Himmel eingehen zu können (Mt 18,2.3), aber auch, um verstehen zu können, was Demut ist. Ungefähr zur gleichen Zeit bitten Jakobus und Johannes um einen Platz der Autorität mit ihrem Meister in der Herrlichkeit: „Gib uns, dass wir einer zu deiner Rechten und einer zur Linken sitzen mögen in deiner Herrlichkeit“ (Mk 10,35–45). Und ihre unpassende Bitte wurde noch gestützt durch das Ersuchen ihrer eigenen Mutter (Mt 20,20–22).
Am Traurigsten ist jedoch, dass der gleiche Streit unter den Jüngern entsteht, und das im Verlauf der Nacht, in der Jesus überliefert werden sollte. Das geschah, als Er soeben das Gedächtnismahl seiner Leiden und seines Todes eingeführt hatte: „Es entstand aber auch ein Streit unter ihnen, wer von ihnen für den Größten zu halten sei“ (Lk 22,24). Jesus antwortet ihnen: „Denn wer ist größer, der zu Tisch Liegende oder der Dienende? Nicht der zu Tisch Liegende? Ich aber bin in euerer Mitte wie der Dienende. Ihr aber seid es, die mit mir ausgeharrt haben in meinen Versuchungen; und ich bestimme euch, wie mein Vater mir bestimmt hat, ein Reich (Lk 22,27–29). Der Herr der Herrlichkeit nimmt also freiwillig den Platz des Sklaven und des Dienstes ein. Und diesen Platz wird er auch in Ewigkeit einnehmen (Lk 12,37). Ohne den Jüngern Vorhaltungen zu machen, auch wenn ihnen die Gedanken ihres missachteten Meisters so fremd waren, erkennt Jesus sie sogar als solche an, die mit Ihm ausgeharrt haben in seinen Prüfungen. Er verspricht ihnen auch einen Ehrenplatz und eine Stellung der Gemeinschaft mit Ihm in seinem Reich. Welch eine bewundernswürdige Herablassung und welch eine moralische Herrlichkeit strahlt aus den Worten unseres Retters hervor!
Dass doch das Betrachten dessen, der von sich sagen konnte, „denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig“ (Mt 11,29) in unseren Herzen eine Gesinnung der Demut hervorrufe und bewahre. So werden wir, jeder für sich, unseren Bruder höher achten als uns selbst. Christus ist auch darin das vollkommene Vorbild: „Denn diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus war“ (Phil 2,3–8). Die Herrlichkeit eines Dieners besteht darin, dass er dient, und nicht darin, dass er bedient wird.
Am Ende des Gedächtnismahls warnt der Herr in seiner vollkommenen Gnade seinen geliebten Jünger Simon Petrus vor dieser schrecklichen Versuchung, die auf diesen wartete, bevor die Nacht beendet wäre. Wenige Stunden später musste Petrus beim Hahnenschrei entdecken, dass er nicht stärker war als seine Brüder, als es darum ging, in der Stunde der Versuchung zu wachen (Mt 26,33–45). Nun würde er nicht mehr glauben, besser und stärker als seine Brüder zu sein. Auf diese Weise kann uns das Bewusstsein unseres Elends und unserer Schwachheit dazu bringen, demütiger zu werden und mehr Mitgefühl mit unseren Geschwistern zu haben.
Der sektiererische Geist (Lk 9,49.50)
In diesen Versen lesen wir, dass Johannes im Namen der Jünger spricht und scheinbar seinen Meister verteidigt. In Wirklichkeit jedoch suchten die Jünger nur ihre eigene Ehre. Während die Jünger soeben ihre Unfähigkeit offenbarten, einen Dämon auszutreiben, fällt es ihnen schwer anzunehmen, dass eine andere Person dazu in der Lage war. Hätten sie nicht zurückhaltender sein sollen? Gott ist souverän. Und wer sind wir, dass wir uns einmischen wollten in seine freie Wahl der Instrumente, die Er bestimmt, um seine Absichten auszuführen? Wir haben kein exklusives Recht auf die Gedanken Gottes. Und wenn der Herr andere Personen auswählt als uns, um sein Werk zu vollbringen, sollten wir uns darüber freuen! Der Apostel Paulus gibt uns dafür ein zu Herzen gehendes Beispiel in seinem Brief an die Philipper. Er freute sich darüber, dass das Evangelium gepredigt wurde, auch wenn es einige aus Neid und Streitsucht taten (Phil 1,15–18). Andererseits heiligt der Zweck nicht die Mittel – auch ein möglicher Segen rechtfertigt keine Mittel. Und wir können uns im Dienst daher nicht mit allen verbinden, die der Herr benutzt.
Wir finden ein Beispiel in der Geschichte Israels in der Wüste, das der Gesinnung von Johannes an dieser Stelle ähnelt. Als Eldad und Medad im Lager weissagten, entrüstet sich Josua und will ihnen wehren: „Mein Herr Mose, wehre ihnen!“ Aber Mose offenbarte den Reichtum seiner Gnade für das Volk, als er antwortete: „Eiferst du für mich? Möchte doch das ganze Volk des Herrn Propheten sein, dass der Herr seinen Geist auf sie legte!“ (4. Mo 11,28.29).
Während die Jünger somit in der vorhergehenden Begebenheit einen persönlichen Egoismus offenbarten (Vers 46), enthüllen sie nun einen Egoismus, der sie als Gruppe betraf. Der Herr antwortet Johannes im Blick auf seine Verwerfung: „Wehrt nicht; denn wer nicht gegen euch ist, ist für euch“ (Vers 50), oder: „Denn wer nicht gegen uns ist, ist für uns“ (Mk 9,40). Auf der anderen Seite sagt der Herr jedoch auch zu seinen Jüngern: „Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich, und wer nicht mit mir sammelt, zerstreut“ (Lk 11,23). Jeder, der nicht um Christus sammelt als alleinigem Zentrum, zerstreut. Welch ein ernster Gedanke!
Das Bedürfnis von Gnade (Lk 9,51–56)
Diese vierte Begebenheit enthält eine andere, wichtige Lektion für uns. Auch hier finden wir wieder Jakobus und Johannes, die ansonsten in ihrer Belehrung, in ihrem Dienst oder ihrem persönlichen Leben so positive Seiten haben. Aber an dieser Stelle sind ihnen die Gedanken ihres Meisters anscheinend wieder völlig fremd. Es geht hier nicht mehr um einen Streit untereinander, wer den ersten Platz unter ihnen einnehmen könne. Es geht auch nicht darum, die Macht für sich allein zu beanspruchen, um einen kollektiven Stolz zu stillen. Jetzt finden wir die Abwesenheit von Gnade, die sich mit einer Gesinnung des Herrschens verbindet. Unser natürliches Herz verurteilt leichter, als dass es vergibt. Die Großen dieser Erde benutzen und missbrauchen die Autorität, die ihnen anvertraut worden ist. Denn die Erhöhung stellt eine Falle dar, in die alle hineinfallen. Christus allein ist die bewundernswerte Ausnahme.
Der Herr ging durch Samaria, um nach Jerusalem hinaufzugehen (Lk 17,11). Von den Samaritern wird der Herr nicht aufgenommen. Diese Gegend des Landes Israel war seit der Wegführung der zehn Stämme durch Salmaneser, den König Assyriens, von verschiedenen Volksstämmen bewohnt worden (2. Kön 17,24). Diese Völker hatten den wahren Gottesdienst mit einem Götzendienst ihrer Götter vermischt. So hatten sie Gerisim als ihr religiöses Zentrum erwählt (Joh 4,20). Der Herr wird in diesem samaritischen Dorf abgelehnt, weil sein Angesicht nach Jerusalem hin gerichtet war. Der vollkommene Gehorsam des wahren Dieners des Herrn und seine Hingabe hinsichtlich des Werkes, das der Vater Ihm in die Hände gegeben hatte (Joh 13,3) zogen weder den Menschen noch die fleischliche Religion an. „Er hatte keine Gestalt und keine Pracht; und als wir ihn sahen, da hatte er kein Aussehen, dass wir ihn begehrt hätten“ (Jes 53,2).
Jakobus und Johannes unternehmen es nun, die Interessen ihres Meisters zu verteidigen. Sie schlagen vor, Feuer vom Himmel über die Samariter herbeizurufen. „Herr, willst du, dass wir sagen, Feuer solle vom Himmel herabfallen und sie verzehren, wie auch Elia tat?“ (Vers 54). Einige Tage später würde Petrus sein Schwert nehmen und Malchus, dem Diener des Hohenpriesters, das Ohr abhauen, um Jesus zu verteidigen (Joh 18,10).
Es war genau in Samaria, wo der Prophet Elia früher zweimal Feuer vom Himmel auf die Boten des untreuen Königs Ahasja herab gerufen hatte (2. Kön 1,10.12). Der Charakter des Dienstes und der Wunder Elias war der von Gericht und Gerechtigkeit. Wie ganz anders war der Platz, den der Herr freiwillig eingenommen hatte: Er selbst litt für die Menschen, denn Er wollte sie nicht vernichten, „denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richte, sondern damit die Welt durch ihn errettet werde“ (Joh 3,17). Wenn die Jünger die Gedanken Gottes verstanden hätten, hätten sie sich ihnen ruhig untergeordnet. Hatten sie vergessen, dass sie ungefähr drei Jahre zuvor den gleichen Weg mit ihrem Meister zurückgelegt hatten – in umgekehrter Richtung – und an der Quelle Sichars angehalten hatten? Gerade dort waren die Felder weiß zur Ernte (Joh 4,35). Ein wenig später sollte Samaria die erste Gegend sein, die das Evangelium nach Juda und Jerusalem annehmen würde (Apg 8,5.14–17).
So wie unser Meister, der uns ein Beispiel hinterlassen hat, damit wir seinen Fußspuren nachfolgen, sind auch wir aufgerufen die ungerechten Leiden, denen wir auf dem Weg des Gehorsams vonseiten der Welt begegnen, zu erdulden, ohne uns zu rächen (1. Pet 2,21–23). Der Apostel Paulus hat durch die Gnade Gottes seinem Vorbild sehr nahe folgen dürfen. Er konnte sagen: „Deswegen erdulde ich alles um der Auserwählten willen“ (2. Tim 2,10).