Der Brief an die Römer
Der religiöse Mensch (Kapitel 2,17-3,8)
Mit Kapitel 2,17 wendet sich der Apostel den Juden zu, man könnte auch sagen dem religiösen Menschen. Er hat bewiesen, dass die Heiden und die Philosophen keine Gerechtigkeit besitzen und unter dem Gericht Gottes stehen. Was ist aber mit den ganzen religiösen Vorrechten des Juden? Steht auch er unter Gericht und braucht einen Retter?
Um diese Fragen zu beantworten, gibt der Apostel eine detaillierte Beschreibung des religiösen Menschen und seiner Vorrechte (Verse 17–20). Dann zeigt er, wie vollkommen der Jude darin versagt hat, den Verantwortlichkeiten zu entsprechen, die solche Vorzüge mit sich bringen.
Eine detaillierte Beschreibung der Vorzüge des Juden (2,17–20)
„Wenn du aber Jude genannt wirst und dich auf das Gesetz stützt und dich Gottes rühmst und den Willen kennst und das Vorzüglichere unterscheidest, da du aus dem Gesetz unterrichtet bist, und getraust dich, ein Leiter der Blinden zu sein, ein Licht derer, die in Finsternis sind, ein Erzieher der Törichten, ein Lehrer der Unmündigen, der die Form der Erkenntnis und der Wahrheit in dem Gesetz hat“ (2,17–20).
Um die Verantwortlichkeiten des religiösen Juden zu zeigen, gibt der Apostel eine ausführliche Beschreibung der Vorzüge, die dem Juden geschenkt worden sind und derer er sich rühmt.
- Der Jude hat die Überzeugung, dass er ein bevorrechtigter Jude ist, im Unterschied zu den Heiden.
- Zudem ruht er sich auf der Tatsache aus, dass er ein göttlich gegebenes Gesetz besitzt.
- Dann rühmt er sich in der Kenntnis des wahren Gottes.
- Darüber hinaus rühmt er sich, den Willen Gottes zu kennen und als im Gesetz Unterwiesener fähig zu sein, die Dinge zu unterscheiden, die vorzüglicher sind als andere.
Der Anspruch des Juden
Als jemand, der Jude ist und das Gesetz besitzt, glaubt ein Jude, Folgendes zu können:
- die Blinden zu führen;
- denjenigen Licht zu geben, die in Finsternis sind;
- die Törichten zu erziehen;
- die Unmündigen zu belehren.
Zudem besitzt er die Form der Erkenntnis und der Wahrheit, wie sie im Gesetz zu finden ist. Er ist im Blick auf das Licht, das er besitzt, nicht davon abhängig, die Traditionen von Mund zu Mund überliefert zu bekommen.
Der heutige religiöse Mensch
Wir müssen nur diese Verse lesen, um zu erkennen, wie genau sie den religiösen Mensch beschreiben, sei er Jude oder ein bekennender Christ. Man tausche einfach den Namen des Juden mit dem des Christen, das Gesetz und die Bibel, dann hat man eine genaue Beschreibung des christlichen Bekenntnisses. Der bekennende Christ rühmt sich, dass er:
- Christ genannt wird und nicht Heide,
- die Bibel und die Kenntnis des wahren Gottes hat,
- in der Bibel unterwiesen ist im Blick auf das, was richtig ist, und
- daher fähig ist, Missionare auszusenden, um Heiden zu belehren.
Können nun eine oder mehrere dieser unzweifelhaften Vorzüge die Errettung der Seele bewirken, oder können sie den Menschen in eine Stellung der Gerechtigkeit vor Gott bringen? Nützt es vor Gott, dass ein Mensch Christ genannt wird und die Bibel besitzt und daher in der Lage ist zu unterscheiden, was richtig ist?
Die Prüfung des religiösen Menschen (2,21–23)
„... der du nun einen anderen lehrst, du lehrst dich selbst nicht? Der du predigst, man solle nicht stehlen, du stiehlst? Der du sagst, man solle nicht ehebrechen, du begehst Ehebruch? Der du die Götzenbilder für Gräuel hältst, du begehst Tempelraub? Der du dich des Gesetzes rühmst, du verunehrst Gott durch die Übertretung des Gesetzes?“ (2,21–23).
Um diese Fragen zu beantworten, prüft der Apostel in den nun folgenden Versen die Ansprüche und Anmaßungen der religiösen Menschen, indem er einige erforschende Fragen stellt. Der Apostel wendet sich an den religiösen Menschen und fragt ihn:
- Was aber ist mit Dir selbst? Du rühmst Dich, andere lehren zu können, lehrst Du denn Dich selbst?
- Wie sieht es mit Deiner Praxis aus? Du predigst anderen, dass sie nicht stehlen sollen. Stiehlst Du?
- Wie sieht es im Blick auf die Welt aus? Du bekennst, das Vorzüglichere zu unterscheiden. Bildest Du eine unheilige Allianz mit der Welt? Begehst Du Ehebruch?
- Wie sieht es im Blick auf die Heiden aus? Du bekennst, Götzen zu verabscheuen. Begehst Du selbst Tempelraub?
- Wie sieht es mit dem Gesetz und der Bibel aus? Du rühmst Dich in dem Gesetz. Gehorchst Du diesem?
- Wie sieht es mit Gott aus? Du rühmst Dich der Kenntnis Gottes. Ehrst Du Gott?
Diese erforschenden Fragen entlarven den religiösen Menschen völlig. Sein praktisches Leben zeigt, dass sein Bekenntnis Lüge ist. Er hat tatsächlich eine Form der Gottseligkeit, aber er verleugnet deren Kraft (vgl.
Die Lästerung Gottes wegen der religiösen Menschen (2,24)
„Denn der Name Gottes wird euretwegen unter den Nationen gelästert, wie geschrieben steht“ (2,24).
Das Ergebnis fasst Paulus in einem sehr ernsten Satz zusammen. Der Name Gottes wird unter den Heiden aufgrund des religiösen Menschen gelästert. Der Apostel spricht von den Juden. Aber was er sagt, ist genauso wahr für den bekennenden Christen. Die Lästerungen der Ungläubigen werden in erster Linie durch die Verdorbenheit und den entarteten Lebenswandel der bekennenden Christenheit hervorgerufen. Die Menschen wären sicher nicht einfach deshalb zu Christen geworden, wenn Christen in ihrem praktischen Leben in Übereinstimmung mit ihren Worten gehandelt hätten. Aber wenn der Lebenswandel der Christen in Übereinstimmung mit ihrem Bekenntnis wäre, hätten die Menschen keinen Anlass gefunden, Gott zu lästern.
Bekenntnis – Wirklichkeit (2,25–29)
„Denn Beschneidung ist zwar von Nutzen, wenn du das Gesetz tust; wenn du aber ein Gesetzes-Übertreter bist, so ist deine Beschneidung Vorhaut geworden. Wenn nun die Vorhaut die Rechte des Gesetzes beachtet, wird nicht seine Vorhaut für Beschneidung gerechnet werden und die Vorhaut von Natur, die das Gesetz erfüllt, dich richten, der du mit Buchstaben und Beschneidung ein Gesetzes-Übertreter bist? Denn nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist, noch ist die äußerliche Beschneidung im Fleisch Beschneidung; sondern der ist ein Jude, der es innerlich ist, und Beschneidung ist die des Herzens, im Geist, nicht im Buchstaben; dessen Lob nicht von Menschen, sondern von Gott ist“ (2,25–29).
Der Apostel hat gezeigt, dass die Lebenspraxis des religiösen Menschen bei weitem nicht an dessen Bekenntnis herankommt. In den folgenden Versen zeigt er den Grund für dieses Versagen. Dessen Wurzel liegt in dem Bekenntnis äußerlicher Vorrechte, ohne dass ein inneres Werk der Gnade in dem Herzen geschehen ist. Der äußerliche Platz des Vorrechts, wovon die Beschneidung das sichtbare Zeichen ist, ist wirklich vorteilhaft. Aber wenn die Lebenspraxis nicht in Übereinstimmung mit diesen Vorrechten ist, hat sie keinen geistlichen Wert.
Wenn der Heide ohne diese äußere Stellung das Gesetz in Gerechtigkeit bewahrt, würde er den Segen der bevorrechtigen Klasse von Juden erhalten, ohne deren äußere Stellung zu besitzen. Daher ist das, was innerlich ist, viel wichtiger als das, was äußerlich wahr ist. Der wahre Jude ist daher jemand, in dem ein inneres Werk des Herzens geschehen ist. Er dient Gott in geistlicher Weise und nicht dem Buchstaben. Er lebt vor Gott, nicht einfach vor Menschen.
Der Apostel hat somit gezeigt, dass der religiöse Bekenner wie der Heide und der moralisch hoch stehende Mensch ohne Gerechtigkeit ist und daher unter dem Gericht Gottes steht. Die Argumente allerdings, die Paulus im Verlauf dieser Verse im Blick auf den religiösen Menschen benutzt hat, könnten drei Fragen hervorrufen, die der Apostel in den ersten acht Versen von Kapitel 3 aufgreift.
3 Fragen zu den Argumenten des Apostels (Kapitel 3,1–8)
„Was ist nun der Vorteil des Juden oder was der Nutzen der Beschneidung? Viel, in jeder Hinsicht. Denn zuerst einmal sind ihnen die Aussprüche Gottes anvertraut worden“ (3,1.2).
Zunächst einmal könnte folgende Frage aufkommen: Gibt es keinen Vorteil im Blick auf die äußere Stellung der Juden? Diese Frage entsteht aus der Tatsache, dass der Apostel soeben gezeigt hat, dass die Stellung des religiösen Menschen mit allen seinen Vorteilen nicht dazu führt, dass der Mensch vor Gott steht, es sei denn, dass ein inneres Werk an seinem Herzen damit verbunden ist. Daher kommt die Frage auf: Was für ein Vorteil liegt in den äußerlichen religiösen Vorrechten, wie sie der Jude genoss? Was für ein Nutzen ist mit der Beschneidung verbunden – dieser äußeren Handlung, die den Menschen in die äußerliche Stellung eines Juden brachte?
In seiner Antwort bestätigt der Apostel sehr klar, dass mit der äußerlichen Stellung tatsächlich Vorteile verbunden sind. Er sagt: „Viel, in jeder Hinsicht.“ Der wesentliche Vorteil eines Juden bestand darin, dass er die Aussprüche Gottes besaß. Die Schriften zu besitzen war damals ein großer Gewinn und ist es auch heute noch. Auch wenn viele das Evangelium nicht annehmen, bleibt es doch ein großer Vorteil, in einem Land zu wohnen, wo das Licht des Wortes Gottes auf Menschen strahlt, auch wenn es nur ihre äußeren Lebensgewohnheiten beeinflusst.
„Was denn? Wenn einige nicht geglaubt haben, wird etwa ihr Unglaube die Treue Gottes aufheben? Das sei ferne! Gott aber sei wahrhaftig, jeder Mensch aber Lügner, wie geschrieben steht: „Damit du gerechtfertigt wirst in deinen Worten und überwindest, wenn du gerichtet wirst“ (3,3.4).
Die Antwort des Apostels auf die erste Frage führt zu einer zweiten. Er hat deutlich gemacht, dass es ein bedeutsamer Vorteil ist, die Aussprüche Gottes zu besitzen. Was aber ist, wenn einige nicht glauben? Wird ihr Unglaube das Wort Gottes ungültig machen im Blick auf diejenigen, die den Glauben Gottes bewahren? Oder wird der Unglaube des Menschen die Wahrheit dessen betreffen, was Gott gesagt hat?
Der Apostel beantwortet die Frage mit einem deutlichen: „Das sei ferne!“ Dazu zitiert er aus
Das ist eine ernste Warnung für alle Menschen – Gläubige und Ungläubige zugleich. Wenn wir nicht lernen wollen in der Gegenwart Gottes, dass das, was Gott über das Böse in unseren Herzen und die Folgen des Sündigens sagt, wahr ist, werden wir es durch die regierende Zucht Gottes (oder das ewige Gericht im Fall von Ungläubigen) lernen müssen.
Diese Kapitel zeigen uns also die ernste Wahrheit, die uns selbst betrifft. Gut wäre es, wenn wir Gläubigen dem Wort erlauben würden, uns persönlich zu durchdringen. Dann lernen wir, dass das, was Gott gesagt hat, wahr ist. Es ist besser, dies so zu lernen, als wie David diese Wahrheit durch ein schlimmes Fallen zu lernen. So oder so müssen wir lernen, dass das, was Gott über das Fleisch sagt, wahr ist, und dass alles, was der Mensch im Gegensatz dazu von sich gibt, eine Lüge ist, wer auch immer dieser Mensch sein mag. Wie gewaltig ein Genie oder ein Philosoph sein mag: Er ist ein Lügner, wenn er dem widerspricht, was Gott im Blick auf Sünde und Fleisch gesagt hat.
„Wenn aber unsere Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit erweist, was sollen wir sagen? Ist Gott etwa ungerecht, dass er den Zorn auferlegt? (Ich rede nach Menschenweise.) Das sei ferne! Wie könnte sonst Gott die Welt richten? Wenn aber die Wahrheit Gottes durch meine Lüge übergeströmt ist zu seiner Herrlichkeit, warum werde ich auch noch als Sünder gerichtet? Und ist es etwa so, wie wir gelästert werden und wie einige sagen, dass wir sprechen: Lasst uns das Böse tun, damit das Gute komme? – deren Gericht gerecht ist“ (3,5–8).
Wir haben gesehen, dass die Ungerechtigkeit von David zur Gelegenheit Gottes wurde zu zeigen, dass Er recht war in allem, was Er gesagt hat. Auf diese Weise empfiehlt unsere Ungerechtigkeit die Gerechtigkeit Gottes. Dadurch kommt es für den natürlichen Verstand zu einer dritten Frage: Wie kann Gott Gericht ausüben für etwas, dass trotz seiner Verkehrtheit zur Herrlichkeit Gottes führt?
Wenn Paulus auf diese Weise spricht, macht er sehr deutlich, dass er nur die Gedanken des Menschen wiedergibt – nicht selbst spricht. Denn er weiß genau, dass dieses Argument falsch ist. Daher antwortet er erneut: „Das sei ferne!“ Ein solches Argument würde, wenn es wahr wäre, es Gott unmöglich machen, die Welt zu richten.
Wenn die Wahrheit Gottes durch meine Sünde umso deutlicher geworden ist, sagt ein solcher Mensch, dann ist meine Lüge zum Anlass geworden, die Herrlichkeit Gottes hervorzubringen. Und in diesem Fall fragt sich der Mensch, warum er als ein Sünder gerichtet wird, statt dafür gepriesen zu werden, dass er das Böse tut, damit das Gute kommen kann. Das war offensichtlich das, was Menschen in verleumderischer Weise das Ergebnis der christlichen Belehrung nannte: Wo Sünde überhand nimmt, ist die Gnade noch überreichlicher geworden.
Paulus gibt denen nur eine kurze Antwort, die in dieser Weise argumentieren. Er sagt einfach, dass ihr Gericht gerecht ist. So wird deutlich, dass die Tatsache der Sünde des Menschen, die zur Herrlichkeit Gottes führt, den Menschen nicht aus seiner Verantwortung entlässt, geschweige denn ihn vor dem Gericht Gottes rettet.