Einführender Vortrag zum Galaterbrief
Kapitel 3
Folglich setzt Paulus im 3. Kapitel seine Beweisführung fort. „O unverständige Galater!“, bricht er in einen leidenschaftlichen Appell an sie aus, „wer hat euch bezaubert, denen Jesus Christus, als unter euch gekreuzigt, vor Augen gemalt wurde?“ (V. 1) 1. Beachten wir den Platz, welchen das Kreuz und nicht einfach Christi Blut hier einnimmt – nämlich sein Tod am Kreuz! Wie wir in den Briefen an die Korinther sahen, richtete das Kreuz dort die Weltlichkeit der Erlösten, hier verurteilt es die Gesetzlichkeit. „Dies allein will ich von euch lernen: Habt ihr den Geist aus Gesetzeswerken empfangen, oder aus der Kunde des Glaubens?“ (V. 2). Zwei Dinge besitzt ein Christ: Er hat Leben, ein neues Leben in Christus, aber er besitzt auch den Heiligen Geist. Das Gesetz tötet, anstatt Leben zu geben, und stellt unter die Verdammnis, anstatt jenen Geist mitzuteilen, welcher notwendigerweise die Quelle der Sohnschaft und der Freiheit ist. Nachdem Paulus den wahren Charakter des christlichen Lebens, welches einfach und ausschließlich einem Christus, und zwar einem gekreuzigten Christus, entströmt, vorgestellt hat, betrachtet er jetzt den Heiligen Geist. Er wurde sowohl in Kraft als auch in Person nicht durch das Gesetz, sondern durch das Hören des Glaubens mitgeteilt.
„Seid ihr so unverständig? Nachdem ihr im Geiste angefangen habt, wollt ihr jetzt im Fleische vollenden? Habt ihr so vieles vergeblich gelitten? wenn anders auch vergeblich. Der euch nun den Geist darreicht und Wunderwerke unter euch wirkt, ist es aus Gesetzeswerken oder aus der Kunde des Glaubens?“ (V. 3–5). Es konnte nur eine Antwort geben. Dieses große Vorrecht stand nicht im Geringsten mit dem Gesetz in Verbindung. Der Heilige Geist wurde als das Siegel des Glaubens an Christus auf die vollbrachte Erlösung gelegt und keinesfalls vorher oder auf anderer Grundlage.
Dann beschäftigt Paulus sich mit Abraham, denn dieser ist stets das Hauptargument jener, welche die Beschneidung oder das Gesetz einführen wollen, da Abraham ja ausdrücklich als Freund Gottes und Vater der Gläubigen bezeichnet wird. Und beachten wir, wie der Heilige Geist Abraham zu einem zusätzlichen und völlig unerwarteten Beweis von der Gnade Gottes und der Wahrheit des Evangeliums gestaltet! Wir müssen allerdings sorgfältig im Gedächtnis behalten, dass wir im Galaterbrief nirgendwo den wahren Boden der Kirche erreichen. Gewiss handelt es sich um christlichen Boden, aber nicht den der Kirche (Versammlung) als solcher. Natürlich gehören die Personen, welche hier vor unseren Blicken stehen, zur Kirche Gottes. Sie werden indessen nicht in ihren himmlischen Beziehungen betrachtet, sondern als Kinder der Verheißung, wie wir am Ende dieses Kapitels sehen werden. Es gibt viele gegenwärtige Vorrechte und zukünftige Herrlichkeiten, die uns Christen gehören. Die Verheißung ist eine davon. Wir dürfen indessen keineswegs annehmen, dass ein höherer und himmlischerer Charakter das Wesen eines niedrigeren Platzes auslöscht. Von dieser Wahrheit macht der Apostel hier Gebrauch.
Er beweist indessen viel mehr, wenn er sagt, dass Abraham Gott glaubte. Das war offensichtlich keine Frage des Gesetzes. Abraham hörte niemals vom Gesetz. „Gleichwie Abraham Gott glaubte, und es ihm zur Gerechtigkeit gerechnet wurde. Erkennet denn: die aus Glauben sind [nicht die das Gesetz in den Himmel heben], diese sind Abrahams Söhne. Die Schrift aber, voraussehend, daß Gott die Nationen aus Glauben rechtfertigen würde“ [nicht dadurch, dass sie Proselyten werden oder auf einer gesetzlichen Grundlage eintreten] - „voraussehend, daß Gott die Nationen aus Glauben rechtfertigen würde, verkündigte dem Abraham die gute Botschaft zuvor: In dir werden gesegnet werden alle Nationen“ (V. 6–8). Später – und in einer noch volleren Weise heutzutage – wurde das Evangelium zu einer gesegneten Antwort auf diese frühe Gnade. Der Heilige Geist sagt nicht, dass es sich um eine Ergänzung handelt; aber das Evangelium fließt entschieden aus derselben göttlichen Quelle der Gnade. Das Evangelium und nicht das Gesetz ist der Verheißung verwandt. „Also werden die“, sagt Paulus, „welche aus Glauben sind, mit dem gläubigen Abraham gesegnet“ (V. 9). Das Gesetz bietet den Segen an, kann ihn jedoch niemals mitteilen. Die Glaubenden werden mit ihrem Vater gesegnet und nicht die, welche das Gesetz für sich beanspruchen, ohne es zu halten.
Aber er dringt noch tiefer in das Thema ein. Er sagt ihnen, dass diejenigen, welche die Grundlage von Gesetzeswerken einnehmen, schon unter dem Fluch stehen. Nicht, dass sie tatsächlich gescheitert sind und versagt haben; doch der Mensch ist so unfähig, auf dem Grundsatz der Gesetzeserfüllung vor Gott zu stehen, dass für ihn schon alles in dem Augenblick vorbei ist, in dem er es zu halten verspricht. „So viele aus Gesetzeswerken sind, sind unter dem Fluche; denn es steht geschrieben: Verflucht ist jeder, der nicht bleibt in allem, was im Buche des Gesetzes geschrieben ist, um es zu tun!“ (V. 10). Infolgedessen wird niemand in den Augen Gottes durch das Gesetz gerechtfertigt; und das beweist Paulus nicht nur aus der Verheißung, sondern auch durch die Propheten. Wenn der Prophet von einem lebenden Menschen spricht, dann lebt er durch Glauben – „der Gerechte wird aus Glauben leben“ (V. 11). Wir sehen demnach, wie alles genau mit dem Evangelium übereinstimmt, auf das Paulus fest besteht. „Christus hat uns losgekauft von dem Fluche des Gesetzes, indem er ein Fluch für uns geworden ist (denn es steht geschrieben: „Verflucht ist jeder, der am Holze hängt!“); auf daß der Segen Abrahams in Christo Jesu zu den Nationen käme“ (V. 13–14). Er sagt nicht, dass die Nichtjuden sich unter jenem Fluch befinden, sondern dass Christus „uns“, die wir „uns“ in dieser Lage befanden, von seinem Fluch freigekauft hat. Denn wahrhaftig, wessen „wir“ „uns“ rühmen mochten – alles, was „wir“ (die Juden) von dem Gesetz empfangen konnten, war Fluch und nicht Segen. Christus kaufte „uns“ heraus aus dieser schrecklichen Lage, in welche das Gesetz „uns“ versetzen musste, weil „wir“ es übertreten hatten. So konnte der Segen Abrahams frei zu den Nichtjuden hinausfließen, die sich niemals an jenem Platz befanden.
Das führt zu einem anderen Punkt: Das Verhältnis des Gesetzes zu den Verheißungen. In welcher Beziehung stehen sie zueinander, und wie beeinflussen sie sich gegenseitig? Der Apostel verwandelt diese Fragen zu einem bewundernswerten Muster göttlicher Beweisführung zur Verteidigung des Evangeliums. „Brüder! ich rede nach Menschenweise; selbst eines Menschen Bund, der bestätigt ist, hebt niemand auf oder verordnet etwas hinzu“ (V. 15). Jeder weiß das. Wenn ein Bund einmal unterzeichnet, versiegelt und bekannt gemacht ist, darf er nicht mehr geändert werden. Man kann genauso wenig rechtmäßig etwas hinzufügen, wie seine Klauseln unbeachtet lassen. „Dem Abraham aber waren die Verheißungen zugesagt und seinem Samen. Er sagt nicht: „und den Samen“ [Mehrzahl (Übs.)], als von vielen, sondern als von einem: „und deinem Samen“ [Einzahl (Übs.)], welcher Christus ist. Dieses aber sage ich: Einen vorher von Gott bestätigten Bund macht das vierhundertunddreißig Jahre danach entstandene Gesetz nicht ungültig, um die Verheißung aufzuheben“ (V. 16–17). Das ist die Anwendung. „Denn wenn die Erbschaft aus Gesetz ist, so nicht mehr aus Verheißung“ (V. 18). Auf der anderen Seite: Durch die Bedingungen des Gesetzes würde man die Verheißung aufheben. Das bedeutet: Der Bund zwischen Gott und Abraham bezog sich auf den Samen, der kommen sollte und durch Isaak symbolisiert wurde, aber in Wirklichkeit auf Christus vorauswies. Nichts von dem, was Gott später einführte, machte diesen Bund rückgängig. Falls das Gesetz, welches später eingeführt wurde, irgendeine Einschränkung hätte ausüben dürfen, wäre der Wirkung nach die Verheißung beiseitegesetzt worden. Zunächst einmal hätte es etwas hinzugefügt, und nicht nur das, es hätte auch den Bund aufgehoben.
Das Erbteil beruht folglich auf der Gnade Gottes, der seine Verheißung ausführt, und nicht auf dem Menschen, der das Gesetz erfüllt – soweit das überhaupt möglich wäre. Die Verheißung ist demnach völlig unabhängig von dem Gesetz, das erst vierhundertunddreißig Jahre später bekannt wurde. Diese lange Zeitspanne sollte die Menschen eigentlich davor bewahrt haben, das Gesetz mit der Verheißung zu vermengen und anzunehmen, dass das Gesetz anscheinend die Verheißung aufgehoben habe; denn das ist eine außerordentliche Verunehrung Gottes. Wir können uns vorstellen, dass ein törichter Mann einen Bund macht, der ihn am nächsten Tag reut. Das gilt aber niemals für die göttlichen Vorsätze. In diesem Fall war es Gott, der die Verheißung gegeben hatte. Er hatte Christus den Bund bestätigt, ohne ein Wort vom Gesetz zu sagen, bevor vierhundertunddreißig Jahre vergangen waren. Wie unmöglich also, das Gesetz den Verheißungen hinzuzufügen! Noch weniger ist es möglich, die Kraft der Verheißung durch das Gesetz aufzuheben. „Dem Abraham aber waren die Verheißungen zugesagt und seinem Samen.“
Das ist außerordentlich wichtig, und zwar umso mehr, da ich glaube, dass die Reichweite dieser Anspielung auf Abraham und seinen Samen oft nicht gewürdigt wird. Die Beweisführung beruht auf der Einheit des Samens der Verheißung in diesem Zusammenhang, denn Gott spricht anderswo und sogar bei diesem Anlass auch von einem zahlreichen Samen. Eine der Ermunterungen, die Gott dem Abraham gab, war, wie wir wissen, der Hinweis, dass er einen Samen wie der Sand des Meeres und die Sterne des Himmels besitzen würde. Das war seine direkte Nachkommenschaft. Wenn Gott indessen die Nichtjuden erwähnt, spricht Er von „Samen“, ohne sich auf eine Zahl zu beziehen.
Das sehen wir am besten, wenn wir uns zu 1. Mose 22 wenden, wo wir beide Gesichtspunkte in demselben Textabschnitt finden. Ich möchte mich einen Augenblick damit beschäftigen, weil es viel zur Schönheit der Beweisführung im Galaterbrief beiträgt. In Vers 17 steht geschrieben: Ich will „dich reichlich segnen und deinen Samen sehr mehren, wie die Sterne des Himmels und wie der Sand, der am Ufer des Meeres ist.“ Auf den ersten Blick erscheint es recht seltsam, dass der Apostel gerade auf diese Bibelstelle verweist als Beweis von der Bedeutung des einen Samens. Falls irgendein Sinn an der Oberfläche dieses Textes zu sehen ist, dann ist es die Vielzahl des Samens – ein Same, von dem ausdrücklich gesagt wird, dass er unzählbar sein wird. Das ist es also nicht, was der Apostel im Blick hat. Es stellt geradezu einen Gegensatz dar. Und beachten wir den Unterschied! Wenn Gott von dem Samen, zahllos wie Sand oder Sterne, spricht, gibt Er ihm einen jüdischen Charakter der Segnung. „Dein Same [d. h. der zahllose Same] wird besitzen das Tor seiner Feinde.“ Gott verheißt endgültige Macht und Herrlichkeit für Israel auf der Erde, indem Er selbst ihre Feinde niederwirft, usw.
Doch unmittelbar danach wird hinzugefügt: „In deinem Samen werden sich segnen alle Nationen der Erde.“ Hier finden wir die Nichtjuden ausdrücklich genannt; und darauf bezieht sich der Apostel. Beachten wir dies gut! Wenn Gott eine Zusage gibt, die nicht auf die Tore der Feinde hinweist, wenn Er von der Segnung der Nationen spricht, anstatt von dem Umsturz der Feinde Israels, redet Er einfach von „deinem Samen.“ Wir finden keinen Vergleich mit einem zahllosen Samen, keine Anspielung auf den Sand des Meeres oder die Sterne des Himmels. Auf dieser Grundlage beruht die Beweisführung des Apostels.
Die Juden liebten zweifellos Macht (und die Galater waren letzten Endes in Gefahr, in dieselbe Schlinge zu geraten; denn das Gesetz gefällt der Welt, die Gnade nicht) – gegenwärtige Macht und Ehre in der Welt. Das ist den Juden für die Zukunft zugesagt, da die Verheißungen an Abraham keinesfalls aufgehoben sind. Der Heilige Geist hingegen lenkt die Aufmerksamkeit durch den Apostel auf den Gegensatz zwischen „deinem Samen“ (in der Einzahl) und dem zahlreichen Samen, dem irdische Segnungen zustehen. Der Ausdruck „deinem Samen“ steht ohne Hinweis auf Sterne oder Sand ausschließlich mit der Segnung der Nichtjuden in Verbindung. Zu dieser Segnung sind wir jetzt unter dem Christentum hingelangt. Bald werden auch die verheißenen irdischen Segnungen erfüllt und Israel Macht und Herrlichkeit wie der Sand und die Sterne zugeteilt. Die Juden werden ganz gewiss erhöht und als Nation bekehrt. Dann werden sie ihre Feinde niederwerfen und zum Haupt werden, während die anderen Nationen den Schwanz bilden. (5. Mo 28,13).
Aber in der Zwischenzeit unter dem Evangelium gibt es eine ausdrückliche Verheißung hinsichtlich der Segnung der Nichtjuden, indem Gott von dem einen Samen spricht, welcher Christus ist. „Der Same“, der wahre Isaak, ist schon gegeben worden; und in diesem wahren Samen werden die Nichtjuden gesegnet. Jetzt geht es nicht um Unterordnung unter jene Juden, welche niemals das Tor ihrer Feinde besitzen werden, sondern machtlos und zerstreut und als wenige auf der Erde leben, während das Evangelium sich ausbreitet. Dieser Teil der Verheißung bleibt noch übrig und muss an seinem besonderen Tag erfüllt werden, wenn Israels Herz sich dem Herrn zuwendet. Inzwischen wird ein anderer Segen von einer besseren Art mitgeteilt, so wie auch ein besserer Same gegeben worden ist: Der wahre Erbe aller Verheißungen Gottes, nämlich Christus, der Herr. Und zweifellos hatte Gott alle diese Gesichtspunkte vor Augen, als Er sich Abraham durch einen Eid verpflichtete. Er vergaß sein Volk Israel nicht. Doch die Herrlichkeit Christi stand ständig vor Ihm. Und in dem Augenblick, wenn wir uns zu diesem gesegneten Samen aller Segnung erheben, ist uns die Segnung der Nichtjuden in jener einen Person gesichert, bevor die Juden in ihrem Land unter dem neuen Bund sich vermehren und die Tore ihrer Feinde besitzen. Er ist der wahre Isaak, der wirklich gestorben und auferstanden ist, wie der Sohn Abrahams damals im Bild.
Darauf weist der Apostel hier hin. Das ist die Grundlage seiner Beweisführung. Im Weitergehen begegnet er indessen einem begründeten Einwand. „Falls die Verheißung der einzige Weg ist, um das Erbteil zu genießen, welchen Wert hat dann das Gesetz? Macht die erstere nicht das letztere bedeutungslos? Du sagst, dass die Verheißung alles ist und dass das Gesetz die Verheißung weder beiseitesetzen, noch irgendeine Klausel hinzufügen kann. Welchen Sinn hat dann das Gesetz?“ „Seine Aufgabe ist, die Übertretung in das Blickfeld zu rücken“, antwortet der Apostel. Ausschließlich dazu führte der ganze Eifer und das Wirken des Volkes. Beide entsprangen dem Unglauben – aus unangemessenen Gedanken über das Ich, aus Unwissenheit über Gott, aus oberflächlichen Gedanken über Christus. Gesetzliche Tätigkeit ist nur nutzlose Arbeit im Feuer; und wenn, ach!, ein Christ sich zu solcher harten Arbeit verdammt, anstatt im Glauben Christi zu ruhen, wen soll er dafür tadeln? Wohl kaum Gott oder sein klares und kostbares Wort! Er wird dabei Übertretung ernten – nicht mehr und keinesfalls etwas Besseres. „Warum nun das Gesetz? Es wurde der Übertretungen wegen hinzugefügt (bis der Same käme, dem die Verheißung gemacht war), angeordnet durch Engel in der Hand eines Mittlers“ (V. 19). Daraus ersehen wir, dass das Gesetz eine Einschaltung ist. Die Verheißung gab es schon vor dem Gesetz und strömte aus der Gnade Gottes hervor. Das Gesetz kam zwischendurch und diente nur dem einen Zweck, nämlich zu offenbaren, was im Herzen des Menschen ist; denn er ist ein Sünder. Und das Gesetz verwandelte die Sünde in deutlich erkennbare Übertretungen. Es brachte völlig an das Licht, dass das Herz nichts als böse ist, und bewies es durch eindeutige Übertretungen. Das ist alles. Danach kam der Same; und die Verheißung wurde in Ihm Ja und Amen – alle Verheißungen Gottes.
Für Israel kam Er unter dem Gesetz. Aber Er starb und erstand wieder auf und wurde auf diese Weise frei, einen Nichtjuden genauso wie einen Juden zu segnen; denn was hatte ein Auferstandener mehr mit Israel zu tun als mit den anderen Nationen? Alle Fragen natürlicher Bindungen zergehen im Tod. Das Kreuz ist die Widerlegung eines jeden Anrechtes an Christus, sowohl unter den Juden als auch den Nationen. Jude und Nichtjude trugen beide in gleicher Weise Schuld an Seiner Kreuzigung. Alles wurde somit zu einer Angelegenheit der reinen Gnade Gottes; und Ihm gefällt es, die Nichtjuden in dem Samen, nämlich dem gestorbenen und auferstandenen Christus, zu segnen.
Das Gesetz ist von völlig anderer Natur und wurde deshalb durch Engel in der Hand eines Mittlers angeordnet. Hier tritt ein Geschöpf dazwischen; und wir erfahren sofort, was das bedeutet; denn der Apostel kommt nun zu einem anderen und unwiderlegbaren Argument. „Ein Mittler aber ist nicht Mittler von einem; Gott aber ist einer“ (V. 20). Das bedeutet: Wir können niemals eine dauerhaft sichere Segnung erlangen, wenn sie Gott nicht nach seiner eigenen Gnade aus sich selbst herausfließen lässt. Lass Gott Raum – Ihm allein! Das ist der einzig mögliche Weg, auf dem die Segnung kommen kann, damit Seelen wie die unsrigen gesegnet und in diesem Segen erhalten werden können. So ist es mit der Verheißung. Bei ihr gibt es nur einen Vertragspartner, nämlich Gott selbst, der sich verpflichtet; und folglich erfüllt Er auch diesen Bund in jenem Samen, dem der Bund bestätigt worden ist.
Sobald jedoch das Gesetz eingeführt wurde, gab es zwei Parteien; und seltsamerweise ist der bedeutsamere Partner hier nicht Gott, sondern der Mensch, der Gott verantwortlich ist. Gott fordert; und der Mensch ist verpflichtet zu geben, d. h., er hat gehorsam zu sein. Ach, wir kennen zu gut das Ergebnis durch den Menschen, der ja sündig ist! Allein die Gnade kann in einem solchen Fall Gott verherrlichen. So wird im Gesetz offensichtlich der Mensch zur bedeutsamen und verantwortlichen Partei – und nicht Gott. Dieses kann aber niemals den Menschen zu Gott bringen und genauso wenig Ihn verherrlichen. Daher war das Gesetz niemals die Wahrheit – weder von Gottes Seite, noch des Menschen. Natürlich war es in sich selbst gerecht und gut. Der Mensch hatte seine Verpflichtung Gott gegenüber; und diese Pflicht hätte er erfüllen sollen. Aber genau das konnte er nicht, weil er ein Sünder war. Diese Wahrheit offenbar zu machen durch Übertretungen war der Zweck des Gesetzes. Es sollte die Sündhaftigkeit des Menschen aufzeigen und nicht das Erbe zuteilen. Das geschah aber nur zeitweilig und als eine Einschiebung. Auf jeden Fall hatte Gott es auf dem Herzen, seine Verheißung in Gnade zu erfüllen. Als Er dem Abraham die Verheißung gab, sagte Er: „Ich will geben!“ Und jetzt hat Er in Christus dieselbe erfüllt. Damit meine ich, dass es jetzt schon geschehen ist. Bevor Er indessen den verheißenen Samen sandte, benötigte das Selbstvertrauen des Menschen Zucht durch dazwischenliegende Umstände, nämlich die des Gesetzes. Nach unendlicher Langmut vonseiten Gottes musste das Volk, welches sich verpflichtet hatte, demselben zu gehorchen, wegen ihres Unglaubens aus dem Land hinausgetrieben werden.
Das Gesetz war ihnen mit aller Pracht und aller Feierlichkeit anvertraut worden. Es wurde durch Engel angeordnet, welche nichts mit der Verheißung zu tun hatten, die Gott seinem Freund unmittelbar gab. Wenn Er etwas zu wirken oder zu sagen hatte, das niemals misslingen sollte, liebte es Gott, persönlich in Gnade zu erscheinen. Er sprach selbst; und Er handelte auch selbst. Doch wenn Menschen seinem Volk eine Sache aufladen wollen, die bis oben hin mit Jammer gefüllt ist, und wenn aus ihrer Torheit nichts als Durcheinander folgen muss im Gegensatz zu allem, was sein Herz liebt, überlässt Gott diese Übermittlung anderen. So wurde das Gesetz durch Engel in der Hand eines Mittlers angeordnet. Zwischen Gott und den Menschen traten zwei Zwischenträger im Unterschied zur Einfachheit seiner Wege der Gnade. Wenn es sich um die Gnade handelt, spricht und vollendet Gott selbst in Gnade alles in der Person seines Sohnes. Auf diese Weise wird Er von Anfang bis zum Ende verherrlicht. Der Mensch hat nur zu empfangen; und wir wissen wahrhaftig: „Geben ist seliger als Nehmen“ (Apg 20,35). Gott behält sich im Evangelium diese große Glückseligkeit vor. Hingegen gab es unter dem Gesetz nichts dieser Art. Dazu muss ich anmerken, dass Gott eigentlich nur Forderungen stellen konnte; und der Mensch hatte die Stellung – falls er es konnte – des Gebenden einzunehmen. Er sollte gehorsam sein. Er sollte das tun, was ihm zustand. Aber in Wirklichkeit war alles nur Versagen. Es konnte nicht anders sein, weil der Mensch ein Sünder war.
Das war es also, was das Gesetz in die Welt einführte. Steht es gegen die Verheißung Gottes? Keineswegs! Andererseits, falls der Mensch fähig gewesen wäre, das Gesetz zu halten und sich dadurch ein Anrecht zu sichern, würden zwei Systeme zueinander in Konkurrenz hinsichtlich desselben Ergebnisses geraten sein. Einige Menschen hätten das Erbteil aufgrund der Verheißung und andere auf der Grundlage des Gesetzes empfangen können. So würden die beiden völlig gegensätzlichen Wege der Gnade und des Gesetzes zu demselben Endergebnis führen. Das hätte tatsächlich in einem Durcheinander geendet. Aber so wie es wirklich ist, gibt es keines. Unter dem Gesetz ist alles verloren, unter der Gnade alles bewahrt. Sowohl das Gesetz als auch die Verheißung sind von Gott. Aber das Ergebnis des Gesetzes ist ausschließlich negativ; es kann nur verdammen. Es kann und darf den Sünder nicht schonen. Die Verheißung nimmt einen ganz anderen und viel gesegneteren Platz ein. Sie bringt Befreiung für den Menschen, indem Gottes Absichten in Christus erfüllt sind. Das finden wir unter der Verheißung. Auf diese Weise verurteilt das Gesetz alles Böse; die Verheißung schenkt das, was gut ist, und baut es auf. Das Gesetz offenbart den Menschen in seiner Nichtigkeit. Es beweist, dass er lediglich ein armer, verlorener Sünder ist. Die Gnade stellt die treue Verheißung Gottes heraus und seine Güte gegen den, der auf nichts einen Anspruch hat. Demnach sind, wenn wir sie richtig verstehen und anwenden, Gesetz und Verheißung zwar völlig verschieden, aber in keiner Weise unvereinbar. Vermenge sie, wie es der Unglaube tut, und alles ist Verwirrung und Ruin!
Ferner wird dargelegt, dass dann, wenn es ein Gesetz gäbe, welches Leben mitteilen kann, Gerechtigkeit durch dieses Gesetz käme. Das konnte jedoch nicht sein. Im Gegenteil – „die Schrift aber hat alles unter die Sünde eingeschlossen“ (V. 22) und nicht unter die Gerechtigkeit, und zwar durch das Gesetz. Seien es nun die Nichtjuden ohne Gesetz oder die Juden mit demselben – alle sind unter die Sünde eingesperrt. „Die Schrift aber hat alles unter die Sünde eingeschlossen, auf daß die Verheißung aus Glauben an Jesum Christum denen gegeben würde, die da glauben.“
Paulus fügt indessen hinzu: Der Glaube ist gekommen, d. h. jenes Zeugnis, dem der Mensch jetzt zu glauben hat, das Evangelium. Das meint er hier mit „Glaube“. „Bevor aber der Glaube kam, wurden wir [Juden] unter dem Gesetz verwahrt, eingeschlossen auf den Glauben hin, der geoffenbart werden sollte. Also ist das Gesetz unser Zuchtmeister gewesen auf Christum hin, auf daß wir aus Glauben gerechtfertigt würden. Da aber der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter einem Zuchtmeister; denn ihr alle seid Söhne Gottes“ (V. 23–26). Anstatt unter der Aufsicht von Sklaven2 zu sein unter strenger und demütigender Zucht, nehmen wir nun die Stellung eines Kindes vor seinem Vater ein. Der Christ steht durch den Glauben an Jesus in unmittelbarer Beziehung zu Gott. „Ihr alle seid Söhne Gottes durch den Glauben an Christum Jesum.“
Das wird noch vollständiger durch eine Anspielung auf die Taufe gezeigt. „So viele euer auf Christum getauft worden sind, ihr habt Christum angezogen“ (V. 27). Es wird natürlich vorausgesetzt, dass jeder Christ getauft worden ist. Wegen dieses Hauptkennzeichens bestanden in diesen frühen Tagen weder Zweifel noch Schwierigkeit. Es gab keinen Gläubigen, Jude oder Nichtjude, der sich nicht glücklich diesem sehr gesegneten Zeichen seiner Teilnahme an Christus und dessen, was durch Ihn vollbracht worden ist, unterzogen hätte. „So viele euer auf Christum getauft worden sind, ihr habt Christum angezogen.“ Das ist nicht im Geringsten eine Frage des Gesetzes. Die christliche Taufe setzt im Gegenteil den Menschen als tot voraus; und der einzige Tod, der den Menschen aus seinem eigenen Tod herausretten kann, ist der Tod Christi. Daher wird ein Mensch, wenn er getauft wird, selbstverständlich nicht auf seinen eigenen Tod getauft. Ein solcher Gedanke wäre sinnlos. Er wird auf Christi Tod getauft, welcher das einzige Mittel der Befreiung aus seinem Zustand der Sünde ist. So zieht der Christ hier Christus an und nicht das Gesetz oder die Beschneidung. Er möchte von dem ersten Adam und allem, was zu ihm gehört, frei werden und nicht daran festhalten. Deshalb zieht er Christus an. „Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Weib“ (V. 28). Christus ist alles – ausschließlich Christus. Es ist keine alte Schöpfung, sondern eine neue. Könnte irgendetwas besser beweisen, dass es keine alte Schöpfung ist, als die Tatsache, dass es dort weder Jude noch Grieche, weder Sklave noch Freier, weder Mann noch Frau gibt? Gerade letzteres Verhältnis ist auf jeden Fall unbedingt notwendig für das Bestehen der Menschheit. Alles dieses verschwindet in Christus. In Ihm sind wir alle eins. Und wenn du Christus gehörst, was soll dann noch beschnitten werden? Du musst nicht ein Kind Abrahams in einem Sinn werden, der nur das Fleisch wiederbelebt. Wenn die Galater Christus angehörten, waren sie schon Abrahams Same „und nach Verheißung Erben“ (V. 29); denn Christus war, wie Paulus früher gezeigt hatte, der eine wahre Same. Wenn wir nun Christi sind, gehören wir diesem einen wahren Samen an und sind folglich ganz und gar ohne Beschneidung Kinder Abrahams. Nichts könnte schlüssiger sein als diese Widerlegung der fleischlichen Anmaßung, die mit Jerusalem in Verbindung stand und unter dem Deckmantel Abrahams eingeführt wurde. Sie war nichts anderes als eine Untergrabung des Evangeliums.
Fußnoten