Der Brief an die Hebräer
Kapitel 5
Nachdem uns Paulus am Schluss des zweiten Kapitels Christus als unsern Hohenpriester dargestellt hat, der gemäß Gottes Heiligkeit für die Sünden des Volkes das Sühnungswerk vollbrachte, und am Schluss des vierten Kapitels als unsern mitleidvollen Hohenpriester, der den Weg zum Thron der Gnade für uns öffnete, geht er jetzt dazu über, dieses Hohepriestertum des Christus näher zu beschreiben. Er vergleicht es mit dem Hohenpriestertum Aarons, das in vieler Hinsicht ein Vorbild des Hohenpriestertums des Christus war, obschon Paulus mehr den Gegensatz als die Übereinstimmung der beiden zeigt. Dieser Vergleich beginnt mit dem fünften Kapitel, wird dort jedoch im elften Vers durch verschiedene Ermahnungen, die in Beziehung stehen zu dem Zustand, in dem die Gläubigen Hebräer sich befanden, abgebrochen, um im siebenten Kapitel fortgesetzt und im zehnten zum Abschluss gebracht zu werden.
Im Anfang des fünften Kapitels finden wir einen Gegensatz. „ Denn jeder aus Menschen genommene Hohepriester wird für Menschen bestellt in den Sachen mit Gott, auf dass er sowohl Gaben als auch Schlachtopfer für Sünden darbringe, der Nachsicht zu haben vermag mit den Unwissenden und Irrenden, da auch er selbst mit Schwachheit umgeben ist, und um dieser willen muss er, wie für das Volk, so auch für sich selbst opfern für die Sünden“ (Verse 1–3). Auf Aaron trifft dies zu, aber nicht auf Christus. Er war nicht von Schwachheit umgeben und brauchte darum nicht für sich selber zu opfern. Er kannte keine Sünde und konnte deshalb sich selber hingeben zu einer Sühnung für die Sünden Seines Volkes. Wenn Er, gleichwie Aaron, von Schwachheit umgeben gewesen wäre, hätte Er für sich selber opfern müssen; aber dann hätte Er auch nicht für die Sünden von anderen leiden können und es wäre keine Versöhnung zustande gekommen. Es ist von größter Wichtigkeit, dies recht zu verstehen, denn unsere Erlösung und Seligkeit steht und fällt damit.
Doch wiewohl Christus in dieser Hinsicht im Gegensatz stand zu Aaron, so war letzterer in anderer Hinsicht das Vorbild von Christus. Aaron hatte sich nicht selber zum Hohenpriester gemacht, sondern wurde von Gott dazu berufen. Auch Christus hat nicht sich selber verherrlicht, um Hohepriester zu werden, sondern Gott setzte Ihn als Hoherpriester ein (Verse 4–6 ). In den Psalmen legt Gott, der Herr, Zeugnis ab, sowohl von der Herrlichkeit Seiner Person, als auch von der Erhabenheit Seines Amtes. Von Seiner Person sagt Gott: „Du bist Mein Sohn, heute habe Ich Dich gezeugt“; und von Seinem Amt: „Du bist Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks“ (siehe
Die Lebensgeschichte unseres Hohenpriesters auf Erden zeigt deutlich, wie sehr Er befähigt ist, an allen unsern Schwachheiten teilzunehmen. Er kam auf die Erde, um den Willen Seines himmlischen Vaters zu tun. Seine Menschwerdung war das Aufgeben Seiner Herrlichkeit, die Er beim Vater hatte, ehe die Welt war. Da Er Gott selber war, brauchte Er die Gottheit nicht zu erben, sondern Er erniedrigte sich selber; und als Mensch auf Erden erniedrigte Er sich nochmals; denn anstatt ein König in Macht und Herrlichkeit zu sein, wurde Er ein Knecht, der arm und elend und in allem gehorsam war, selbst bis in den Tod am Kreuz. (siehe
Er hat Gehorsam gelernt an dem, was Er gelitten hat; denn alles hienieden war für Ihn Leiden. Seine Menschwerdung selber war Leiden; Sein Wohnen inmitten der Sünder, Sein Unterworfensein all den Folgen, die durch die Sünde in die Welt gekommen waren, Sein Erleben der Feindschaft der Menschen, die Ihn verwarfen und ans Kreuz nagelten, waren eine beständige Quelle von Leiden für Ihn, der von Ewigkeit her in der Gegenwart des Vaters dessen Herrlichkeit geteilt und genossen hatte. Dennoch war ein Unterschied in diesem Leiden. Das eine war schwerer und peinlicher als das andere. Doch über alles schwer war das Leiden des Kreuzes, nicht bloß wegen des damit verbundenen Schrecklichen und Schändlichen, sondern weil es einen ganz anderen Charakter trug als die anderen Leiden. Gehörte es, von einem Gesichtspunkt aus gesehen, zum Leiden für die Gerechtigkeit, weil Jesus durch die gottlosen Menschen verworfen und zu Tode gebracht wurde, so war es auf der anderen Seite Leiden von Seiten Gottes, weil Er für uns zur Sünde gemacht war und unsere Sünden an Seinem Leib auf dem Holz trug. Darum nahm das Seufzen von Jesus zu, in dem Maß, wie dieses Leiden sich näherte. In den letzten Tagen Seines Lebens kam eine tiefe Erschütterung über Seine Seele (siehe
Wie schon bemerkt, sehen wir in Gethsemane den Höhepunkt dieses Leidens. Unser teurer Herr erduldete dort in Seiner Seele alle Ängste und Schmerzen des Todes, die um der Sünde willen am Kreuz zur Verherrlichung Gottes und zur Genugtuung Seiner Gerechtigkeit über Ihn kommen sollten. Der Becher des Zornes Gottes über die Sünde wurde vor Ihn gestellt; und von diesem Kelch ruft Er aus, was Er von keinem andern Becher je gesagt hat: „Vater, wenn es möglich ist, so lass diesen Kelch an Mir vorübergehen.“ Doch Er war gehorsam in allem, gehorsam bis zum Tod, ja, bis zum Tod am Kreuz. „Nicht Mein Wille, sondern Dein Wille geschehe.“ Jesu Wille war nicht, zu sterben. Dies konnte nicht anders sein. Sterben bedeutete für Ihn, von Gott verlassen und dem Gericht preisgegeben zu werden. Aber in völligem Gehorsam nahm Er den Kelch des Zornes Gottes aus den Händen Seines Vaters an. Das war Seine Gottesfurcht. Um dieser Gottesfurcht willen wurde Er erhört. Ein Engel kam, um Ihn zu stärken. In göttlicher Macht und Majestät tritt Er den Häschern entgegen, lässt sie zur Erde fallen und gibt sich freiwillig hin, um zum Kreuz geschleppt zu werden. Und nachdem Er den Willen des Vaters getan und das Werk vollbracht hatte, wurde Er „von den Hörnern der Büffel erhört“ (
Paulus bricht hier seine Beweisführung ab. Wo er über Melchisedek zu reden anfängt, über den Er viel zu sagen hatte, was schwer zu erklären ist, denkt er an die Erschlaffung und Zweifelsucht, in welche die gläubigen Hebräer gefallen waren. Der Zeit nach, seitdem sie bekehrt waren, hätten sie Lehrer sein sollen, da sie nun aber im Hören träge geworden waren, mussten sie wieder unterwiesen werden, welches die Grundsätze des Anfangs der Aussprüche Gottes sind; und sie, die als Erwachsene mit fester Speise hätten genährt werden sollen, hatten nun wieder wie kleine Kinder Milch nötig (Vers 11–12). Welch eine Beschämung! „Denn jeder, der noch Milch genießt, ist unerfahren im Wort der Gerechtigkeit, denn er ist ein Unmündiger; die feste Speise aber ist für Erwachsene, welche vermöge der Gewohnheit geübte Sinne haben zur Unterscheidung des Guten sowohl als auch des Bösen“ (Verse 13–14).