Betrachtung über Lukas (Synopsis)
Kapitel 7
Nach diesem finden wir denn auch den Heiligen Geist in dem Herzen eines Heiden wirksam; und dieses Herz offenbart mehr Glauben als irgendeines unter den Kindern Israel. Von Herzen demütig und das Volk Gottes, als solches liebend um Gottes Willen, dem es angehörte, und daher in seiner Liebe erhaben über den wirklichen traurigen Zustand dieses Volkes, erblickt der Hauptmann in Jesu jemanden, der Autorität hatte über alles, gerade so wie er selbst Gewalt hatte über seine Kriegsleute und Knechte. Er wusste nichts von dem Messias, aber er erkannte in Jesu 1 die Macht Gottes. Es war dies nicht eine bloße Meinung: es war Glaube; und einen solchen Glauben gab es in ganz Israel nicht.
Dann wirkt der Herr (V. 11–17) mit einer Macht, die die Quelle dessen sein sollte, was für den Menschen neu ist: Er weckt einen Toten auf. Das hieß, aus der Umzäunung der Verordnungen des Gesetzes gänzlich heraustreten. Der Herr hat Mitgefühl mit den Trübsalen und dem Elend des Menschen. Der Tod war eine Bürde für ihn, und Er befreit ihn davon. Es handelt sich hier nicht bloß um die Reinigung eines aussätzigen Israeliten, oder um die Vergebung und Heilung derjenigen, die unter Seinem Volke glaubten; Er gibt vielmehr einem Menschen das Leben wieder, der es verloren hatte. Israel wird freilich Nutzen daraus ziehen; aber die zur Erfüllung dieses Werkes notwendige Macht ist es, die alles neu macht, wo irgend sie wirkt.
Die Veränderung, von der wir reden und die durch diese beiden Beispiele in ein so helles Licht gestellt wird, tritt in der Beurteilung und Behandlung des Verhältnisses hervor, das zwischen dem Heiland und Johannes, dem Täufer bestand. Johannes wünscht aus des Herrn eigenem Munde zu wissen, wer Er sei. Er hat von den Wundern Jesu gehört und sendet nun seine Jünger, damit sie untersuchen möchten, wer Der wäre, der diese Wunder verrichtete. Johannes lag damals im Gefängnis, und ein Seine Macht ausübender Messias würde ihn naturgemäß aus seinen Banden befreit haben. War dieser Jesus also der Messias? oder sollte er eines anderen warten? Er hatte Glauben genug, um es auf die Antwort Dessen ankommen zu lassen, der jene Wunder verrichtete; allein, eingeschlossen im Gefängnis, verlangte sein Geist nach etwas Bestimmterem. Dieser von Seiten Gottes herbeigeführte Umstand gibt Anlass zu einer Erklärung über die bezügliche Stellung von Johannes und Jesu. Der Herr nimmt hier kein Zeugnis von Johannes an; vielmehr sollte Johannes Christum annehmen auf das Zeugnis hin, das Er von Sich Selbst gab, und zwar indem Er eine Stellung eingenommen hatte, die denen ein Ärgernis war, die nach ihren jüdischen und fleischlichen Begriffen urteilten, eine Stellung, die Glauben an ein göttliches Zeugnis erforderte, und in der der Herr Sich folglich mit solchen umgeben hatte, die durch eine moralische Veränderung befähigt waren, dieses Zeugnis zu würdigen.
Als Erwiderung auf die Botschaft des Johannes wirkt der Herr Wunder, die die in Gnade gegenwärtige Macht Gottes ans Licht stellten, und vollbringt Seinen Dienst zu Gunsten der Armen; und Er preist den glücklich, der sich nicht an der niedrigen Stellung ärgern würde, die Er zur Erfüllung dieses Dienstes eingenommen hatte. Wenn Er indes kein Zeugnis von Johannes annimmt, so gibt Er Seinerseits Zeugnis von ihm. Johannes hatte mit Recht die Aufmerksamkeit des Volkes auf sich gezogen; Er war mehr als ein Prophet: er hatte den Weg des Herrn selbst bereitet. Aber obwohl er das getan hatte, war die unermessliche und vollständige Veränderung, die stattfinden sollte, nicht in Erfüllung gegangen. Sein Dienst stellte ihn, gerade Infolge der Natur desselben, außerhalb der Wirkung dieser Veränderung; er ging derselben voran, um Den anzukündigen, der sie bewerkstelligen, dessen Gegenwart die Macht der neuen Ordnung der Dinge auf Erden einführen sollte. Der Kleinste im Reiche Gottes war daher größer als Johannes (V.28).
Das Volk, das mit Demut das durch Johannes den Täufer gesandte Wort aufgenommen hatte, gab in seinem Herzen den Wegen und der Weisheit Gottes Zeugnis. Jene aber, die auf sich selbst vertrauten, verwarfen die Ratschlüsse Gottes, die sich in Christo erfüllten. Darauf (V. 31 u. f.) bezeichnet der Herr deutlich den Zustand dieser letzteren. Sie verwarfen zu gleicher Zeit die Warnungen und die Gnade Gottes; die Kinder der Weisheit aber (diejenigen, in welchen die Weisheit Gottes wirkte) erkannten dieselbe an und verherrlichten sie in ihren Wegen (V. 32–35). Das ist die Geschichte der Aufnahme des Johannes sowohl als auch des Herrn. Die Weisheit des Menschen klagte die Worte Gottes an. Die gerechte Strenge der Zeugnisse Gottes gegen das Böse, gegen den Zustand Seines Volkes, war in den Augen des Menschen nur auf den Einfluss eines Teufels zurückzuführen; die Vollkommenheit Seiner Gnade, die sich zu armen Sündern herabließ und sich ihnen da darstellte, wo sie sich befanden, hieß sich in der Sünde wälzen und sich zu erkennen geben durch seinen Umgang. Die stolze Selbstgerechtigkeit konnte weder das eine noch das andere ertragen. Die Weisheit Gottes wurde jedoch von denen anerkannt, die durch sie unterwiesen waren, und von ihnen allein.
Diese Wege Gottes gegen die elendsten Sünder sowie ihre Wirkung (im Gegensatz zu dem pharisäischen Geiste) werden hierauf im Hause des Pharisäers klar dargestellt, und zwar in der Geschichte der Frau, die eine Sünderin war (V. 36–50). Dieses Ereignis offenbart eine Vergebung, die nicht in Beziehung steht zu der Regierung Gottes auf Erden zu Gunsten Seines Volkes (einer Regierung, an die die Heilung eines unter der Zucht Gottes stehenden Israeliten geknüpft war), sondern eine absolute Vergebung, die, den Frieden der Seele in sich tragend, der elendsten Sünderin zuteil wurde. Es handelte sich hier nicht bloß um einen Propheten, – was die Selbstgerechtigkeit des Pharisäers nicht einmal unterscheiden konnte, – sondern um eine Seele, die Gott liebt, ja, die viel liebt, weil Gott Liebe ist; um eine Seele, die dieses im Blick auf ihre eigenen Sünden und vermittels derselben gelernt hat, indem sie Jesum sieht, obwohl sie sich der Vergebung noch nicht bewusst ist. Das ist Gnade. Es gibt nichts Rührenderes als die Art und Weise, in der der Herr das Vorhandensein jener Eigenschaften zeigt, die diese Frau jetzt wirklich vortrefflich machten – Eigenschaften, die mit der Unterscheidung Seiner Person durch den Glauben in Verbindung standen. In dem Weibe fand sich ein göttliches Verständnis über die Person Christi, das sich nicht aus bloßem Wissen heraus entwickelt hatte, sondern in seinen Wirkungen in ihrem Herzen empfunden wurde. In ihr war ein tiefes Gefühl über ihre eigene Sünde, Demut, sowie Liebe für das, was gut war, und Hingebung für Den, der gut war. Alles zeigte ein Herz, in dem Gefühle herrschten, die dem Verhältnis mit Gott angemessen waren – Gefühle, die aus Seiner im Herzen geoffenbarten Gegenwart hervorströmten, weil Er Sich Selbst diesem zu erkennen gegeben hatte. Hier ist indes nicht der Ort, um länger bei diesem Gegenstande zu verweilen; jedoch ist es wichtig und von großem moralischem Werte, zu bemerken, dass wenn vorgestellt werden soll, was eine freie Vergebung wirklich ist – die Ausübung der Gnade von Seiten Gottes (vorausgesetzt, dass sie im Herzen Aufnahme findet) Gefühle erzeugt, die derselben entsprechen und die durch nichts anderes hervorgerufen werden können; und dass ferner diese Gefühle in Verbindung stehen mit der Gnade selbst und mit dem durch sie hervorgebrachten Gefühl über die Sünde. Sie verleiht ein tiefes Bewusstsein von der Sünde, aber immer in Verbindung mit einem Gefühl von der Güte Gottes, und zwar wachsen diese beiden Gefühle in ihrem gegenseitigen Maßverhältnis. Das Neue, die unumschränkte Gnade, vermag allein diese Eigenschaften hervorzubringen, die der Natur Gottes Selbst entsprechen – einer Natur, deren wahren Charakter das Herz begriffen hat und mit der es in Gemeinschaft ist, indem es die Sünde richtet, wie diese es in der Gegenwart eines solchen Gottes verdient.
Man wird bemerken, dass dieses sich an die Erkenntnis Christi Selbst knüpft, der die Offenbarung dieses Charakters ist – Er ist durch Gnade die wahre Quelle der Gefühle dieses gebrochenen Herzens –, und ferner, dass die Erkenntnis ihrer Vergebung erst nachher kommt 2. Es war Gnade, es war Jesus Selbst, Seine Person, die das Weib anzog und die sittliche Wirkung auf ihr Herz hervorbrachte. Sie ging hin in Frieden, sobald sie den Umfang der Gnade in der Vergebung erkannte, die Jesus ihr verkündigte. Und diese Vergebung hatte für ihr Inneres ihre Kraft darin, dass Jesus alles für sie war. Wenn Er ihr vergab, so war sie befriedigt. Ohne sich selbst darüber Rechenschaft geben zu können, war Gott ihrem Herzen geoffenbart. Es handelte sich nicht darum, dass sie sich selbst anerkannte, noch um das Urteil, das andere über die in ihr bewirkte Veränderung fällen mochten; nein, die Gnade, die in Jesu personifizierte Gnade, hatte so sehr von ihrem Herzen Besitz genommen, und Gott war ihr so völlig geoffenbart, dass Seine Anerkennung in Gnade, Seine Vergebung alles andere überwog. War Er befriedigt, so war sie es auch; sie besaß alles, da sie der Person Jesu einen solchen Wert beilegte. Die Gnade findet ihre Freude am Segnen; und die Seele, die Christo Wert genug beilegt, ist zufrieden mit der Segnung, die die Gnade gewährt.
Wie eindrucksvoll ist die Festigkeit, mit der sich die Gnade als solche behauptet und sich nicht fürchtet, dem Urteil des sie verachtenden Menschen die Stirn zu bieten! Sie ergreift ohne Zögern die Partei des armen Sünders, den sie berührt hat. Das Urteil des Menschen beweist nur, dass er Gott in der vollkommensten Offenbarung Seiner Natur weder kennt noch würdigt. Für den Menschen, bei all seiner Weisheit, ist Jesus nur ein armer Prediger, der, für einen Propheten Sich ausgebend, Sich über Sich Selbst täuscht und dem zum Waschen Seiner Füße ein wenig Wasser zu geben sich der Mühe nicht lohnt. Der Glaubende hingegen erblickt in Ihm eine vollkommene und göttliche Liebe; und sein Friede ist vollkommen, sobald er im Glauben auf Ihn schaut. Die Früchte freilich sind noch nicht vor den Augen der Menschen, aber sie sind vor Gott, sobald Christus wertgeschätzt wird; und wer Ihn wertschätzt, beschäftigt sich nicht mit sich selbst, noch mit seinen Früchten (mit Ausnahme der schlechten, um sie zu richten), sondern mit Dem, der für sein Herz das Zeugnis der Gnade geworden ist, als er nichts anderes war als ein armer, verlorener Sünder.
Das ist die neue Sache – die Gnade, und sogar die Früchte derselben in ihrer Vollkommenheit. Das Herz Gottes ist in Gnade geoffenbart; und das Herz des Menschen, des Sünders, antwortet darauf durch die Gnade, nachdem es die vollkommene Offenbarung derselben in Christo ergriffen hat oder vielmehr durch sie ergriffen worden ist.
Fußnoten
- 1 Wir haben gesehen, dass dieses gerade der Gegenstand des Heiligen Geistes in unserem Evangelium ist.
- 2 Um den Ausdruck in Vers 47: „Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt“ zu erklären, muss man die in der Person Jesu geoffenbarte Gnade von der Vergebung unterscheiden, die Er denen ankündigte, die die Gnade erreicht hatte. Der Herr ist fähig, diese Vergebung zum Bewusstsein zu bringen, und Er offenbart sie diesem armen Weibe. Doch das, was durch die Gnade ihr Herz schmolz und die Liebe erzeugte, die sie zu Ihm fühlte, war das, was sie in Jesu Selbst gesehen hatte, was Er war für eine Sünderin wie sie. Sie denkt nur an Ihn; Er hat so völlig von ihrem Herzen Besitz genommen, dass alle anderen Einflüsse ausgeschlossen sind. Sobald sie erfährt, dass Jesus da ist, geht sie in das Haus des stolzen Pharisäers, ohne an etwas anderes als an die Anwesenheit Jesu zu denken. Seine Gegenwart bringt jede Überlegung, jede Frage zum Schweigen. Sie verstand, was Jesus für einen Sünder war, und dass der elendste, mit Schimpf und Schande beladene Mensch in Ihm Hilfe finden konnte. Sie fühlte ihre Sünden so, wie die vollkommene Gnade, die das Herz öffnet und Vertrauen erwirbt, sie fühlen lässt, und sie liebte viel. Die Gnade in Christo hatte ihre Wirkung hervorgebracht; das Weib liebte wegen Seiner Liebe, und darum sagt der Herr: „Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt.“ Das will nicht sagen, dass dieserhalb die Liebe des Weibes verdienstlich war, sondern dass Gott die herrliche Tatsache offenbarte, dass die Sünden eines Menschen, dessen Herz Gott zugewandt ist – mögen sie auch noch so zahlreich und verabscheuungswürdig sein – völlig vergeben sind. Es gibt viele, deren Herzen Gott zugewandt sind und die Jesum lieben, ohne dass sie die Vergebung ihrer Sünden kennen. Jesus spricht mit Autorität in dem Falle des Weibes: Er schickt sie hin in Frieden. Es ist eine Offenbarung, eine Antwort auf die Bedürfnisse und auf die Gefühle der Liebe, die in einem Herzen erzeugt sind, das durch die in der Person Christi geoffenbarte Gnade bußfertig gemacht ist. Wenn Gott Sich in dieser Welt, und zwar mit einer solchen Liebe, offenbart, so muss Er notwendigerweise in dem Herzen jede andere Überlegung verdrängen; und ohne sich darüber klar zu sein, war das Weib die einzige, die in jenen Umständen auf eine angemessene Weise handelte; denn sie schätzte die ganze Wichtigkeit Dessen, der gegenwärtig war. Der Heiland-Gott war da – von welcher Wichtigkeit waren Simon und sein Haus? Jesus ließ alles Übrige vergessen. Möchten wir dessen stets gedenken! Der Anfang des Falles des Menschen war der Verlust des Vertrauens zu Gott infolge der verführerischen Einflüsterung Satans, dass Gott dem Menschen etwas vorenthalten habe, was ihn Gott gleichmachen würde. Ist aber das Vertrauen zu Gott einmal verloren, so sucht der Mensch sich selbst glücklich zu machen in der Ausübung seines eigenen Willens, und Lüste, Sünde und Übertretung sind die Folge. Christus ist Gott, geoffenbart in unendlicher Liebe, um das Vertrauen des Herzens zu Gott zurück zu gewinnen. Die Beseitigung der Schuld und die Kraft, Gott zu leben, sind eine andere Sache und werden durch Christum an ihrem eigenen Platze gefunden, so wie im vorliegenden Falle die Vergebung an ihrem Platz eintritt. Allein das arme Weib hatte durch Gnade gefühlt, dass es wenigstens ein Herz gab, dem sie Vertrauen schenken durfte, und dieses Herz war das Herz Gottes.