Betrachtung über Lukas (Synopsis)
Kapitel 10
In diesem Kapitel finden wir die Aussendung der Siebenzig - eine Sendung, die in ihrem Charakter für die Entwicklung der Wege Gottes von Bedeutung ist. Dieser Charakter ist tatsächlich in mehrfacher Hinsicht von demjenigen des 9. Kapitels verschieden, weil die Sendung der Siebenzig auf die in jenem Kapitel geoffenbarte Herrlichkeit Jesu gegründet ist. Dieser Umstand entscheidet notwendig in bestimmterer Weise die Frage der Beziehungen des Heilandes zu den Juden; denn Seine Herrlichkeit kam nach Seiner Verwerfung durch das Volk und war, was Seine menschliche Stellung betrifft, die Folge derselben.
Diese Verwerfung war indes noch nicht vollendet; die Herrlichkeit Jesu war nur dreien Seiner Jünger geoffenbart worden, so dass der Herr Seinen Dienst unter dem Volke nach wie vor ausübt. Doch erblicken wir folgende Veränderungen darin: Jesus dringt auf das, was moralisch und ewig ist, auf die Stellung, die für die Seinigen aus Seiner Verwerfung hervorgehen würde, auf die wahre Wirkung Seines Zeugnisses in der Welt und auf das Gericht, das im Begriff stand, über die Juden hereinzubrechen. Nichtsdestoweniger war die Ernte groß, denn die Liebe, die nicht durch die Sünde erkaltet war, erkannte die Bedürfnisse durch den äußeren Widerstand hindurch. Aber nur wenige wurden durch diese Liebe bewegt. Der Herr der Ernte allein konnte wahre Arbeiter aussenden; und Er kündigt diesen jetzt schon an, dass sie wie Schafe inmitten der Wölfe sein würden. Welch ein Unterschied zwischen diesem und der Darstellung des Reiches dem Volke Gottes gegenüber! Die Siebenzig sollten (wie die Zwölfe) auf die Fürsorge des Messias vertrauen, der auf Erden gegenwärtig war und das Herz mit göttlicher Macht beeinflusste. Sie sollten als Arbeiter des Herrn ausgehen, öffentlich ihre Absicht zu erkennen geben, nicht besorgt sein für ihre Nahrung, sondern stets ihrer Ansprüche an den Herrn bewusst bleiben. Ihrem Werke ganz gewidmet, sollten sie niemanden grüßen; denn die Zeit drängte, und das Gericht stand bevor. In Israel gab es solche, die nicht Kinder des Friedens waren. Der Überrest sollte durch die Wirkung, die die Mission der Jünger auf die Herzen ausübte, unterschieden werden, nicht aber auf gerichtlichem Wege, wie es später der Fall sein wird. Der Friede sollte auf den Kindern des Friedens ruhen. Diese Boten übten die Macht aus, die Jesus über den Feind erlangt hatte, und die Er daher auch anderen mitteilen konnte (und dies war weit mehr als ein Wunder); und sie sollten denen, die sie besuchten, ankündigen, dass das Reich Gottes nahe zu ihnen gekommen sei. Wahrlich, ein wichtiges Zeugnis! Solange das Gericht nicht vollzogen war, bedurfte es des Glaubens, um das Reich Gottes in einem Zeugnis zu erkennen. Wurden die Boten in einer Stadt nicht aufgenommen, so sollten sie dieselbe anklagen und den Einwohnern bezeugen, dass, aufgenommen oder nicht, das Reich Gottes nahe gekommen sei. Wie ernst war jetzt dieses Zeugnis, da die Verwerfung Jesu so nahe bevorstand - eine Verwerfung, die das Maß der Ungerechtigkeit des Menschen voll machte! Es wird an dem Tage, an dem jenes Gericht ausgeübt werden wird, dem schändlichen Sodom „erträglicher ergehen als jener Stadt“ (V. 12). Dies charakterisiert deutlich das Zeugnis der Siebenzig 1. Der Herr bedroht (V. 13-16) die Städte, in denen Er gewirkt hatte, und versichert Seinen Jüngern, dass sie in ihrer Sendung verwerfen soviel heiße, als Ihn Selbst und Den verwerfen, der Ihn gesandt hatte, nämlich den Gott Israels, den Vater.
Bei ihrer Rückkehr verkündigen die Siebenzig dem Herrn, welche Macht ihre Mission begleitet habe (V. 17 u. f.); selbst die Teufel waren ihren Worte unterworfen. Jesus erwidert ihnen, dass diese Zeichen der Macht in der Tat Seinem Geiste die völlige Aufrichtung des Reiches, die gänzliche Vertreibung Satans aus dem Himmel, vergegenwärtigt hätten; die durch die Jünger bewirkten Wunder waren nur ein Beispiel von jener Aufrichtung. Aber es gab noch etwas Vortrefflicheres als dieses: ihre Namen waren im Himmel angeschrieben; und darüber sollten sie sich freuen. Die Macht, die sich offenbarte, war wahr, und die Resultate derselben in der Einführung des Reiches gewiss; aber etwas anderes trat jetzt in die Erscheinung. die Offenbarung eines himmlischen Volkes begann zu dämmern - eines Volkes, das teilhaben sollte mit Dem, den der Unglaube der Juden und der Welt in den Himmel zurücksandte.
Dieses enthüllt deutlich die nunmehrige Stellung eines jeden. Das in Macht abgelegte Zeugnis vom Reiche lässt Israel ohne Entschuldigung; und Jesus nimmt eine andere Stellung, die himmlische, ein. Das war der wahre Gegenstand der Freude, obwohl die Jünger noch in Unwissenheit darüber waren; allein die Person und die Macht Dessen, der sie in die himmlische Herrlichkeit des Reiches einführen sollte sowie Sein Recht auf dieses herrliche Reich Gottes waren ihnen durch den Vater geoffenbart worden.
In gerichtlicher Weise den Stolz des Menschen mit Blindheit schlagen und an den Unmündigen des Vaters Gnade erweisen - das gebührte Dem, der durch die Erniedrigung Jesu die Ratschlüsse Seiner unumschränkten Gnade erfüllt, und stand in Übereinstimmung mit dem Herzen Dessen, der gekommen war, um jene Ratschlüsse zu erfüllen. Übrigens war Jesu alles übergeben. Der Sohn war zu herrlich, um erkannt zu werden, ausgenommen durch den Vater; und dieser Selbst wurde wiederum nur erkannt durch die Offenbarung seitens des Sohnes. Zu Ihm mussten die Menschen kommen. Die Wurzel der Schwierigkeit, die sie verhinderte zu kommen, lag in der Herrlichkeit der Person Dessen, der allein vom Vater gekannt war, sowie in der Übergabe aller Dinge an Jesum und der Herrlichkeit des Vaters, zu deren Offenbarung es des Sohnes Selbst bedurfte. Alles dieses war in Jesu auf Erden gegenwärtig. Indes konnte Jesus zu Seinen Jüngern besonders sagen, dass sie, da sie in Ihm den Messias und Seine Herrlichkeit gesehen, das gesehen hätten, was Könige und Propheten vergeblich zu schauen begehrt hätten. Der Vater war ihnen verkündigt worden, allein sie hatten nur wenig davon verstanden. In den Gedanken Gottes war die Erkenntnis des Vaters ihr Teil, und es wurde später durch die Gegenwart des Heiligen Geistes, des Geistes der Sohnschaft, verwirklicht.
Beachten wir hier die den Jüngern übertragene Macht des Reiches sowie ihren derzeitigen Genuss des Anschauens jener Dinge, von denen die Propheten geredet hatten - ein Genuss, der durch die Gegenwart des Messias hervorgebracht wurde, der die Macht des Reiches mit Sich brachte, die diejenige des Feindes zerstörte. Zugleich begegnen wir der Verwerfung ihres Zeugnisses und dem Gericht Israels, in dessen Mitte dasselbe abgelegt worden war sowie endlich der Aufforderung des Herrn (obgleich Er in ihrem Werke die ganze Macht, die das Reich aufrichten wird, anerkennt), sich nicht in dem also auf der Erde eingeführten Reiche zu erfreuen, sondern in der unumschränkten Gnade Gottes, die ihnen in Seinen ewigen Ratschlüssen einen Platz und einen Namen in dem Himmel gewährt hatte, und zwar, in Verbindung mit ihrer Verwerfung auf der Erde. Die Wichtigkeit des vorliegenden Kapitels, unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, ist augenscheinlich. Die Ausdehnung der Herrschaft Jesu in Verbindung mit diesem Übergange vom Irdischen zum Himmlischen und die Offenbarung der Ratschlüsse Gottes, die diesen Wechsel begleitete sowie die Enthüllung der Herrlichkeit des Vaters und des Sohnes und ihren Beziehungen zueinander, finden wir in Vers 22. Zugleich wird uns auch die den Demütigen zuteil gewordene Gnade nach dem Charakter und den Rechten Gottes, des Vaters, Selbst gezeigt. Nachher finden wir die Entwicklung der Veränderung hinsichtlich ihres moralischen Charakters.
Ein Gesetzgelehrter wünscht die Bedingungen zu wissen, unter denen er des ewigen Lebens teilhaftig werden könne. Sein Begehr steht weder mit dem Reiche noch mit dem Himmel in Verbindung sondern bildet einen Teil der jüdischen Vorstellungen über die Beziehungen des Menschen zu Gott. Der Besitz des Lebens war den Juden vorgeschlagen worden durch das Gesetz. Dieses Leben wurde durch spätere, auf das Gesetz folgende Enthüllungen der Schrift als das ewige Leben geoffenbart, welches sie dann, wenigstens die Pharisäer, mit der Beobachtung jenes Gesetzes verbanden - ein Leben, das das Teil der Verherrlichten im Himmel und der Gesegneten auf Erden während des Tausendjährigen Reiches sein wird, das wir gegenwärtig in irdenen Gefäßen besitzen, und das das Gesetz nach den aus den Prophetischen Büchern gezogenen Folgerungen, als das Resultat des Gehorsams vorlegte 2. „Welcher Mensch diese Dinge tut, wird durch sie leben!“ (3. Mose 18, 5). Der Gesetzgelehrte fragt daher, was er tun müsse. Die Antwort war deutlich: Das Gesetz (mit allen seinen Verordnungen und Zeremonien, mit allen den Bedingungen der Regierung Gottes, die das Volk nicht gehalten und deren Verletzung zu dem durch die Propheten angekündigten Gericht führte - einem Gericht, das die Aufrichtung des Reiches in Gnade von Seiten Gottes zur Folge haben sollte), das Gesetz, sage ich, enthielt den Kern der Wahrheit in dieser Beziehung und zeigte klar die Bedingungen des Lebens, wenn der Mensch nach menschlicher Gerechtigkeit sich des Genusses desselben erfreuen sollte, d. h. nach der Gerechtigkeit, die durch ihn gewirkt war und durch die er leben sollte. Diese Bedingungen sind in wenigen Worten zusammengefasst: „Liebe Gott vollkommen und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Da der Gesetzgelehrte selbst diese Summe des Gebotes angibt, so bestätigt der Herr dieselbe mit Wiederholung der Worte des Gesetzgebers: „Tue dieses, und du wirst leben!“ Allein der Mensch hat es nicht getan, und er ist sich dessen bewusst. Was Gott betrifft, so ist Er weit von dem Menschen entfernt, und dieser entledigt sich Seiner auf eine leichte Weise: er will Ihm in einigen äußerlichen Übungen dienen und sich dessen rühmen. Aber der Mensch ist nahe; seine Selbstsucht macht ihn empfindlich für die Erfüllung der zweiten Vorschrift, deren Beobachtung sein Glück wäre und diese Welt zu einer Art Paradies machen würde. Der Ungehorsam bezüglich dieser Vorschrift wiederholt sich aber alle Augenblicke in den alltäglichen Umständen, die die Selbstsucht des Menschen in Tätigkeit setzen. Alles, was den Menschen umgibt (seine gesellschaftlichen Verbindungen), weckt das Bewusstsein in ihm, dass er diese Vorschrift verletzt, selbst wenn die Seele von sich selbst aus sich nicht darum kümmern würde. Hier verrät sich das Herz des Gesetzgelehrten, indem er fragt: „Wer ist mein Nächster?“
Die Antwort des Herrn (V. 30 u. f.) zeigt die moralische Veränderung, die durch die Einführung der Gnade, durch die Offenbarung derselben in dem Menschen, in der Person des Herrn selbst, stattgefunden hat. Unsere Verbindlichkeiten gegen einander werden jetzt durch die göttliche Natur, die in uns ist, gemessen, und diese Natur ist Liebe. Unter dem Gesetz. maß sich der Mensch nach der Wichtigkeit, die er sich selbst zuschreiben konnte - was gerade das Gegenteil von Liebe ist. Das Fleisch rühmte sich hinsichtlich Gottes einer Nähe, die, da sie nicht aus dem Besitz der göttlichen Natur hervorging, keine wirkliche war. Der Priester und der Levit, wiewohl sie den verwundeten, halbtoten Menschen sehen, gehen an der anderen Seite vorüber. Der Samariter, verachtet als solcher, fragt nicht, wer sein Nächster sei. Die Liebe in seinem Herzen machte ihn zum Nächsten eines jeden Hilfsbedürftigen. Das ist es, was Gott Selbst in Christo getan hat; aber die gesetzlichen und fleischlichen Unterschiede verschwanden vor diesem Grundsatze. Die Liebe, die nach ihren eigenen Antrieben wirkte, fand die Gelegenheit zu ihrer Ausübung in den Bedürfnissen, die ihr entgegentreten. Hiermit schließt dieser Teil der Reden Jesu.
Mit Vers 38 beginnt ein neuer Gegenstand; und von hier bis zum 13. Verse des 11. Kapitels stellt der Herr Seinen Jüngern die beiden großen Segensmittel: das Wort und das Gebet vor Augen. In Verbindung mit dem Worte finden wir in Maria die Energie, die sich an den Herrn klammert, um das Wort von Ihm zu empfangen, und die, weil die Seele durch die Mitteilungen Gottes in Gnade ergriffen ist, alles andere beiseite lässt, um Sein Wort zu hören. Man wird bemerken, dass diese Umstände mit der Veränderung in Verbindung stehen, die in jenem feierlichen Augenblick hervorgebracht war. Die Annahme des Wortes Gottes tritt an die Stelle der Aufmerksamkeiten, die dem Messias gebührten und die Seine Gegenwart auf der Erde verlangte. In dem Zustande, in dem der Mensch sich befand (denn er verwarf den Heiland), bedurfte er des Wortes; und Jesus in Seiner vollkommenen Liebe begehrte nichts anderes, als dass man Ihn hörte. Für den Menschen, für die Herrlichkeit Gottes war nur eine Sache notwendig, und diese ist es, die Jesus, begehrt. Was Ihn Selbst betrifft, so will Er alles dafür entbehren.
Fußnoten
- 1 Hier sowohl (V. 21) wie in Lk 13,34 finden wir Beispiele von jener moralischen Ordnung in Lukas, die wir weiter oben besprochen haben. Die Zeugnisse des Herrn sind vollkommen an ihrem Platze; sie sind außerordentlich nützlich zum Verständnis des ganzen Zusammenhangs der Stelle, und ihre Stellung hier wirft viel Licht auf ihren Sinn. Um eine geschichtliche Ordnung handelt es sich hier durchaus nicht. Die Stellung, die Israel, die Jünger, ja, alle infolge der Verwerfung Christi einnahmen, bildet den Gegenstand, mit dem der Heilige Geist beschäftigt ist. Diese Stellen beziehen sich darauf und zeigen sehr klar den Zustand des Volkes, das Jesus besucht hatte, den wahren Charakter desselben sowie die Ratschlüsse Gottes, indem Er durch den Fall Israels die himmlischen Dinge einführt, und endlich die Verbindung zwischen der Verwerfung Christi und der Einführung der himmlischen Dinge, des ewigen Lebens und des Heils der Seelen. Nichtsdestoweniger blieb das Gesetz unverletzt; nur nahm die Gnade seinen Platz ein, die außerhalb des Gesetzes das bewirkte, was dieses nicht bewirken konnte. Wir werden dies in dem weiteren Verlauf unserer Betrachtung des 10. Kapitels sehen.
- 2 Es ist bemerkenswert, dass der Herr niemals das Wort „ewiges Leben“ gebraucht, wenn Er von den Folgen des Gehorsams spricht. „Die Gabe Gottes ist ewiges Leben“. Wenn die Menschen unter dem Gesetz gehorsam gewesen wären, so hätte jenes Leben ohne Ende sein können; aber in Tat und Wahrheit konnte jetzt, da die Sünde eingetreten war, der Gehorsam nicht der Weg sein, um das ewige Leben zu erlangen, und der Herr spricht nicht in dieser Weise davon.