Der Brief an die Hebräer
Kapitel 4
Im vierten Kapitel wird das Thema von der Ruhe Gottes weiter behandelt. Als die Israeliten in der Wüste an den Grenzen des verheißenen Landes angekommen, durch Unglauben sich weigerten, in Kanaan einzuziehen, schwur Gott in Seinem Zorn: „Wenn sie in meine Ruhe eingehen werden“, und sie fielen alle in der Wüste. „ Fürchten wir uns nun“, sagt Paulus in Vers 1, „dass nicht etwa, da eine Verheißung in Seine Ruhe einzugeben, hinterlassen ist, jemand von euch scheine zurückgeblieben zu sein.“
In diesem Zusammenhang ist es deutlich, welche Ruhe hier gemeint ist. Nicht von der Ruhe, die unser Gewissen durch das Blut des Christus gefunden hat, ist hier die Rede; auch nicht von der Ruhe, die unser Teil ist während unserer Reise hienieden durch unser Vertrauen auf Gottes Liebe und Macht; sondern von der Ruhe, in die der verherrlichte Christus eingegangen ist, und die am Ende unserer Wüstenreise in den himmlischen Wohnungen unser wartet. Wir sind von Ägypten (der Welt) erlöst und befinden uns auf der Reise nach Kanaan (dem Himmel). Die Gefahr besteht nicht darin, dass das Blut nicht vor dem Gnadenthron wäre (und diese Tatsache gibt unserem Gewissen Ruhe in Gottes Gegenwart); sondern darin, dass wir auf dem Weg umkommen, gleichwie viele durch Unglauben in der Wüste umkamen. „Das Wort der Verkündigung nützte jenen nicht, weil es bei denen, die es hörten, nicht mit dem Glauben vermischt war“ (Vers 2). Allein „wir, die wir geglaubt haben, gehen in die Ruhe ein“ (Vers 3); denn auch uns ist eine gute Botschaft verkündigt worden, gleichwie auch jenen. Die gute Botschaft ist hier nicht die Botschaft von der Vergebung unserer Sünden durch das Blut des Christus, sondern die Predigt von dem verherrlichten Christus, durch Den wir Teilhaber der himmlischen Berufung und Dessen Genossen geworden sind. Es wird deshalb nicht gesprochen von der Ruhe, die wir für unser Gewissen durch den Glauben an Christus und durch unser Vertrauen auf Sein Opfer und Sein Blut gefunden haben, sondern von der Ruhe, die unser wartet, wenn wir am Ende unserer Reise durch die Wüste ins himmlische Kanaan eingehen.
Treffend und schön wird uns diese Ruhe vorgestellt. Gott bereitet sich selber nach Vollendung des Schöpfungswerkes eine Ruhe. Und nachdem Er Sein Volk durch die Wüste geführt hatte, verhieß Er ihm eine Ruhe in Kanaan. Aber was ist geschehen? Ach, der Mensch störte diese Ruhe. Sollte der Schöpfer ruhen können, wenn das, was Er geschaffen, durch die Sünde verdorben wurde? Gewiss nicht! Von diesem Augenblick an begann Sein Wirken aufs neue. Welche Gnade! „Mein Vater wirkt bis jetzt, und Ich wirke“, sagte unser Heiland. Und Israel störte durch seinen Unglauben, seine Sünde und Hartnäckigkeit die Ruhe in Kanaan. Denn, sagt Paulus, wenn Josua das Volk in die Ruhe gebracht hätte, dann würde David nach so langer Zeit nicht von einer andern Ruhe geredet haben. „Also bleibt noch eine Sabbathruhe dem Volk Gottes übrig“, das heißt für die, welche glauben und bis ans Ende ausharren“ (Verse 6–9).
Und welches ist diese Ruhe? Es ist die Ruhe Gottes selber. „Wenn sie, die ungehorsam sind, in Meine Ruhe eingehen werden“, sagt der Herr. Unaussprechlich herrlicher Gedanke! Adam störte die Ruhe Gottes nach der Schöpfung. Israel störte die Ruhe im Gelobten Land. Bleibt nun keine Ruhe mehr übrig? Doch, Gott hat sie gefunden in Christus. Christus hat die Sünde zunichte gemacht und eine ewige Sühnung zustande gebracht. Er wird alle Seine Feinde zum Schemel Seiner Füße legen. Alle Dinge im Himmel und auf Erden werden durch Ihn versöhnt und gereinigt werden. Es wird ein neuer Himmel und eine neue Erde sein, in denen Gerechtigkeit wohnt, und wo alles nach Gottes ewigem Vorsatz zu Seiner Verherrlichung in Ordnung gebracht ist. Es wird nichts mehr zu reinigen und zu versöhnen übrigbleiben; und kein Feind sich mehr gegen Gott erheben. Er wird sich an den Werken Seiner Hände erfreuen können mit einer Freude, die nie mehr zerstört werden kann, sondern in Ewigkeit bleibt. An dieser Ruhe Gottes dürfen wir, die wir glauben, einmal teilnehmen. „Denn wer in Seine Ruhe eingegangen ist, der ist auch zur Ruhe gelangt von seinen Werken, gleichwie Gott von Seinen eigenen“ (Vers 10).
Welch ein Glück wird es sein, an dieser Ruhe Gottes teilzuhaben! Es ist eine vollkommene Ruhe. Jede Arbeit, alle Übungen des Glaubens in der Wüste, jeder Kampf, alle Werke, die wir hienieden verrichten, werden aufhören. Wir werden nicht nur erlöst sein von der Macht der innewohnenden Sünde und von jeder Versuchung, auch jede Arbeit, jede Mühe und aller Kampf des neuen Menschen werden aufhören. Gott ruht von Seinen Werken, und fürwahr, sie sind gut. So werden auch wir dann mit Ihm ruhen. Jetzt sind wir in der Wüste mit allen ihren Sorgen, ihrer Mühe und ihren Widerwärtigkeiten; wir haben auch mit den geistlichen Bosheiten in den himmlischen Oertern zu kämpfen, aber dann werden wir ruhen von unserer Arbeit, ruhen am Herzen Gottes, ruhen in Seinen ewigen Hütten, und nichts wird je mehr diese Ruhe stören. Sowohl die Ruhe der ersten Schöpfung, als auch die Ruhe in Kanaan wurden gestört, aber diese Ruhe, die Ruhe der neuen Schöpfung, dauert ungestört fort bis in Ewigkeit. Unaussprechlich herrliche Aussicht!
Lasst uns nun Fleiß anwenden, in jene Ruhe einzugehen, dass nicht jemand nach demselben Beispiel des Ungehorsams falle, dessen sich die Israeliten in der Wüste schuldig machten. Richten wir unsern Blick auf das Ende unserer Reise, auf die himmlische Wohnung, auf das Land der ewigen Ruhe, wo Fülle von Freude sein wird vor dem Angesicht des Herrn. Wir gehen dann unsern Weg mutig vorwärts, bis der Herr kommt, um uns in die vielen Wohnungen des Vaterhauses zu führen. Am Ende der vierzigjährigen Wanderung durch die Wüste konnte Kaleb, dessen Auge stets auf das herrliche Land gerichtet blieb, bezeugen, dass seine Kraft noch dieselbe war, wie beim Auszug aus Aegypten; und Paulus konnte am Ende seiner Laufbahn voll Freude ausrufen: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe den Glauben bewahrt; fortan liegt mir bereit die Krone der Gerechtigkeit, welche der Herr, der gerechte Richter, mir an jenem Tag geben wird!“
Merkwürdigerweise wird hier nicht erwähnt, dass für uns Christen die Ruhe im Himmel ist. Dadurch bleibt die Tür offen für eine irdische Ruhe, für Gottes irdisches Volk, in Übereinstimmung mit den diesem Volk gegebenen Verheißungen.
Am Schluss unseres Kapitels gibt Paulus die beiden Mittel an, die Gott gegeben hat und gebraucht, um uns auf dem Weg zu bewahren und zu trösten, damit wir am Ende der Reise sicher ans Ziel kommen und in das Land der ewigen Ruhe eingehen können. Diese beiden Mittel sind das Wort Gottes und das Hohepriestertum des Christus.
Das Wort Gottes, als Offenbarung Gottes und Ausdruck Seines Wesens und Willens, inmitten der Umstände, in denen wir uns befinden, richtet alles, was in unserm Herzen nicht in Übereinstimmung ist mit Ihm. Es ist „lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und durchdringend bis zur Scheidung von Seele und Geist, sowohl der Gelenke als auch des Markes“. Es scheidet alles, wie fest es auch in unsern Gedanken verbunden sein mag. Wo die Natur (die Seele) und ihre Gefühle sich vermengen mit dem, was geistlich ist, scheidet und trennt es als das zweischneidige Schwert der göttlichen Wahrheit das, was von uns und was von Gott ist. Er ist „ein Beurteiler der Gedanken und Gesinnung des Herzens“. Aber als von Gott kommend hat es noch einen anderen Charakter. Es ist Sein Auge, das über unserem Gewissen geöffnet ist; es stellt uns in die Gegenwart Gottes und macht alle Dinge in uns offenbar. „Kein Geschöpf ist vor Ihm unsichtbar, sondern alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben“ (Verse 12–13).
Derart ist das mächtige Werkzeug, das Gott gebraucht, um alles in uns zu richten, was uns hindern könnte, freudig, mit glücklichen Herzen, gestärkt durch den Glauben und durch das Vertrauen auf Gott, unsere Reise durch die Wüste fortzusetzen und zu beendigen. Alles was im Widerspruch ist mit Gottes Willen; alles was vom Fleisch ist und uns zu Unglauben oder Mutlosigkeit verführen könnte, ist ein Hindernis auf unserm Weg und könnte uns zum Straucheln und Fallen, zum Stillstehen oder Zurückweichen verleiten. In Seiner Treue wirkt Gott durch Sein Wort in uns und beurteilt die Gedanken und Gesinnungen des Herzens. Ein aufrichtiges Herz erkennt darin eine unaussprechliche Gnade. Wohl ist es ernst und mitunter peinlich in seiner Wirkung, aber es liegt ein unschätzbarer und unendlicher Segen darin. Wer am Ende der Reise in die himmlische Ruhe einzugehen wünscht, freut sich, wenn ihm die Hindernisse auf dem Weg gezeigt werden. Ist der eigene Wille gebrochen, so werden die Begehrlichkeiten des Fleisches und der Natur beherrscht und die sich ergebenden Versuchungen und Gefahren gebannt. Wer in Gottes Licht sich selber richtet, empfängt Kraft und Energie, um mit Freudigkeit seinen Weg zu wandeln und am Ende in die ewige Ruhe einzugehen.
Doch wir haben nicht bloß die fortdauernde Beurteilung unser selbst durch Gottes Wort nötig, wir brauchen in dieser mühevollen, versuchungsreichen Welt auch einen Trost. Den finden wir im Hohenpriestertum des Christus, worüber Paulus hier und in den folgenden Kapiteln spricht.
„Da wir nun einen großen Hohenpriester haben, der durch die Himmel gegangen ist, Jesus, den Sohn Gottes, so lasst uns das Bekenntnis festhalten; denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht Mitleid zu haben vermag mit unsern Schwachheiten, sondern der in allem versucht worden ist in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde. Lasst uns nun mit Freimütigkeit hinzutreten zu dem Thron der Gnade, dass wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zur rechtzeitigen Hilfe“ (Verse 14–16).
Wir haben einen Hohenpriester, der durch die Himmel gegangen ist. Gleichwie Aaron aus dem israelitischen Lager durch den Vorhof und das Heilige in das Allerheiligste hineinging, so ist auch Jesus, der Sohn Gottes, von dieser Erde aufgefahren und durch den Wolkenhimmel hindurchgegangen, um im dritten Himmel, im himmlischen Heiligtum, der Wohnung Gottes, Seinen Platz zur Rechten Gottes einzunehmen. Er ist dort in der Herrlichkeit; kein Leid kann Ihn mehr treffen, keine Versuchung mehr an Ihn kommen; Er ist über alles erhaben. Aber Er war hier unten in allen Dingen versucht gleichwie wir. Darum kann Er mit unsern Schwachheiten Mitleid und Mitgefühl haben. Um Mitleid haben zu können, muss man in denselben Verhältnissen gewesen sein. Unser großer Hoherpriester Jesus, der Sohn Gottes, ist als Mensch in den Himmel eingegangen und kann also mit uns Menschen fühlen; und da Er, als Er hier unten war, die Erfahrung aller Mühsale und Schmerzen, die auf Erden unser Teil sind, gemacht hat, kann Er mit uns Mitleid haben und sich in alle Umstände, in denen wir uns hienieden befinden, versetzen.
Wir müssen hierbei bedenken, dass von Schwachheiten die Rede ist, und keineswegs von Sünden. Die Worte des Paulus werden oft falsch erklärt und dadurch falsch angewandt. Sobald man Sünden Schwachheiten nennt, verliert die Sünde ihre Häßlichkeit und Abscheulichkeit; und werden jedoch Schwachheiten Sünden genannt, dann berauben wir uns des Trostes, den uns Jesu Mitleid zu spenden vermag. Es ist klar, dass der Herr kein Mitleid mit den Sünden haben kann. Mitleid, wie das Wort hier gemeint ist, ist nicht Barmherzigkeit, sondern Mitgefühl, Sympathie. Der Herr kann wohl mit Erbarmen auf einen Sünder herabschauen, aber mit der Sünde kann Er niemals Mitgefühl haben. Im Gegenteil, Er verurteilt die Sünde, hat einen Abscheu davor und hat sie am Kreuz zunichte gemacht. Darum sagt Paulus, dass Jesus in allen Dingen versucht worden ist gleichwie wir, ausgenommen die Sünde. Christus hat keine Sünde gekannt; Er hatte keine Begierden; in allen Seinen Versuchungen war die Sünde ganz ausgeschlossen. „Der Fürst dieser Welt kommt“, sagt der Herr, „und hat nichts an mir.“ Satan fand keinen einzigen Anknüpfungspunkt. Es ist Gotteslästerung, auf Christus anzuwenden, was Paulus und jeder von uns von sich selber bezeugen muss: „Ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt.“
Aber unser Herr wurde hienieden in allen Dingen versucht. Er war arm; Er litt Hunger und Durst; Er wurde verachtet, verspottet, verworfen; Er wurde von Seinen Feinden verfolgt und mißhandelt, von Seinen Freunden verkannt, von Seinen Jüngern enttäuscht. Er musste alle Folgen der Sünde erdulden. Er war nie krank, (das konnte nicht sein, denn in Ihm war keine Sünde und also hatte Er keinen sterblichen und verderblichen Leib, wiewohl Er sterben konnte und auch gestorben ist); aber als Er die Leidenden heilte, nahm Er ihre Krankheiten auf sich und fühlte ihre Schmerzen, wie wir in
Da wir nun einen solchen Hohenpriester im Himmel haben, der sich mit allen unsern Mühsalen und Schwachheiten beschäftigt, nach der Kenntnis, die Er selber davon hat und nach der Macht der Gnade, können wir mit Freimütigkeit zum Thron der Gnade hinzutreten. Kraft Seines Hohenpriestertums steht der Thron der Gnade für uns offen. Nichts steht uns im Weg oder hindert uns, mit Freimütigkeit hinzugehen, damit wir in allen unsern Schwachheiten Barmherzigkeit erlangen und in jedem Kampf Gnade finden zur rechtzeitigen Hilfe. Jesus, der Sohn Gottes, hat als unser Hoherpriester nicht nur den Zugang zu Gottes Thron für uns geöffnet, sondern Er beschäftigt sich dort mit uns, hat Mitgefühl mit uns in allen unsern Schwachheiten hienieden und ist die Ursache, dass Gott, der Herr, uns Seine Barmherzigkeit und Gnade erfahren lässt, so dass wir dadurch fähig gemacht werden, das Bekenntnis festzuhalten und bis ans Ende auszuharren.