Betrachtung über Lukas (Synopsis)
Kapitel 19
Nach Seinem Einzuge in Jericho offenbart Jesus, trotz des pharisäischen Geistes, Gnade und erkennt den Zachäus als einen Sohn Abrahams an, der (obwohl als solcher in einer falschen Stellung) durch die Gnade ein zartes Gewissen und ein freigebiges Herz besaß 1. Seine Stellung benahm ihm in den Augen Jesu nicht den Charakter eines Sohnes Abrahams (wäre dies der Fall gewesen, wer hätte dann gesegnet werden können?) und versperrte nicht den Weg zu dem Heil, das gekommen war, um das Verlorene zu retten. Es trat mit Jesu in das Haus dieses Sohnes Abrahams ein. Er brachte das Heil, wer auch der Erbe desselben sein mochte.
Gleichwohl verhehlt Jesus keineswegs Seinen Weggang noch den Charakter, den das Reich infolge Seiner Abwesenheit annehmen sollte. Die Juden waren von Jerusalem und von der Erwartung des zukünftigen Reiches eingenommen; der Herr erklärt ihnen daher, was sich ereignen werde (V. 11). Er geht hinweg, um ein Reich zu empfangen und dann zurückzukehren. Inzwischen übergibt Er einige Seiner Güter (die Gaben des Geistes) Seinen Knechten, damit sie während Seiner Abwesenheit damit handeln. Der Unterschied zwischen dem hier erzählten Gleichnis und demjenigen in Mt. 25 ist dieser: Matthäus stellt die Unumschränktheit und die Weisheit des Gebers dar, der seine Gaben je nach der Fähigkeit seiner Knechte verschiedenartig austeilt, während Lukas mehr die Verantwortlichkeit der Knechte hervorhebt; alle empfangen dieselbe Summe, und der eine gewinnt im Interesse seines Herrn mehr damit als der andere. Demgemäß heißt es hier nicht wie in Matthäus: „Gehe ein in die Freude deines Herrn!“ - eine Sache, die für alle gleich und jedenfalls das köstlichere Teil ist, - sondern zu dem einen wird gesagt: „Sei gewalthabend über zehn Städte!“ und zu dem anderen: „Sei über fünf Städte!“ d. h. einem jeden wird ein Anteil an der Herrlichkeit des Reiches nach seiner Arbeit gegeben. Der Knecht verliert nicht das Gewonnene, obwohl seine Arbeit für seinen Herrn war: jeder genießt das, was er gewonnen hat, mit Ausnahme des Knechtes, der von seinem Pfunde keinen Gebrauch gemacht hatte; das, was diesem anvertraut worden war, wird dem gegeben, der die zehn Pfund gewonnen hatte. Das, was wir hienieden geistlicher Weise an geistlichem Verständnis und an der Erkenntnis Gottes in Macht erworben haben, geht in der anderen Welt nicht verloren; im Gegenteil, wir empfangen mehr, und die Herrlichkeit des Erbteils wird uns gegeben nach unserer Arbeit. Alles ist Gnade.
Indes finden wir in der Geschichte des Reiches noch ein anderes Element. Die Bürger (die Juden) verwerfend den König nicht nur, sondern sie schicken auch, nachdem er weggegangen ist, um das Reich zu empfangen, einen Gesandten hinter ihm her, um ihm zu sagen, dass sie seine Herrschaft nicht dulden wollen. Dementsprechend verwarfen die Juden, als Petrus (Apg 3) ihnen ihren Sünde vorstellte und ihnen erklärte, dass, falls sie Buße täten, Jesus wiederkommen würde und mit Ihm die Zeiten der Erquickung, nicht nur dieses Zeugnis, sondern sie schickten auch Stephanus sozusagen hinter Jesu her, um Ihm zu bezeugen, dass sie nichts mit Ihm zu tun haben wollten. Auf diese Weise ist das verkehrte Geschlecht schon vor Seinen Augen gerichtet, wenn Er in Herrlichkeit zurückkommt. Die offenbaren Feinde Christi werden den Lohn ihrer Empörung empfangen.
Nachdem Jesus auf diese Weise erklärt hat, was das Reich war und was es sein würde, erscheint Er, um dieses, der Prophezeiung des Propheten Sacharja (Sach 11) zufolge, in Seiner eigenen Person zum letzten Male den Bewohnern Jerusalems vorzustellen. Bei der Betrachtung von Matthäus und Markus hat uns dieses bemerkenswerte Ereignis im Allgemeinen schon beschäftigt; indes erfordern einige besondere Umstände noch eine nähere Beleuchtung. Die ganze Menge Seiner Jünger versammelt sich an dem Orte, von wo aus Jesus Seinen Einzug hält. Die Jünger und die Pharisäer stehen hier im Gegensatz zueinander. Für Jerusalem ist der Tag seiner Heimsuchung gekommen, aber es erkennt es nicht.
Einige bemerkenswerte Worte kommen bei dieser Gelegenheit aus dem Munde der durch den Geist Gottes bewegten, Jünger hervor. Hätten sie geschwiegen, so würden die Steine in die Verkündigung der Herrlichkeit des Verworfenen ausgebrochen sein. Das durch ihr Triumphgeschrei begrüßte Reich ist nicht einfach das Reich in seinem irdischen Verhältnis wie in Matthäus; dort lautete der Ruf: „Hosanna dem Sohne Davids!“ und: „Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn! Hosanna in der Höhe!“ Im Grunde ist es dieselbe Sache wie hier in Lukas; aber doch haben wir hier etwas mehr. Der Sohn Davids (ein Titel, der die Herrlichkeit des Herrn auf Seine Beziehungen zu Israel beschränkt, verschwindet. Wohl ist Er der König, der da kommt im Namen des Herrn; allein es ist hier nicht mehr der Überrest Israels, der, den Titel Jesu als des Sohnes Davids anerkennend, in diesem Namen das Heil sucht. Es ist „Friede im Himmel und Herrlichkeit in der Höhe“. Das Reich ist hier abhängig von der Herstellung des Friedens in den himmlischen Örtern. Der zur Rechten Gottes erhöhte und über Satan siegreiche Sohn das Menschen hat die Himmel versöhnt; die Herrlichkeit der Gnade in Seiner Person ist festgestellt zur ewigen und allerhöchsten Herrlichkeit des Gottes der Liebe. Das Reich auf der Erde ist nur eine Folge dieser Herrlichkeit, die durch die Gnade festgestellt ist. Die Macht, die Satan ausgetrieben hat, stellt den Frieden im Himmel her. Im 2. Kapitel unseres Evangeliums (Lk 2), wo die geoffenbarte Gnade durch die Engel gepriesen wird, hören wir. „Herrlichkeit Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, an den Menschen ein Wohlgefallen!“ Um das Reich aufzurichten, ist der Friede im Himmel gemacht, und die Herrlichkeit Gottes ist in der Höhe völlig hergestellt.
In die Nähe der Stadt kommend, weint der Herr über sie (V. 41) - ein Umstand, der uns in Matthäus nicht mitgeteilt wird; denn dort, im Zwiegespräch mit den Juden, weist Jesus auf die Stadt hin und sagt, dass sie von jetzt an - weil sie die Propheten verstoßen und getötet, und auch Emmanuel, den Herrn, der so oft ihre Kinder unter Seine Flügel hatte sammeln wollen, so schmählich verworfen hatte - bis zu Seiner Wiederkehr der Zerstörung preisgegeben werden solle.
Es war die Stunde der Heimsuchung der geliebten Stadt; aber sie hat dieselbe nicht erkannt. Ach, wenn sie doch jetzt noch auf den Ruf des Zeugnisses ihres Gottes gehört hätte! Aber sie wird in die Hände der Heiden, ihrer Feinde, gegeben, die keinen Stein auf dem anderen lassen werden. Das will sagen: weil sie die Heimsuchung Gottes in der Person Jesu nicht erkannt hat, so wird sie beiseite gesetzt - das Zeugnis dauert nicht weiter fort - und sie macht einer anderen Ordnung von Dingen Platz. Es handelt sich hier deshalb vornehmlich um die Zerstörung der Stadt durch Titus; auch ist es der moralische Charakter des Tempels, von dem der Herr hier redet (V. 46). Der Heilige Geist spricht hier nicht davon, dass Er der Tempel Gottes für alle Nationen werden solle, indem Er so einen Mittelpunkt für den Gottesdienst anderer, die nicht zu Israel gehören, herstellt. Es handelt sich einfach um die Tatsache, dass der Weinberg anderen gegeben werden wird (vgl. Lk 20, 16). Die Juden fielen damals auf den Stein des Anstoßes; wenn dieser einmal auf sie fallen wird, d. h. wenn Jesus im Gericht kommt, so wird er sie zu Staub zermalmen.
Fußnoten
- 1 Ich zweifle nicht, dass Zachäus dem Herrn einen Bericht darüber gibt, was er aus Gewohnheit getan hatte, bevor Jesus zu ihm kam. Nichtsdestoweniger kehrte das Heil an jenem Tage in sein Haus ein.