Der Brief an die Hebräer
Kapitel 3
Beim Lesen und Betrachten dieses Teils des Briefs an die Hebräer ist es von großer Wichtigkeit, im Auge zu behalten, an wen dieser Brief geschrieben wurde, da wir sonst die Beweisführung des Schreibers nicht verstehen können und von dem, was er lehrt, einen falschen Gebrauch machen würden. Paulus schreibt an den Überrest der Juden, der an Christus geglaubt und sich dadurch vom übrigen Volk abgesondert hatte, und von diesem Volk gehaßt und verfolgt wurde. Dieser Überrest wird als das von Gott gesegnete Volk auf Erden betrachtet, obschon sie durch die Erhöhung des Messias zur Rechten Gottes Genossen einer himmlischen Berufung sind. Demzufolge werden die Ermahnungen und Tröstungen in diesem Brief auch den gläubigen Israeliten in den Tagen des Antichrists dienen. Wir aus den Nationen, die als wilde Zweige in den Ölbaum eingepfropft sind, haben teil an den Vorrechten und Segnungen, von denen hier geredet wird.
„Daher, heilige Brüder, Genossen der himmlischen Berufung, betrachtet den Apostel und Hohenpriester unseres Bekenntnisses, Jesus, der treu ist dem, der Ihn gesetzt hat, wie es auch Moses war in seinem ganzen Haus“ (Verse 1–2). Diese Worte als Abschluss des bis jetzt behandelten Themas zeigen noch eine neue Würde des Christus, der nicht nur Apostel und Hoherpriester ist, sondern auch „Sohn über Sein Haus“.
Die an Christus gläubig gewordenen Israeliten waren heilige Brüder, d. h. Brüder, die als Gottes Familie von den andern Israeliten abgesondert waren, also die Kinder, die Gott Jesus gegeben hat: der wahre Samen Abrahams. Aber als solche waren sie dann auch Genossen der himmlischen Berufung. Von dieser Erde hatten sie nichts mehr zu erwarten. Ihr Vaterland war nicht hienieden, sondern droben. Nicht nach Jerusalem und Kanaan, sondern nach dem Himmel waren sie auf der Reise. Gott wollte sie als Söhne zur Herrlichkeit führen; und der Anführer ihrer Errettung war durch Leiden vollkommen gemacht und saß nun, mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt, zur Rechten Gottes, wohin Er ihnen vorausgegangen war, und wohin sie Ihm bald folgen würden.
Zu diesen heiligen Brüdern, die Genossen der himmlischen Berufung waren, sagt Paulus: „Betrachtet den Apostel und Hohenpriester unseres Bekenntnisses, Jesus.“ Als Apostel ist Jesus von Gott zu uns gesandt, und als Hoherpriester ist Er für uns zu Gott gegangen. Beides hatten wir nötig. Um Gott kennen zu lernen in Seiner Liebe und Gnade, nach der Herrlichkeit Seiner Natur, und um Seine Gedanken des Friedens und der Seligkeit über uns zu vernehmen, musste der Sohn von Gott auf die Erde gesandt werden. Sollten aber wir schuldige Sünder mit diesem Gott Gemeinschaft haben können, dann musste dieser Apostel das große Werk der Versöhnung vollbringen und als unser Hoherpriester vor Gottes Angesicht treten, Sein Blut ins Heiligtum bringen, und von Gott als solcher angenommen werden. Im ersten Kapitel wird Jesus als Apostel und im zweiten als Hoherpriester dargestellt. Welch ein Apostel! Welch ein Hoherpriester! Gottes eigener Sohn, der Schöpfer Himmels und der Erde, Herr und König der Engel, von Gott als Gott anerkannt und begrüßt, teilte uns Gottes Gedanken mit, offenbarte uns Gottes liebreiches Herz und sprach zu uns von den Dingen, die Er bei Seinem Vater gesehen und gehört hatte. Und unser Hoherpriester ist Er, der, nachdem Er durch Seine eigene Macht die Reinigung von den Sünden zustande gebracht hatte, sich kraft Seiner erworbenen Rechte zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt hat – Er, der für die Sünden des Volkes das Sühnungswerk vollbracht hat und von Gott mit Herrlichkeit und Ehre zu Seiner Rechten gekrönt ist. „Betrachtet Ihn“, sagt Paulus, dann werdet ihr sehen, wie unendlich weit erhaben Er über Moses ist, und ihr werdet nicht daran denken, den Hohenpriester der alten Haushaltung dem Apostel und Hohenpriester unseres Bekenntnisses vorzuziehen.
„Sohn über Sein Haus“, das ist die dritte Würde des Christus. Moses ist als Diener treu gewesen im ganzen Haus Gottes und zwar als prophetisches Zeugnis; Christus hingegen steht über Seinem eigenen Haus, und darum nicht als Diener, sondern als Sohn. Gott selbst hat Ihn in diese Stellung gesetzt. Er hat selber das Haus gebaut: Er ist Gott. Moses hat sich zwar im Glauben mit diesem Haus einsgemacht und war in dieser Stellung in allem treu; aber Christus ist vortrefflicher als Moses, insofern größere Ehre als das Haus der hat, der es bereitet hat. Der aber alles bereitet hat, ist Gott (Verse 3–5).
Das Haus, die Stiftshütte in der Wüste, war wirklich ein Abbild des Weltalls. Der Vorhof stellte die Erde, das Heilige die Himmel und das Allerheiligste den dritten Himmel oder die Wohnung Gottes dar. Christus ist, gleichwie der Hohepriester durch den Vorhof und das Heilige in das Allerheiligste ging, durch die Himmel gegangen, um in Gottes Gegenwart zu erscheinen. Diese Stiftshütte mit allem, was sie enthielt, war durch das Blut gereinigt, gleichwie Gott alle Dinge im Himmel und auf der Erde durch Christus versöhnen wird. In gewissem Sinn ist dieses Weltall das Haus Gottes; Gott lässt sich herab, darin zu wohnen, und Christus hat es geschaffen. Aber es gibt ein Haus, das noch in besonderer Weise Christus angehört, und dieses Haus sind wir, sagt Paulus; wir, die an Christus glauben, die als „heilige Brüder“ Genossen der himmlischen Berufung sind.
„Wenn wir anders“ –fügt er hinzu – „die Freimütigkeit und den Ruhm der Hoffnung bis zum Ende standhaft festhalten“ (Vers 6). Es gab viele Schwierigkeiten für diese Gläubigen aus Israel. Sie waren dadurch der Versuchung ausgesetzt, nachdem sie die Wahrheit mit Freude angenommen hatten, die Freimütigkeit zu Gott und den Ruhm der Hoffnung preiszugeben. Es war für einen Juden keine leichte Sache zu verstehen, dass der Messias gekommen und in die Herrlichkeit aufgenommen war, und dass dennoch das Volk, das diesem Messias anhing und zugehörte, in Verachtung, Leiden und Schmach umherirren musste. Dazu mussten sie aus Glauben leben, der ihren Blick von den sichtbaren Dingen ablenkte, um ihn auf das Unsichtbare und Himmlische zu richten.
Diese gläubigen Israeliten nun standen in Gefahr – wie wir bereits früher bemerkten –, ihre Freimütigkeit und den Ruhm der Hoffnung fahren zu lassen. Darum stellt ihnen Paulus die Folgen hiervon vor Augen, und benutzt dazu Davids Worte aus dem 95. Psalm: „Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht, wie in der Erbitterung, an dem Tag der Versuchung in der Wüste, wo mich eure Väter versuchten, indem sie mich prüften, und sie sahen doch meine Werke, vierzig Jahre. Deshalb zürnte ich diesem Geschlecht und sprach: Allezeit gehen sie irre mit dem Herzen; aber sie haben meine Wege nicht erkannt. So schwor ich in meinem Zorn: Wenn sie in meine Ruhe eingehen werden“ (
Christus den Rücken kehren, um Moses anzuhangen, war jetzt dasselbe, was von den Vätern in der Wüste getan wurde, die mit einem bösen, ungläubigen Herzen sich gegen den HERRN aufgelehnt hatten. Das wäre nichts anderes als Abfall vom lebendigen Gott; von Dem, der von Seinem Sohn Jesus Christus auf dem Berg der Verklärung, als Moses und Elias verschwanden, gesagt hatte: „Hört Ihn!“ Bemerkenswerter Ausspruch! Wie anderswo, zieht Paulus auch hier die Konsequenzen aus der Lehre, die gepredigt wurde.
„Ermuntert euch selbst ..., dass niemand von euch verhärtet werde durch Betrug der Sünde“, ruft Paulus ihnen zu. Die Sünde löst die Gemeinschaft mit Gott; wir haben nicht mehr dasselbe Bewusstsein von Seiner Liebe und Macht und dem Interesse, das Er an uns hat. Das Vertrauen schwindet; die Hoffnung und der Wert der unsichtbaren Dinge vermindern sich und die sichtbaren Dinge beginnen das Herz zu füllen. So wird das Gewissen befleckt; die Ruhe in Christus geht verloren, der Weg erscheint hart und mühsam. Der Eigenwille erhebt sich und so wird man allmählich dem Herrn entfremdet, endlich verhärtet und ist schließlich imstande, vom lebendigen Gott völlig abzufallen.
Es ist klar, dass wir hier nur über unsere Verantwortlichkeit reden und über die Gefahr, in die wir uns begeben, wenn wir auf irgendeine Weise von Gott abweichen. Es ist keineswegs die Rede von Gottes Treue. Diese bleibt beständig und wird nie zulassen, dass eins der Seinen umkomme. Wer Leben aus Gott besitzt, wird durch die Ermahnungen die in diesem Brief enthalten sind, und durch Züchtigungen zurückgebracht, wenn er abgewichen ist. Ist die Gemeinschaft bloß äußerlich, ohne Leben und wahren Glauben, dann wird das Gewissen nicht getroffen und man verlässt schließlich Gott.
Paulus denkt jedoch nicht daran, dass diese Gläubigen wirklich vom lebendigen Gott abfallen würden, aber er lässt sie, indem er so spricht, verstehen, welch schreckliche Folgen das Hören auf die Versuchungen Satans hätte, Er ermuntert sie, jeden Tag einander zu ermahnen, damit ja nicht einer von ihnen diesen verkehrten Weg einschlagen würde. Er ruft ihnen zu: „Denn wir sind Genossen des Christus geworden“ , als wollte er sagen: Wie sollten wir, da solch ein unaussprechliches Heil unser Teil geworden ist, uns davon abwenden, um zu den Schatten zurückzukehren!
Genossen von Christus sind wir. Von welchem Christus? Von Christus, wie Er hier auf Erden wandelte? Von Christus, hängend am Kreuz? Nein wir sind Genossen des auferweckten und verherrlichten Christus . Darum sind wir Teilhaber der himmlischen Berufung. Nicht auf der Erde, sondern im Himmel, nicht in Kanaan, sondern in Gottes Haus droben ist unser Vaterland, unser Heim, unsere Ruhe. Auf bemerkenswerte Art wird dies im folgenden Kapitel gezeigt und beschrieben.
Aber wir müssen auch bis zum Ende ausharren. Nur wer ausharrt bis ans Ende wird errettet werden. Wir müssen in der Laufbahn bis ans Ende verharren, um den Preis zu erringen. Niemand, der das Ziel erreichen will, bleibt unterwegs sitzen oder kehrt zurück. Die Gewissheit, auf dem rechten Weg zu sein, lässt uns bis ans Ende diesen Weg weitergehen. Sobald Unsicherheit unsere Seele verdunkelt, hören wir auf mit Weitergehen. Durch Unglauben waren die Israeliten, die mit Moses aus Ägypten ausgezogen waren, in der Wüste umgekommen, anstatt nach Kanaan hineinzugehen. Darin müssen wir uns prüfen, damit wir den Anfang des Vertrauens, als wir durch unsere Übergabe an Christus den Weg nach dem himmlischen Kanaan betraten, bis ans Ende unerschütterlich festhalten, da gesagt wird: „Heute, wenn ihr Seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht, wie in der Erbitterung.“
Beachtenswert ist das Wort „heute“, das mehrmals in diesem Teil unseres Briefes vorkommt. Es ist der Ausdruck der Langmut und Gnade Gottes gegenüber Seinem Volk bis zum Ende. Dieses „heute“ umfasst die ganze Zeit, in der wir leben, von der Verwerfung des Christus durch Israel und Seiner Erhöhung zur Rechten Gottes bis zu Seiner Wiederkunft – für uns, wenn wir in den Himmel aufgenommen werden; für den gläubigen Überrest in den letzten Tagen, wenn Jesus auf Erde erscheint mit großer Macht und Herrlichkeit. Israel als Volk war ungläubig; es verhärtete sich und wird sich verhärten bis zum Gericht. Dennoch, fährt Gott fort zu rufen: „Heute, wenn ihr Meine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht!“ Gottes Geduld und Langmut sind groß. Schon fast zwei Jahrtausende hat Er Seine Stimme hören lassen und gerufen: „Heute, wenn ihr Meine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht.“ Wer ist Ihm gleich? Möchten wir Seine Nachfolger sein und vollkommen sein gleichwie unser Vater, der in den Himmeln wohnt, vollkommen ist! Lasst uns zugleich, solange es „heute“ heißt, jeden Tag einander ermahnen, dass niemand von uns verhärtet werde durch Betrug der Sünde und dadurch vom lebendigen Gott abfalle!