Betrachtung über den Propheten Hosea

Kapitel 5,1-6,3

Der moralische Zustand von Israel und Juda und die Hoffnung

Im vorigen Kapitel hatte der Prophet sich an das Volk als Ganzes gewandt, nämlich an die „Kinder Israel“ (Kap. 4,1). Nun gilt seine Botschaft eher den Führern Israels und Judas. Juda hatte der Ermahnung, die Untreue Israels nicht nachzuahmen (Kap. 4,15), nicht entsprochen und hatte nun mit Gericht zu rechnen (Kap. 5). Jedoch bestand noch Hoffnung auf eine zukünftige Wiederherstellung.

Eine Botschaft an die religiösen und zivilen Führer des Volkes (Kap. 5,1–7)

Hosea spricht nun die Priester, das Volk und das Königshaus Judas an. Das Gericht würde über sie alle kommen, da alle gesellschaftlichen Schichten vom Götzendienst angesteckt worden waren.

Wie Gilgal und Bethel, so hatte auch die Stadt Mizpa in Benjamin (Jos 18,26) eine entscheidende Rolle in der Epoche Samuels, des Propheten, Priesters, Fürsprechers und Richters gespielt (1. Sam 7,5–17). Einst der Ort des Zusammenkommens zur Demütigung vor Gott, so war Mizpa nun wegen des Götzendienstes der Priester eine Falle für das Volk geworden. Genauso war es auch mit Tabor, dem zentralen Berg des israelitischen Gebietes, der ursprünglich zusammen mit dem Hermon geschaffen worden war, um die Herrlichkeit Gottes zu erheben (Ps 89,13). Die religiösen Führer waren am schuldigsten und würden daher von Gott gezüchtigt werden (Kap. 5,2).

Aber der allgemeine Zustand Ephraims und Israels war nicht besser. Gott kannte Ephraim wohl (Kap. 5,3; Heb 4,13), dagegen hatte das Volk jede Kenntnis des HERRN verloren (Kap. 5,4). Der moralische Verfall und der Hochmut Ephraims verhinderten seine Umkehr zu Gott. So würde Ephraim und Juda das gleiche Gericht erreichen. Es würde also zu spät sein, Gott durch Opfer zu suchen (Kap. 5,6). Tatsächlich hatte sich der HERR von ihnen zurückgezogen! Ein schrecklicher Zustand, der an den Simsons erinnert; auch er wusste nicht, dass der HERR von ihm gewichen war (Ri 16,20). Diese Ähnlichkeit tritt noch deutlicher in der folgenden Prophezeiung (Kap. 7,9) hervor.

Israel vor seiner Verschleppung nach Assyrien ist ein Bild der bekennenden Christenheit 1 vor ihrem Gericht. Die religiösen Formen mögen bestehen bleiben, aber ohne Gott in der Mitte seines Volkes!

Das Gericht würde sofort über sie kommen, innerhalb eines Monats 2. Möglicherweise sagt Hosea hiermit die Schnelligkeit der Gerichte über Zedekia, den letzten König Judas, voraus (2. Kön 25,3–7).

Der Verfall des Volkes (Kap. 5,8–14)

Wie ein Warnruf erschallen laut Posaune und Trompete, um das Gericht Ephraims und Judas anzukündigen. Gibea und Rama waren zwei Städte Benjamins und erinnern an den traurigen Zustand des Volkes zur Zeit der Richter (Ri 19,13). Genau hier wird nun das sichere Gericht über das Volk bestimmt, welches sich weigert Buße zu tun.

In dem Bewusstsein dieser unmittelbar bevorstehenden Gefahr suchen Ephraim und Juda ihre Hilfe bei den Nationen, anstatt zu ihrem Gott umzukehren (Kap. 5,13). Genau das ist geschehen, als Israels König Menachem sich zu Pul, dem König der Assyrer wandte (2. Kön 15,19), und als Judas König Ahas sich an Tiglat-Pileser wandte, der ebenfalls König von Assyrien war (2. Kön 16,7) 3. Dieses nutzlose Hilfsgesuch bei den Nationen war nichts weiter als ein Schritt dem göttlichen Gericht entgegen. Tatsächlich würde Gott den Geist der Könige Assyriens zum Gericht gegen sein Volk erwecken (1. Chr 5,26). Der Zustand des Volkes in sich selbst war bereits traurig genug, ohne die feindlichen Nationen mit einbeziehen zu müssen.

Was für ein schlechtes Zeugnis geben wir vor der Welt ab, wenn wir ihr unsere inneren Konflikte und unsere Untreue gegenüber Gott vorleben!

Schließlich wandte der HERR sich gegen sein Volk, um es zu zerreißen, d.h. um es zu richten. Das Bild des Löwen (Kap. 5,14; 13,7), das Gott in der Ausübung seines Gerichts zeigt, ist auffällig, denn anderswo stellt der Löwe, der vor niemandem zurückschreckt, die Macht Satans dar (Ps 22,14.22; 1. Pet 5,8).

Lasst uns zu dem HERRN umkehren (Kap. 5,15 - 6,2)

Ist dieser Abschnitt nicht ein Wort der Hoffnung für das schuldige und niedergeschlagene Volk? Ist es nicht ein Heilmittel für die Wunden, welche die Hand des HERRN ihm zugefügt hat?

Der HERR, der selbst geredet hatte, um das Gericht anzukündigen (Kap. 5,14), verkündet nun, dass er an seinem Ort bleiben würde, bis sein Volk seine Schuld bekennen und zu ihm umkehren würde (Kap. 5,15). Die äußerste Not würde das Volk auf den Weg der Buße leiten. Es würde dem HERRN nicht mehr mit vergeblichen Opfern nahen (Kap. 5,6), sondern in Reue mit einem bußfertigen Herzen (Mich 6, 6–8).

„Sie werden mich eifrig suchen 4“ (Kap. 5,15). Nach der langen Nacht der Erprobung erhebt sich ein Morgen ohne Wolken für ein bußfertiges Volk (2. Sam 23,4). Dieses Werk der Gnade am Herzen des Überrestes wird durch den Heiligen Geist geschehen, auf Grund des Todes dessen, den sie durchstochen haben: Christus (Sach 12,10–14).

Diese Verheißung Gottes veranlasst den Propheten zu seinem bewegenden Aufruf an das Volk, durch welchen er es ermuntert, von nun an mit ihm zum HERRN zurückzukehren (Kap. 6,1–3). Die Quelle des Glaubens besteht stets darin, sich dem zuzuwenden, der uns zu unserem Guten schlägt, damit er uns heilen kann: „Denn er bereitet Schmerz und verbindet, er zerschlägt, und seine Hände heilen“ (Hiob 5,18).

Der dritte Tag ist in erster Linie eine verschleierte Anspielung auf die Auferstehung Christi, der „auferweckt worden ist am dritten Tag nach den Schriften“ (1. Kor 15,4). Das ist das Zeichen Jonas: Der Sohn des Menschen war drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde (Mt 12,39.40). Aber Jona ist auch ein Bild des jüdischen Überrestes, der „über Bord“ geworfen wird, während das Schiff der Nationen seinen Weg auf dem Meer fortsetzt, welches ein Bild der Unruhe der Völker ist. Am dritten Tag kommt er aus den Wassern der Todeserprobung hervor und wird lebend auf die Erde zurückgeworfen. Der Prophet deutet so die nationale Auferstehung Israels an, die erst durch die Auferstehung Christi möglich wurde. Die Vision der verdorrten Gebeine, die in ein großes Heer lebendiger Wesen verwandelt werden, die auf ihren Füßen stehen (Hes 37,1–10), bestätigt diese Verheißung.

Der Regen des Segens (Kap. 6,3)

Die Prophezeiung Hoseas geht noch weiter und hat die geistliche Auferweckung des Volkes durch das Ausgießen des Heiligen Geistes (dargestellt durch den Regen) zum Inhalt. Dies sind die Vorrechte des neuen Bundes, die das Volk von Anbruch des tausendjährigen Reiches an genießen wird. Die Schrift redet vom Früh- und Spätregen (Jak 5,7):

  1. Der Frühregen stellt das Ausgießen des Heiligen Geistes über die himmlische Versammlung in Jerusalem am Tag der Pfingsten dar, was eine teilweise Erfüllung der Prophezeiung Joels ist (Apg 2,1–4; Joel 3,1–4). Dieser Regen begleitet die Saat und schließt die Saatkörner in der Erde ein.
  2. Der Spätregen spielt auf den vom Himmel auf die Erde herabkommenden Segen an. Er redet vom erneuten Ausgießen des Heiligen Geistes 5 zu Gunsten des irdischen Volkes Gottes. Durch ihn wird die Frucht bis zum Zeitpunkt der Ernte zur Reife gebracht.

Aber alles ist zur Freude des göttlichen Sämanns, der seine Garben in seinem Schoß heimträgt (Ps 126,5.6; Ps 129,7).

Fußnoten

  • 1 Diese wird durch jene gebildet, die sich Christen nennen, aber kein Leben aus Gott haben.
  • 2 Anm. d. Übers.: Diese Auslegung resultiert aus der Formulierung von Kap. 5,7 in der frz. Darby-Version, deren Übersetzung lautet: „Nun wird ein Monat sie mit ihren Gütern verzehren.“ In der ELB steht hier statt „Monat“ „Neumond“, was einen bildlichen Ausdruck für den heuchlerischen Gottesdienst des Volkes (vgl. die Anm. zu dieser Stelle) und eher weniger eine Zeitangabe darstellt.
  • 3 Anm. d. Red.: Man geht mittlerweile davon aus, dass es sich bei Pul und Tiglat-Pileser um ein und dieselbe Person handelt.
  • 4 Anm. d. Übers.: Die wörtliche Übersetzung dieser Stelle aus dem Frz. lautet: „Sie werden mich vom Morgen an suchen.“ Das heißt, das Volk sucht den HERRN von Beginn des Morgens an und fährt fort, ihn zu suchen. Vor diesem Hintergrund ist auch der folgende Abschnitt des Kommentars zu verstehen.
  • 5 Hier handelt es sich nicht länger um das Wohnen der göttlichen Person des Heiligen Geistes in den Gläubigen oder in der Versammlung; dieses Wohnen steht nur mit der Gnadenzeit in Verbindung. Es handelt sich vielmehr um Segnungen, die mit der Unterstützung des Geistes der Erde zugetragen werden.
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