Betrachtung über das Evangelium nach Lukas

Lukas 3

Betrachtung über das Evangelium nach Lukas

Eine lange Zeit ist inzwischen verstrichen, wenn wir zu den Berichten dieses Kapitels kommen. Wie der Weg Moses in seiner Jugend (so möchten wir diese Jahre nennen), ist auch der Weg des Herrn durch die Überlegungen und die Finsternis der Natur unterbrochen worden. Mose meinte, „seine Brüder würden verstehen, dass Gott durch seine Hand ihnen Rettung gebe; sie aber verstanden es nicht“. Ihr Unglaube trennte ihn vierzig Jahre von seinen Brüdern.

So tat der Herr Jesus, der größer ist als Mose, Seines Vaters Werk in der Mitte Israels, aber Seine Brüder verstanden Ihn nicht. Er musste nach Nazareth hinabgehen und wurde Israel eine Zeit lang entfremdet. Er kann sie nur in derselben Vollkommenheit vor Gott verbringen. Der Unglaube des Menschen mag die Situation verändern, aber nichts kann das Herz dieses heiligen Menschen beeinflussen. Er ging hinab nach Nazareth, um dort untertan zu sein, noch immer als ein gottesfürchtiges Kind, das zunahm an Weisheit und Größe und Gunst bei Gott und Menschen.

Aber hier in diesem Kapitel kommen wir in völlig andere Umstände und Zeiten. Die Kinder sind herangewachsen und reif, sich Israel zu zeigen. Gerade diesen feierlichen Augenblick benutzt unser Evangelist, eine ausführliche Übersicht über die Welt zu geben. Das war eine Aufgabe, die ihm durch den Heiligen Geist eigentlich gegeben war, denn der Geist hat bei Lukas, wie schon gesagt, den Menschen im Auge und beschäftigt sich mit dem Menschen. Er zeigt uns hier, wie still und ruhig die ganze Erde saß (Sach 1,11), denn das heidnische Tier hatte alles nach seiner Vorstellung geordnet. Der Römer Tiberius war Kaiser, seine Prokonsuln waren in ihren verschiedenen Regierungsbezirken, und Judäa war ein Teil seiner Stärke und Ehre. Auch die Priester waren in ihrem Tempel. Alles in der politischen und religiösen Welt war so, wie der Mensch es haben wollte. Doch in den Augen Gottes war dies alles eine Wildnis, denn statt dass Er darin einen Ruheplatz für sich besaß, wird die Stimme Seines Dieners ausgesandt, wie einst Elia in den bösen Tagen Ahabs, um alle aufzuwecken und den Schlaf der fleischlichen Zufriedenheit, worin der Mensch und die Welt eingehüllt waren, zu stören.

Gottes Gedanken sind in der Tat nicht die Gedanken des Menschen. Des Menschen Sabbath war jetzt für Gott eine Wüste, und Er wird an ihm tätig sein wie in der Wüste. Die Haushaltung des Gesetzes hatte inzwischen den Menschen erprobt, und es hatte sich gezeigt, dass er hoffnungslos von der Gerechtigkeit abgewichen war. Deshalb wird Johannes gesandt, den Menschen aufzufordern, den Platz eines überführten Sünders einzunehmen. Er weist auf das Heilmittel hin, das in Gott für den Sünder da war, aber er zeigt es nicht als bereits erreichbar und eingeführt. Er verkündigt die Vergänglichkeit alles Fleisches und legt die wirklichen Wurzeln bloß. Doch hatte er nicht den Samen einer besseren Ernte in seiner Hand. Er sprach das Todesurteil über den Menschen aus, aber Leben brachte er ihm nicht. Er warf ihn in den Staub, gab ihm aber keine Kraft, sich wieder zu erheben. Das Leben und die Kraft sollten danach durch den Sohn kommen. Johannes tat keine Wunderwerke. Er forderte den Gewalttätigen auf, das Reich mit Gewalt an sich zu reißen, aber er zeigte ihm keine offene Tür. „Er war nicht das Licht, sondern damit er von dem Licht zeugte.“ Er stand zwischen Israel und seinem Gott. Einerseits sagte er Israel, dass sie alle Fleisch waren und dass das Fleisch wie Gras war, zum anderen wies er auf Jehova-Jesus, den Gott Israels, hin, der Seinen Lohn mit sich bringe und vor dem er Sein Werk tat.

In seinem Dienst war eine Mischung von Gnade und Gerechtigkeit. Er kam „auf dem Weg der Gerechtigkeit“, stand abseits von der Welt und lehnte die Berührung mit ihr ab. So strafte er durch sein Licht die Finsternis. Er sang seiner Generation Klagelieder, aß nicht und trank nicht, weil er die Menschen aufforderte, sich als Sünder zu erkennen und ihren Platz als solche einzunehmen. Aber dann kam er auch wieder im Weg der Gnade, weil er der Vorläufer des Herrn war und vor dem Angesicht des Herrn herging, um den Weg des Heils und das Reich vorzubereiten. So gab es eine Vermischung von Gnade und Gerechtigkeit in seinem Dienst. Das war ohne Frage ein Fortschritt gegenüber dem Gesetz und den Propheten. Das Gesetz hatte den Menschen im Fleisch, der Gerechtigkeit entsprechend, in Ordnung zu bringen versucht, während die Propheten in gewissem Sinn zur Unterstützung des Gesetzes gesandt waren, um das Volk zum Gehorsam zurückzurufen, damit ihm jede Hilfe und jeder Nutzen zuteil würde. Gottes überreiche Geduld prüfte damit, ob der Mensch imstande wäre, sich selbst wiederherzustellen und in Gerechtigkeit zu leben oder nicht. Der Dienst Johannes' setzte jedoch die Hoffnungslosigkeit aller dieser Erwartungen voraus und beschäftigte sich mit dem Menschen als einem überführten Sünder. Aber – und das ist die Ordnung nach göttlicher Weisheit – sein Dienst war doch nicht so groß wie der Dienst, der jetzt eingeführt worden ist. Nach der Auferstehung forderten die Apostel den Menschen auf, im Glauben den Platz eines begnadigten Sünders einzunehmen. So hat jetzt für uns das Licht der Gnade und des Heils seinen Mittagsglanz erreicht, und wir erwarten nur noch das Licht der Herrlichkeit und das Reich.

Bei unserem Gott – dürfen wir wohl sagen – gab es von Anfang an ein viel tieferes und ausgezeichneteres Werk als das der alten Schöpfung. Die alte Schöpfung war in gewissem Sinn dem Menschen zu seiner Verfügung überlassen. Seine Treue oder sein Ungehorsam als Geschöpf sollten die Geschichte dieser Schöpfung bestimmen. Aber der göttliche Ratschluss vor der Schöpfung hatte im Sohn ein Werk geplant und niedergelegt, das nie misslingen konnte, weil es von keiner geringeren Kraft als Seiner eigenen abhängig war. Dieses Geheimnis hat der Herr vor sich, wenn Er sagt: „Der Himmel und die Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen.“ Die Schöpfung ist vergänglich, die Erlösung (das Werk des Wortes) dagegen unerschütterlich, weil der lebendige Gott sich selbst damit verbunden hat. So sagt der Prophet, indem er Jesus, den Sohn, anredet: „Du hast einst die Erde gegründet, und die Himmel sind deiner Hände Werk“ (Ps 102,26). Alle Dinge, die gemacht sind, werden erschüttert werden (Heb 12,27), denn Gott ist nicht selbst mit ihnen verbunden; Er ist nicht ihre Grundlage. Aber das Wort war bei Gott, war Gott und wurde Fleisch, wesentlicher Bestandteil – wenn man so von diesem wunderbaren Geheimnis ewiger Gnade sprechen darf – des Werkes selbst. Er ist der Weinstock, das Haupt der Ecke, der Eckstein des Hauses. Das gibt der Erlösung eine unsagbar vorzüglichere Herrlichkeit, als sie die Schöpfung je hatte. Deshalb sagt der Täufer in seinem Dienst, den wir in diesem Kapitel unseres Evangeliums finden: „Das Gras ist verdorrt, die Blume ist abgefallen (verwelkt); aber das Wort unseres Gottes besteht in Ewigkeit“ (Jes 40,8). An diesem Werk ist alles unverweslich. Der Same des Lebens, den es bringt, ist unverweslich, der Leib, mit dem es dieses Leben bekleiden wird, ist unverweslich, und das Erbe, mit welchem es bekannt macht, ist unverweslich (1. Kor 15; 1. Pet 1). Gott ist durch den Riss, den die Sünde des Menschen verursacht hat, in die alte Schöpfung eingetreten und hat Sich selbst mit dem gewaltigen Ruin auf eine Weise und mit einem Ziel verbunden, dass es zum ewigen Ruhm Seines eigenen heiligen Namens, aber auch zur unangreifbaren Ruhe und Unvergänglichkeit Seiner neuen Schöpfung ausschlägt.

Psalm 90 scheint die Äußerung einer Seele zu sein, die etwas von diesem Geheimnis erfahren hat. Der Prophet blickt zu einem Gott auf, der über jeder geschaffenen Macht steht. Dann stellt er die der alten Schöpfung anhaftende Nichtigkeit fest. Schließlich aber findet er aus einer solchen Sicht heraus Trost in Gottes Werk der Barmherzigkeit oder in dem Werk der Erlösung durch das Wort. So ist es auch mit uns, Geliebte. Das Werk des Wortes oder Gottes, geoffenbart im Fleisch, ist in dem schmerzlichen Bewusstsein der allgemeinen Nichtigkeit um uns her der Trost für unsere Herzen. Der Dienst Johannes' des Täufers mochte die Seele zu diesem Bewusstsein der Vergänglichkeit führen, doch blieb es einem Anderen vorbehalten, uns diesen kostbaren und zuverlässigen Trost in Ihm selbst und Seinem Werk zu geben, das ewigen Bestand hat.

Doch dies sei nur so nebenbei im Zusammenhang mit dem Dienst des Täufers erwähnt. Danach haben wir den Stammbaum des Herrn, der bis zum Ursprung der menschlichen Familie zurückführt, nicht nur bis zu David und Abraham wie in Matthäus, sondern bis zu Adam. Das ist ebenfalls, wie nicht betont zu werden braucht, ganz in Übereinstimmung mit den Absichten des Geistes Gottes bei Lukas. Dass eine solche Ahnentafel im Johannes-Evangelium fehlt, ist genauso in völliger Übereinstimmung mit dem Charakter dieses Evangeliums. Denn Abstammungsverzeichnisse bestätigen nur menschliche oder völkische Beziehungen. Das Aufbewahren von Geschlechtsverzeichnissen, wie es in den jüdischen Schriften geschah (1. Chr usw.), zeigt die Vorsorge für die Erhaltung der menschlichen Ordnung. Diese Ordnung wird auch im Reich aufrechterhalten, wenn die Herzen der Kinder zu den Vätern und die Herzen der Väter zu den Kindern gewendet werden (Sach 12,10–14). Wir jedoch werden ermahnt, uns nicht mit Geschlechtsregistern abzugeben (1. Tim 1,4; Tit 3,9), denn die Versammlung soll kein Diener für die Ordnung und Aufrechterhaltung menschlicher Systeme sein, sondern sie hat himmlische Beziehungen.

Bevor wir zum folgenden Kapitel kommen, möchte ich bemerken, dass die Gottessohnschaft unseres Herrn hier bei Seiner Taufe anerkannt wird, wie schon vorher bei der Ankündigung Seiner Geburt und später noch bei der Verklärung (Kap. 1,35; 9,35). Aber dies hat jedes Mal eine unterschiedliche Bedeutung. Das Kind der Jungfrau, die von dem Heiligen Geist überschattet wurde, sollte „Sohn Gottes“ genannt werden, wodurch Seine Person anerkannt wurde. Jetzt, bei Seiner Taufe, wird dasselbe Zeugnis ein zweites Mal abgegeben mit dem Zusatz: „An dir habe ich Wohlgefallen gefunden.“ Damit wird Sein Dienst anerkannt, denn die Taufe führte Ihn in Seinen Dienst ein, der das vollkommene, göttliche Wohlgefallen hervorrufen sollte. Das ist gesegnet und tröstlich für uns Sünder. Das Gesetz wurde niemals so bestätigt, denn es forderte Gerechtigkeit. Auch Johannes der Täufer wurde nie auf diese Weise bestätigt, denn er überführte den Menschen, ohne ihm zu helfen. Aber nun, da der Sohn in Gnade und mit Heilung für Sünder kam, konnte Gottes Herz ruhen, denn das war die Erfüllung des Vorsatzes Seiner Liebe. So konnte jetzt von dem Sohn und Seinem Dienst bei der Taufe bzw. bei Seiner Salbung, die unmittelbar Seiner Taufe folgte, bezeugt werden: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden.“ Bald wird Er zum dritten Mal dieses Zeugnis bekommen, wenn die Herrlichkeit oder das Reich für einen Augenblick auf dem Berg sichtbar wird. Dann wird dieselbe Bestätigung mit dem Zusatz gehört werden: „Ihn hört!“ Und das ist zu seiner Zeit ebenso vollkommen, denn es bestätigt Ihn in Seinem Königtum. Jedes Knie muss sich vor Ihm beugen, und die Seele, die Ihn nicht hören will, wird aus Seinem Volk ausgerottet werden (Apg 3,22.23).1

So wird bei drei Gelegenheiten – bei der Ankündigung Seiner Geburt, bei Seiner Taufe und bei Seiner Umgestaltung – Seine Gottessohnschaft bezeugt. Mit anderen Worten: Seine Person, Sein Dienst und Seine Herrschaft werden von dem Vater anerkannt. Das ganze Wohlgefallen Gottes ruhte auf Ihm, und die völlige Unterwerfung der Erde wurde für Ihn gefordert. Gott hat Sein völliges Wohlgefallen an Ihm, und die Erde soll Ihn hören. Auf diese Zeugnisse durch die Stimme vom Himmel folgt zu gegebener Zeit die Auferstehung, um sie in Tat und Wahrheit abschließend zu beglaubigen und den Herrn Jesus „als Sohn Gottes in Kraft“ zu erweisen (Röm 1,4).

Fußnoten

  • 1 Diese Worte „ihn hört“ waren ein Verweis für Petrus, der Mose und Elia auf dieselbe Ebene mit dem Herrn Jesus stellte.
Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel