Betrachtung über den Propheten Hosea
Kapitel 4
In den ersten drei Kapiteln fand die Botschaft des Propheten durch die traurige Erfahrung seiner Ehe ihren Ausdruck. Nun folgen die eigentlichen prophetischen Worte.
Der moralische und religiöse Zustand Ephraims
Der vom Propheten offen gelegte moralische und religiöse Zustand Ephraims (eine Bezeichnung für die zehn Stämme) zeigt, dass die Situation hoffnungslos war. Gott würde die Untreue seines Volkes richten und so weit gehen, dass er dessen Herz verhärten würde (Jes 6,9.10). Dennoch bestand ein Hoffnungsschimmer für Juda, falls es nicht den Spuren Israels folgte.
Die Anklagepunkte (Kap 4,1–5)
Wie in einem Prozess werden wir hier durch den Aufruf: „Hört das Wort des HERRN“ aufgefordert, unsere Aufmerksamkeit der Anklage zu widmen. Dieser Aufruf leitet die lange und belastende Liste der Anklagepunkte gegen das untreue Volk Israel ein.
Indem es sich vom HERRN entfernte, hatte das Volk Wahrheit, Güte und die Erkenntnis Gottes verloren. Die Folgen dieser Preisgabe waren Verdorbenheit (Lüge und Ehebruch) und Gewalt (Mord, Diebstahl und Blutschuld). Dies liefert ein erstaunlich aktuelles Bild von der Welt, in der wir heute leben.
Die Geschichte der Nachkommen Jehus inmitten des Volkes Israel bestätigt die Aussage des Propheten; die meisten von ihnen kamen auf grausame Weise ums Leben. Sogar die ganze geschaffene Tierwelt (Tiere des Feldes, Vögel des Himmels, Fische des Meeres) war von den Folgen der Sünden Israels betroffen (Kap. 4,3). Wir stellen in unseren Tagen die gleiche Knechtschaft der Schöpfung unter die Folgen der Sünde des Menschen fest (Rö 8,22).
Das Schicksal der Nation ist von Gott festgesetzt. Es ist zu spät, um das Volk zurechtzuweisen oder um sich auf eine Diskussion mit ihm einlassen zu können (Kap. 4,4). Indem es den Priesterdienst verweigerte, beraubte sich Israel selbst jeder göttlichen Bewahrung. Zuvor sollte der treue Überrest noch mit seiner Mutter rechten, die ein Bild Israels ist (Kap. 2,4). Nun würde sie vertilgt werden (Kap. 4,5). So bliebe der Überrest verschont, die entweihte Nation dagegen würde gerichtet werden.
„Mein Volk wird vertilgt“ (Kap. 4,6–8)
Mit der bebenden Stimme des Propheten nennt der HERR sein Volk hier noch einmal „Mein Volk“ (Kap. 4,6.12), bevor er das Urteil „Lo-Ammi“ (Nicht-mein-Volk) auf es anwendet. Gott stellt mit Schmerz fest, wie es sich entfernt.
Das Volk hatte die wahre Erkenntnis, nämlich die Erkenntnis Gottes, verloren. Dies ist die Folge von fehlender Gottesfurcht (Spr 1,7). Gott hatte für sich ein „Königtum von Priestern und eine heilige Nation“ (2. Mo 19,6) erwählt, indem er sein Volk aus Ägypten befreite und ihm das Gesetz schenkte. Jedoch hatte Israel den Bund des Gesetzes aufgegeben; von da an wurde ihm das königliche Priestertum genommen. „Du hast das Gesetz deines Gottes vergessen: So werde auch ich deine Kinder vergessen“ (Kap. 4,6). Welch ernstes Wort! Jede Generation behält ihre eigene Verantwortlichkeit vor Gott. Aber lasst uns immer der Folgen bewusst sein, die unser Wandel für unsere Nachkommen hat, die von dem Beispiel zeugen, welches wir ihnen hinterlassen.
Wie das Volk, so der Priester (Kap. 4,9–14)
Nun richtet sich der Prophet in besonderer Weise an die Priester, den Kern einer in seiner Gesamtheit beiseite gesetzten Nation. Der Ausdruck „wie das Volk, so der Priester“ war in Israel sprichwörtlich. Die Verantwortlichkeit der Priester war höher, da sie die Nation vor Gott darstellten. Mit den Sünden des Volkes und seiner Verblendung in Verbindung stehend, reduzierten sie ihren religiösen Dienst auf materielle Vorzüge. In der Tat waren die vom Volk dargebrachten Sündopfer eine Quelle des Gewinns für die Priester. Genau hierin bestand zum Zeitpunkt des Verfalls des Priestertums bereits die Sünde der Söhne Elis, noch vor der Einsetzung des Königtums (1. Sam 2,12–17). Wie könnte Gott eine solche Beleidigung gegenüber seiner Herrlichkeit dulden? Gott würde ihre Verirrung vergelten, was durch den Ausspruch „Hurerei, Wein und Most nehmen den Verstand weg“ (Kap. 4,11) deutlich wird. Ein Beispiel der Auswirkung starken Getränks wird in dem Betragen der beiden Söhne Aarons, Nadab und Abihu 1, gegeben (3. Mo 10,1.8–11). Die geistliche Anwendung dieses Ausspruchs ist für uns von großer Bedeutung. Wenn unsere Liebe zu Christus erlischt, so suchen wir unvermeidbar das, was das Fleisch nährt und anregt (Hurerei, Wein und Most). So verlieren wir unsere geistliche und moralische Urteilskraft und sind nicht mehr imstande, Dinge vernünftig zu beurteilen. Wie oft erliegen wir dieser Gefahr!
Das Verlassen des wahren Gottes hatte Israel zu den widersinnigsten abergläubischen Praktiken geführt (Kap. 4,12.13). Die in höherer Verantwortung stehenden Männer waren im Bösen zu Fall gekommen, und Gott würde sie den eigenwilligen Neigungen ihres bösen Herzens hingeben (Kap. 4,14). Das gleiche Prinzip findet sich im Handeln Gottes mit den verderbten Nationen wieder, die der Unreinheit, ihren Leidenschaften und sogar einem verworfenen Sinn hingegeben sind (Rö 1,24.26.28). Durch ihr trauriges Beispiel hatten „sie“ (d.h. die Männer) die Frauen aus dem Volk zum Bösen fortgerissen (ihre Töchter und ihre Schwiegertöchter), sodass diese mit Recht einwenden konnten: „Und wenn wir der Königin des Himmels räucherten und ihr Trankopfer spendeten, haben wir ihr denn ohne unsere Männer Kuchen bereitet [...]?“ (Jer 44,19). Daher würde Gott diese Frauen trotz ihrer Sünde nicht heimsuchen.
Eine Hoffnung für Juda (ap. 4,15–19)
Gott fordert Juda nun dazu auf, nicht dem verhängnisvollen Beispiel Ephraims zu folgen: „Juda mache sich nicht schuldig!“ (Kap. 4,15). Hosea ist sicher Zeuge der moralischen Erweckung Judas unter der Regierung des gottesfürchtigen Königs Hiskias gewesen.
Juda wird ausdrücklich davor gewarnt, an den götzendienerischen Festgelagen von Gilgal und Beth-Awen teilzunehmen. Gilgal und Beth-Awen waren wohl bekannte Heiligtümer der zehn Stämme. Während diese Orte ihren ursprünglichen Charakter verloren hatten, berief sich das Volk immer noch auf die Gegenwart Gottes in ihrer Mitte, indem es sagte: „So wahr der HERR lebt!“
Gilgal, der erste Lagerplatz Israels im Land nach der Überquerung des Jordan, erinnert an die Beschneidung (für uns ein Symbol der Tötung des Fleisches); dies war der Ausgangspunkt aller siegreichen Feldzüge gegen die Feinde. Jetzt war Gilgal ein Ort geworden, wo sich das Fleisch zügellos in moralischer und religiöser Hinsicht offenbarte (Kap. 9,15; 12,12).
Ebenso hatte Bethel (das Haus Gottes), wo Gott dem Jakob erschienen war und ihm Verheißungen gegeben hatte (1. Mo 28,13–15), seinen Charakter insofern verloren, als dass der Prophet in ironischer Weise den Namen „Bethel“ durch „Beth-Awen“ („Haus der Eitelkeit“ oder „Haus der Ungerechtigkeit“) ersetzt (Kap. 4,15; 5,8; 10,5).
In einer Zeit, in der die allgemeine Untreue überwiegt, werden die Treuen dazu aufgefordert, sich von dem fern zu halten, was Gott verunehrt: Sie sollen von der Ungerechtigkeit abstehen, sich von den Gefäßen zur Unehre reinigen und die jugendlichen Lüste fliehen (2. Tim 2,19–22).
Indem er Juda mit einem ergreifenden Appell dazu auffordert, ihm treu zu sein, spricht Gott von nun an das Gericht über Ephraim (die zehn Stämme) aus; es handelt sich dabei um eine Verhärtung der Regierung: „Ephraim ist mit Götzen verbündet 2; lass ihn gewähren!“ (Kap. 4,17). Die „Flügel des Windes“ (Kap. 4,19) symbolisieren das göttliche Gericht über den schrecklichen moralischen Zustand des Volkes und über seine Fürsten. Ein weiteres Beispiel für Verhärtung ist das des Pharao, welches vom Apostel Paulus aufgegriffen wird, um das Prinzip göttlicher Gerechtigkeit zu illustrieren (Rö 9,17.18). Die von Gott über Ägypten gesandten Plagen hatten den Pharao zunächst dazu gebracht, selbst sein Herz zu verhärten (2. Mo 8,28; 9,7). Als aber jede Hoffnung auf Buße verloren ist, verhärtet Gott das Herz des Pharao und schlägt ihn mit seinem gerechten Gericht (2. Mo 9,12; 10,20).
Wenn wir darin verharren, die Zurufe Gottes und die Stimme unseres Gewissens in unserem persönlichen und gemeinschaftlichen Leben unbeachtet zu lassen, kann Gott uns auf unseren eigenen Wegen aufgeben, zumindest für eine Zeit. Welch schlimmer Zustand! Möge der Herr uns ein empfindliches Herz gegenüber seinen Warnungen erhalten, damit uns ein solches Gericht erspart bleibt!
Fußnoten
- 1 In der Begebenheit aus 3. Mose 10 berechtigt der Vergleich der Verse 8-11 mit dem Beginn des Kapitels wohl zu der Annahme, dass Nadab und Abihu unter dem Einfluss starken Getränks standen, als sie fremdes Feuer darbrachten.
- 2 Das Wort „verbündet“ ist das gleiche, das benutzt wird, um durch Zauberei hervorgerufene Bindungen zu beschreiben. Israel war so durch das Joch des Götzendienstes gebunden, als wäre es durch den Götzendienst verzaubert und unfähig, sich davon zu lösen.