Betrachtung über den Propheten Hosea
Kapitel 6,4-7,16
Der Aufruf an Israel und Juda
Gott ergreift wieder das Wort und richtet es erneut an die Nationen Ephraim und Juda, bevor er seinen Aufruf auf alle Menschen ausweitet (Kap. 6,5–7).
Eine flüchtige Frömmigkeit und ein gebrochener Bund (Kap. 6,4–7)
„Was soll ich dir tun, Ephraim, was soll ich dir tun, Juda?“ Mit dieser von Liebe erfüllten Frage möchte der HERR das Herz und das Gewissen seines gesamten Volkes berühren; er fordert sie dazu auf, das Gericht über ihre Untreue selbst zu tragen. Gott hatte bereits so viel getan, um sie zu sich zu ziehen. Aber ihre Frömmigkeit (Ausdruck der Beziehungen der Seele mit Gott) bestand nur während der ersten Momente ihrer Existenz als Nation; sie verschwand wie der Tau, der sich früh unter den Strahlen der Sonne verflüchtigt. Lieben wir die Gegenwart des Herrn Jesus? Pflegen wir die Beziehung unserer Seele zu Gott?
„Früh sich aufmachend“ hatte Gott ihnen dennoch seine Diener und Propheten gesandt, um sie zu warnen und die Beziehungen des Volkes mit ihm aufrecht zu erhalten (2. Chr 36,15.16). Dies war vergeblich und das Volk verwarf und tötete die Boten des HERRN (Mt 23,34.35). Als gerechte Vergeltung würden daher die Propheten selbst und die von ihnen ausgesprochenen Worte des HERRN die Instrumente eines verdienten Gerichts sein.
Eines Tages wird die Gnade hervorkommen wie die Morgendämmerung (Kap. 6,3). Aber bevor die Sonne der Gerechtigkeit mit Heilung in ihren Flügeln aufgeht (Mal 3,20), muss das göttliche Gericht wie das Licht hervorgehen (Kap. 6,5).
Gott liebt Frömmigkeit (Kap. 6,6) und übt gerne Gnade. Der Herr erinnert zweimal an diesen Ausspruch des Propheten (Mt 9,13; 12,7). In beiden Fällen soll gezeigt werden, dass Gott im Menschen nur die aus einem guten inneren Zustand kommenden Früchte annehmen kann, nicht aber die äußerlichen, durch eine Religion vorgeschriebenen Handlungen. Der Herr zeigt auch, dass er nur durch die Auswirkungen seiner eigenen Gnade befriedigt werden kann.
Die durch Menschen dargebrachten Brand- und Schlachtopfer können nicht die Erkenntnis Gottes ersetzen. Der HERR erfreut sich vielmehr an der Frömmigkeit des Herzens und am Gehorsam als an äußeren Förmlichkeiten (1. Sam 15,22). Gott hat sich allein in Christus, dem Heiligen Gottes 1, geoffenbart, der auf die Erde kam, sich als Opfer darbrachte und so der göttlichen Heiligkeit und Liebe völlig entsprach (Ps 40,6.7; Heb 10,5–7).
Doch was hat Israel und zugleich jeder Mensch auf der Erde vor dieser Offenbarung der Gnade Gottes getan? Sie haben wie Adam 2 den Bund übertreten. Im Garten Eden hatte Adam gegen den Bund mit Gott verstoßen, durch den er die Segnungen Gottes in Unschuld genießen konnte. Indem er auf die Stimme Satans hörte, handelte er auf hinterlistige Weise (durch Verrat) gegenüber Gott. Israel tat dasselbe in Bezug auf den Bund des Gesetzes von Sinai. Der Apostel Paulus erweitert die Feststellung des doppelten Bruchs des Bundes (den Bund der Werke in Eden mit Adam und den Bund des Gesetzes von Sinai mit Israel) auf die Situation aller Menschen, denn alle haben gesündigt. Schließlich zeigt er die durch das Kommen Christi eingeleitete Änderung auf, welcher das Haupt eines neuen Geschlechts ist (Rö 5,12–21).
Botschaft des Gerichts für Ephraim und der Hoffnung für Juda (Kap. 6,8–11)
Die Angst des Propheten mischt sich mit seiner Entrüstung über die Ungerechtigkeit Ephraims, welches Gott verachtete.
Gilead (wahrscheinlich Ramot-Gilead) und Sichem (im Land Ephraim) waren zwei Zufluchtsstädte in Israel 3. Diese waren auch den Leviten zur Wohnung gegeben worden. Anstatt ihrer Rolle des Schutzes und der Ruhe zu entsprechen, waren sie zum Schauplatz schauderhafter Dinge wie Gewalt (Mord und Räuberei) und Verdorbenheit (Hurerei) geworden. Dieses Übel kam durch die Priester, welche die Boten der Güte Gottes hätten sein sollen. Wozu ist der Mensch selbst in einer bevorzugten Stellung nicht fähig? Wie Ephraim, so würde auch Juda in Gefangenschaft gehen.
An dieser Stelle kommt nun Hoffnung auf. Gott würde für sich einen Überrest in Juda ernten, indem er die Gefangenen zur Segnung wiederherstellt 4. Es handelt sich hier nicht um die Ankündigung des trennenden Gerichts, welches seine Ausführung bei der Vollendung des Zeitalters findet (Mt 13,39; Off 14,16), sondern um die Bestätigung einer bereits durch Mose gegebenen Verheißung (5. Mo 30,3). Die Liebe Gottes wird siegreich sein; Gott hat Gefallen an Güte 5 (Kap. 6,6)!
Verderbtheit über die Maßen (Kap. 7,1–7)
Wie ein tosender Schwall rauschen die Bilder der Bosheit Ephraims vor den Augen Hoseas vorbei. Der Richter steht bereits vor der Tür (Jak 5,9). Das Verlangen Gottes, sein Volk zu heilen, traf nur auf dessen Verhärtung und Falschheit. Seine Sünden umgaben es wie ein Gürtel.
Israel zieht sogar seine Könige und Fürsten mit in seine Ungerechtigkeit hinein und zusammen treiben sie Hurerei (moralisch und geistlich, indem sie Götzendienst ausüben). Es ist erschreckend zu sehen, mit welcher List die Obersten des Volkes das Böse ausüben und das Volk in die Irre leiten. Der Sauerteig (Bild der sittlichen Verderbtheit und falscher Lehren) muss ohne Überhitzung in dem Ofen ihres Herzens garen, um das Volk mit dieser vergifteten Nahrung ganz zu durchsetzen. Während der Nacht schläft der Bäcker (Bild des Gewissens). Es ist erstaunlich, wie sehr dieser Durchsäuerungsprozess der unermüdlichen und subtilen Aktivität falscher Lehrer in der Christenheit gleicht! Die religiöse Verderbtheit bringt nun die moralische Verderbtheit mit sich („Glut des Weines“ in Kap. 7,5). Die Könige Israels zur Zeit Hoseas sind der Gewalt verfallen, indem sie jeden moralischen Standard verloren haben. Auf sie als Hauptverantwortliche ist die Sünde des Volkes zurückgefallen. Die Obersten, die Richter und das Volk haben sich so untereinander selbst zerstört. Über diese düstere Periode wird in dem Buch der Könige berichtet (2. Kön 15,10.14.25.30).
Ephraim, ein nicht gewendeter Kuchen (Kap. 7,8–12)
Der Prophet setzt den Vergleich Ephraims mit dem ungesäuerten Kuchen fort. Israel hätte ein heiliger, dem HERRN geweihter Kuchen ohne Sauerteig sein sollen (Jer 2,3). Dagegen ist es durch die Vermischung mit den Nationen (Ägypten und Assyrien) zu einem gesäuerten Kuchen geworden, der, in dem Ofen ihrer Herzen überhitzt und nicht umgewendet, nun zu nichts mehr gut ist. Dieser Zustand Israels kommt dem von Moab sehr nahe, wenn dieses mit Wein verglichen wird, der auf seinen Hefen liegt (Jer 48,11). Erinnern wir uns daran, dass die Versammlung des Herrn ihren Charakter der Heiligung und den Wohlgeruch für ihren Heiland verliert, wenn sie sich mit der Welt und ihrem System vermischt!
Ephraim war sich seines Zustands nicht bewusst; es hatte seine Kraft durch den Umgang mit den Nationen verloren und die Gnade seiner Jugend vergessen: „und er weiß es nicht“. Die Parallele zu Simson ist ernst und sollte zum Herzen eines jeden reden! Das Bewusstsein des Verfalls in der Christenheit sollte uns vor jeder Form geistlichen Hochmuts bewahren, welcher mit dem Verlust des Unterscheidungsvermögens zwischen Gut und Böse einhergeht. Wie eine einfältige Taube fliegt Ephraim hierhin und dorthin, um Hilfe bei den Nationen zu suchen. Gott würde sein Netz ausbreiten, um es herabzuziehen und zu züchtigen, indem er ihm seine Freiheit entzieht. Tatsächlich wurde Israel nach Assyrien verschleppt und verlor seine nationale Identität (2. Kön 17,6).
Wehe und Zerstörung! (Kap. 7,13–16)
Es war das Verlangen Gottes, sein Volk zu erlösen. Aber was tat Israel als Antwort auf die vielen Erbarmungen Gottes?
- Es ist von ihm geflohen;
- es ist von ihm abgefallen;
- es hat Lügen über ihn geredet;
- es wich von ihm ab und wandte sich gegen ihn;
- es ersann Böses gegen ihn, und schließlich
- wandte es sich nicht nach oben.
Das Volk war sich seines Elends wohl bewusst und schrie vor Schmerz, jedoch ohne sich dabei an Gott zu wenden und ohne seine Sünde einzugestehen und Vergebung zu erflehen (Ps 32,5). Anstatt sich Gott zuzuwenden, suchte es seine Zuflucht in Ägypten, wo es verspottet wurde (Kap. 7,16).
Lasst uns nicht Hilfe in der Welt suchen, sondern den Herrn anrufen (Kap. 7,7)! Wenden wir uns doch ihm zu und suchen wir ihn (Kap. 7,10)! Er ist treu und will uns heilen (Kap. 7,1).
Fußnoten
- 1 Dieser Ausdruck spricht von der Güte Gottes, die in Christus vollkommen offenbart wurde (2. Chr 6,42)
- 2 Hier ist Adam der Eigenname des ersten Menschen. Er ist auch ein Name zur Bezeichnung des menschlichen Geschlechts.
- 3 Vgl. Jos 20,7-9 und die Auslegung dieser Verse durch den Verfasser. Die dt. Übersetzung ist ebenfalls auf dieser Internet-Seite veröffentlicht.
- 4 Diese Verheißung von Seiten Gottes richtet sich an „mein Volk“. Es handelt sich also nicht um die Wiederkehr aus der Verschleppung nach Babylon, was zu einer Zeit geschah, als das Volk noch unter dem Urteil „Lo-Ammi“ („Nicht mein Volk“) stand. Der Prophet spricht hier von einer Wiederherstellung, die auch für uns noch in der Zukunft liegt.
- 5 Anm. d. Übers.: Der in der ELB mit „Frömmigkeit“ wiedergegebene Begriff lautet im Französischen „bonté“ und lässt sich am besten mit „Güte“ übersetzen.