Der Prophet Micha
Kapitel 7: Rechtsstreit Gottes mit Israel (II)
Gott führt seinen Rechtsstreit (Mich 6,2) mit seinem Volk fort und wendet sich nun an Jerusalem und an Juda. Das Ziel dieses langen Plädoyers ist es, die souveräne Gnade Gottes angesichts des Elends des Menschen groß zu machen.
Am Ende dieser Prophezeiung werden Gefühle ausgedrückt, die man im Buch der Klagelieder wiederfindet. Das ernstliche Gebet des Bekenntnisses der Treuen erhebt sich zu Gott angesichts der Erprobung in der Zeit der „Drangsal für Jakob“ (Jer 30,7).
4. Das zweite Wehe: V. 1–7
Ein erstes Wehe war über das Volk ausgesprochen worden (Mich 2,1). Jetzt wird ein weiteres verkündet.
Micha macht sich eins mit dem Überrest: V. 1
Der Prophet nimmt den Platz des Mittlers vor Gott für den Überrest ein. Indem er sich mit diesem eins macht, um an seiner Schuld teilzuhaben, spricht er das zweite Wehe über sich selbst aus. Er nimmt sogar die Ungerechtigkeit der Stadt Jerusalem auf sich (V. 9). Trotz seines ehrlichen Wunsches Frucht für Gott zu bringen war Micha (der Repräsentant des Überrestes) nur ein unfruchtbarer Baum und ein Weinstock ohne Trauben. Dies ist der Zustand des Menschen vor Gott und unter seinem Urteil.
Zur selben Zeit stellt Jesaja ebenfalls fest, dass Israel, der Weinstock des HERRN, nur wilde Trauben hervorgebracht hat (Jes 5,1.2.7). Daraufhin verkündet er das siebte Wehe über sich selbst in der Gegenwart der Heiligkeit des HERRN (Jes 6,5).
Das Böse in Jerusalem: V. 2–4
Die traurige Schilderung des Zustands der Stadt beginnt mit dieser Feststellung: „Der Gütige ist aus dem Land verschwunden“, also selbst der, den der HERR für sich abgesondert hat (Ps 4,3). Betrug, Gewalttat und Unterschlagungen kennzeichnen das Böse, dass sie mit Sorgfalt verüben, „um es gut auszuführen“ (V. 3). Es gibt keine Spur des Guten mehr! Alle, auch die Fürsten, die Richter und die Großen, sind schuldig. Indem sie Dornsträuchern und Dornenhecken gleich geworden sind, werden sie durch das Licht Gottes verbrannt werden (Jes 10,17; Heb 6,8). Dieses Gericht am Tag ihrer Heimsuchung wurde bereits angekündigt (Mich 5,10), jetzt ist es gekommen. Man wird die Analogie zwischen der Beschreibung der verdorbenen Stadt und der Darstellung der Schuld des Menschen, die der Apostel Paulus gibt, bemerken (Röm 3,9–20).
Der Gipfel der Ungerechtigkeit: V. 5.6
Die Ablehnung von jeglichem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Menschen und die Abkehr von den natürlichen Zuneigungen innerhalb der Familie vervollständigen diesen schrecklichen moralischen Zustand Israels. Dieses Böse findet sich auch bei den verderbten Heiden (Röm 1,30), ebenso auch in der moralisch abgefallenen Christenheit der letzten Tage (2. Tim 3,2) sowie zur Zeit des Antichristen.
Der Herr zitiert diese Worte des Propheten, um die Auswirkung der Verwerfung der Predigt des Evangeliums durch seine Boten zu zeigen (Mt 10,34.35). Die Ungerechtigkeit des menschlichen Herzens wird in Gang gesetzt, wenn das Licht des Evangeliums abgelehnt wird. Wenn die Liebe Gottes nicht das Herz erfüllt, wird es vom Hass erobert.
Micha wendet sich Gott zu: V. 7
Der Prophet ist sich des Bösen bewusst geworden, dass er zuerst in sich selbst (V. 1), dann rings um sich herum (V. 2–6) entdeckt hat. Dies führt ihn dazu, auf den HERRN zu blicken und auf den Gott seines Heils zu harren. Dieses friedvolle Vertrauen auf Gott, obwohl jede innere und äußere Rettung im Augenblick fehlt, ist von großer Schönheit. Dies ist ein schönes Beispiel, dass wir in unserem christlichen Leben nachahmen sollen.
5. Das Vertrauen des Glaubens vor den Feinden: V. 8–10
Der Prophet hatte die Trübsal des Überrests auf sich genommen, um sich für ihn bei Gott einzusetzen. Jetzt nimmt er in Gegenwart seiner Feindin (womit wahrscheinlich die abgefallene Nation gemeint ist) vor Gott den passenden Platz ein, um auf Errettung zu warten. Er erträgt den Zorn des HERRN und erkennt, dass er gegen ihn gesündigt hat. Der Glaubende zeigt Vertrauen und Geduld und ist sich seines Heils gewiss – trotz des Spotts der Feinde. Wenn er von seinem Fall aufgestanden sein wird, wird er aus der Finsternis ins Licht geführt, um die Gerechtigkeit Gottes zu sehen.
Die freche Kampfansage der Feinde: „Wo ist der HERR, dein Gott?“ kann hingegen nicht ungestraft bleiben. Der befreite Überrest wird bei der Vernichtung der ruchlosen Nation durch den Einmarsch der Heere des Assyrers zusehen (Jes 10,6). Das erschütternde Bild von dem „Straßenkot“ wird von den beiden Propheten Jesaja und Micha verwendet.
6. Gott spricht zu Jerusalem: V. 11–17
Das Thema dieses Dialogs zwischen dem HERRN und dem Überrest ist die kommende Herrlichkeit Jerusalems, der Stadt, die Gott zu seinem Wohnort und seiner Ruhestätte erwählt hat (Ps 132,13.14).
- Der HERR verheißt in V. 11.12, dass die Mauern der Stadt an einem zukünftigen Tag, „an jenem Tag“, wieder aufgebaut werden. Die Grenzen des Landes werden zurückweichen, um den Verlauf anzunehmen, der Abraham versprochen wurde (1. Mo 15,18): vom Nil bis zum Euphrat und vom Mittelmeer bis zum Persischen Golf. Israel wird dann friedliche Beziehungen mit den zwei Königreichen des Nordens (Assyrien) und des Südens (Ägypten) unterhalten, gemäß der Weissagung Jesajas (Jes 19,23–25).
- V. 13 enthält eine Einschaltung über die momentane Verwüstung des Landes. Vor der endgültigen Wiederherstellung Jerusalems und Israels in seinem Land werden die Konflikte zwischen diesen beiden Königreichen des Nordens und des Südens für die Zerstörung des Landes sorgen. Gott wird dies zulassen – als Gericht über die bösen Taten seiner Bewohner.
- Der treue Überrest appelliert nun an die Fürsorge des Hirten Israels. Karmel (der fruchtbare Berg), Basan und Gilead (die fetten Weiden) sind Symbole der ersehnten geistlichen Segnungen (V. 14).
- Der HERR erinnert in V. 15 an das Wunder der Errettung des ganzen Volkes aus Ägypten, welches im Gedächtnis bewahrt werden sollte (2. Mo 12,42; 15,11). Der Überrest des Endes wird genauso wunderbare Dinge sehen, während Gott den Assyrer vor seinen Augen vernichten wird (Dan 12,6).
- Der Überrest weist darauf hin, dass dieses beispielhafte Gericht über den Assyrer alle Nationen dazu führen wird, sich mit Furcht der Autorität des Christus zu unterwerfen, selbst wenn sich hinter dem äußeren Gehorsam mitunter Heuchelei verbirgt (V. 16.17).
7. Die vertrauensvolle Antwort des Überrestes: V. 18–20
Der Prophet und der Überrest Judas vereinigen ihre Stimme, um dem Messias ein Lied der Dankbarkeit zu singen, in welchem sie ihre Errettung preisen.
- Der Überrest spricht: „Wer ist ein Gott wie du 1, der die Ungerechtigkeit vergibt und die Übertretung des Überrestes seines Erbteils übersieht?“ Es ist ein Glück für jeden Gläubigen zu wissen, dass ihm vergeben ist (Ps 32,1.2). Dies ist das Teil des Überrestes des Erbteils des HERRN, der nach dem Gericht über die abgefallene Nation übrigbleibt.
- Der Prophet ergänzt: „Er behält seinen Zorn nicht auf ewig, denn er hat Gefallen an Güte.“ David drückt dies an anderer Stelle so aus: „Denn ein Augenblick wird verbracht in seinem Zorn, ein Leben in seiner Gunst“ (Ps 30,5). Wenn Gott also Freude hat an der Güte, verlangt er auch von jedem Gläubigen die Güte zu lieben (Mich 6,8).
- Der Überrest sagt: „Er wird sich unser wieder erbarmen, wird unsere Ungerechtigkeiten niedertreten.“ Die Ungerechtigkeiten sind nicht nur vergeben, sondern sie verschwinden auch vor dem Angesicht Gottes. Dies ist eines der Ergebnisse des neuen Bundes, der zwischen Gott und seinem irdischen Volk geschlossen werden wird (Jer 31,34; Heb 8,12).
- Der Prophet fügt hinzu: „Und du wirst alle ihre Sünden in die Tiefen des Meeres werfen.“ David verwendet ein anderes Bild, nämlich das der unermesslichen Entfernung der Himmelsrichtungen auf der Erde, um denselben Gedanken auszudrücken (Ps 103,12). Hiskia spricht von seinen Sünden, die der HERR hinter seinen Rücken geworfen hat (Jes 38,17). Aber erst das N.T. offenbart die vollständigen Ergebnisse der Erlösung, indem es heißt, dass Christus einmal offenbart worden ist „zur Abschaffung der Sünde durch sein Opfer“ (Heb 9,26).
- Die Weissagung endet mit einem schönen Wort des Vertrauens seitens des Überrestes Gott gegenüber: „Du wirst an Jakob Treue, an Abraham Güte erweisen, die du von den Tagen der Vorzeit her unseren Vätern geschworen hast.“ Die irdischen Gläubigen erinnern den Gott der Treue an seine eigenen bedingungslosen Verheißungen, die er in früheren Zeiten den Patriarchen gab.
Zusammenfassung
Die Gnade und Barmherzigkeit Gottes erheben sich über das Gericht. Um sich daran erfreuen zu können, muss der Gläubige seine Ungerechtigkeiten bekennen, und der Gott der Treue gewährt ihm eine vollständige und kostenlose Vergebung. Die Prophezeiung Michas offenbart also schon die Botschaft des Evangeliums. Auf Grund des vollkommenen Werkes Christi am Kreuz kann Gott jetzt die Sünden all derer, die ihr Vertrauen auf ihn gesetzt haben, hinwegtun.
Fußnoten
- 1 Die Anspielung auf den Namen des Propheten Micha („Wer ist wie der HERR?“) ist offensichtlich.