Betrachtung über das Evangelium nach Lukas
Lukas 22 und 23
Diese Kapitel entsprechen im Allgemeinen den Kapiteln Matthäus 26 und 27 bzw. Markus 14 und 15, aber auch hier gibt es, wie schon immer, unterscheidende Merkmale und Mitteilungen.
Zu Beginn dieser ernsten Szenen berichtet der Heilige Geist die Tat des Judas, wie Er auch später die Verleugnung des Petrus erzählt, und zwar deckt Er Satan als die Quelle von beidem auf. Weder Matthäus noch Markus tun dies, während Johannes sogar mit noch größerer Deutlichkeit den wachsenden Einfluss Satans auf den Verräter erwähnt. Diese Unterschiede stimmen mit den Absichten des Geistes Gottes in den einzelnen Evangelien vollkommen überein. Matthäus und Markus berühren nicht die geheime Quelle des Bösen, weil sie in Israel wenig beachtet wurde. Lukas tut es, denn er hat größere, tiefere Grundsätze der Wahrheit im Auge, ebenso Johannes in noch stärkerem Maß, weil er weit mehr auf göttliche Dinge und geistliche Mächte eingeht als die anderen Evangelisten. Das erinnert uns an Hiob, in dessen Geschichte ebenfalls die Quelle der Versuchungen des Gläubigen in auffallender Weise bloßgelegt wird; der Ankläger tritt dort vor Gott gegen den Gerechten auf. So sehen wir Satan auch hier als den, der die Jünger zu sichten begehrt wie den Weizen, jedoch werden uns auch die Hilfsquellen unserer Sicherheit aufgetan, wenn der Herr sagt: „Ich aber habe für dich gebetet, damit dein Glaube nicht aufhöre.“ Das haben wir nicht im Buch Hiob.
Beachten wir weiter die Worte des Herrn, mit denen Er sich zum Passahmahl niedersetzt, die Fragen der Jünger untereinander in einem so ernsten Augenblick, wer von ihnen wohl der Größte sei, und die wunderbare, gnadenvolle Antwort des Herrn, Seine Aufforderung an die Jünger, ein Schwert zu kaufen, weil sie Kampf zu erwarten hatten, die Heilung des verwundeten Ohres, den Blick auf Petrus und die Versöhnung zwischen Pilatus und Herodes. Alle diese Mitteilungen sind kennzeichnend für Lukas und entsprechen ganz dem Charakter seines Evangeliums, weil sie uns die Übungen der Gnade des Herrn, aber auch die Wirksamkeit und die Gefühle der menschlichen Natur in den anderen zeigen.
Wir finden auch nur hier die Gemütsbewegungen der „Töchter Jerusalems“ erwähnt, was ebenfalls dem Geist des Lukas-Evangeliums angemessen ist. Diese Frauen nehmen einen besonderen Platz ein. Sie haben kein Teil mit denen, die den Herrn kreuzigen, stehen aber auch nicht auf einer Stufe mit den „Frauen von Galiläa“, die als Jüngerinnen des Herrn ihre fernen Häuser und ihre Verwandtschaft verlassen hatten, um Ihm zu folgen. Die „Töchter Jerusalems“ zerflossen beim Anblick Seiner Leiden in menschlichen Gefühlen, schlugen sich an die Brust und kehrten zurück, aber sie scheinen den Herrn weder als die Hoffnung ihrer eigenen Herzen noch als die des Volkes angenommen zu haben. Und doch scheint der Herr sie in Seiner Gnade als Beispiel des gläubigen Überrestes in den letzten Tagen anzuerkennen. Dieser kleine Vorfall zeigt uns aber auch, dass, mögen im eigenen Herzen noch so schmerzliche Gefühle sein, es eine Sache ist, dem Herrn Bewunderung zu zollen oder gar Tränen zu opfern, aber eine ganz andere, sich vor der anwesenden Welt mit Ihm durch Gutes oder Böses hindurch zu verbinden. Es ist eine Sache, von Ihm gut zu reden, aber etwas anderes, alles für Ihn aufzugeben.
Ebenfalls erwähnt nur Lukas die Fürbitte des Herrn am Kreuz für Israel: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“, wie auch die Buße und den Glauben des einen der beiden Übeltäter. Welche passenden, charakteristischen Ausdrücke der Gnade sind dies! In diesem Evangelium werden uns einerseits die Übungen des menschlichen Herzens in besonderer Weise vorgestellt, andererseits aber finden auch die Wege der göttlichen Gnade unter den Menschen durch die Liebe des Sohnes Gottes ihren passenden Ausdruck und ihre Entfaltung. Es ist angefüllt mit Enthüllungen des menschlichen Herzens, aber auch des gnadenreichen Tuns unseres Herrn, das der Finsternis und Bosheit des Menschen mit dem gesegneten Heilmittel Gottes selbst, dem Herrn Jesus, begegnet.
Die Bekehrung des sterbenden Räubers war eine erneute Erquickung für das Herz des Herrn, wie Er sie bereits durch den blinden Bettler und den Zöllner Zachäus erfahren hatte. Der Glaube dieses Mannes war ebenso kostbar wie der der beiden anderen. Welch ein vollkommener Lehrer war doch der Heilige Geist für ihn! In einem Augenblick sprang sozusagen „der Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi“ in seine Seele. Er erkannte sich selbst in seiner Schuld und dem völlig verdienten Gericht, aber auch den Herrn Jesus in Seiner Makellosigkeit und als den rechtmäßigen Besitzer eines Reiches. Er verstand in seinem Gewissen, dass seine einzige Zuflucht darin bestand, sich aus seinem eigenen Zustand der Schuld und Schutzlosigkeit in die Obhut und Herrlichkeit Christi zu flüchten.
Es ist oft gesagt worden, dass dieser arme Mann keine Frucht brachte, denn niemals tat er etwas für Christus. Aber, so möchten wir fragen, gibt es für Gott eine köstlichere Frucht als den Glauben? Keine Frucht des Glaubens verherrlicht Gott so, wie der Glaube selbst es tut, der Glaube an das Evangelium, an die Gnadenfülle und Würdigkeit Christi, weil er eine Offenbarung empfängt, die in der Seele alles das hervorbringt, was zum Lob Gottes dienen kann. Er öffnet den Zugang zu dem Zeugnis Gottes über Seinen geliebten Sohn, zu allen Mitteilungen, die Gott und alles, was Seiner würdig ist, verherrlichen.
Es ist Gottes Absicht, durch den Glauben „Den überragenden Reichtum seiner Gnade“ kundzutun (Eph 2,7), ja, Sich selbst zu offenbaren und in Seiner ganzen Schöpfung bekanntzumachen, wer Er ist und was Er ist, damit aufs Neue Seine eigenen Werke – jedoch herrlicher als früher – Seinen Ruhm verkünden. Wie wunderbar wurde diesem Vorsatz Gottes sowohl damals in der Seele des sterbenden Räubers als auch bis zum heutigen Tag durch die Verkündigung dieser herrlichen Bekehrung entsprochen! Fragen wir nicht, wie es manche tun, nach der Frucht des Glaubens bei ihm, sondern erkennen wir vielmehr in dieser Geschichte die Absicht Gottes, in dem Evangelium Seines geliebten Sohnes für ewig Sein eigenes Tun zu verkündigen. Zum Preis der Herrlichkeit seiner Gnade! Doch das nur nebenbei gesagt zu dieser kleinen Begebenheit, die für Lukas eigentümlich ist.
Als kleine Besonderheit sei noch erwähnt, dass Lukas der Einzige ist, der den Ort der Kreuzigung bei seinem griechischen oder heidnischen Namen „Schädelstätte“ nennt, und dass der Hauptmann dem Herrn Jesus hier das Zeugnis eines „gerechten Menschen“ gibt, während er Ihn in Matthäus und Markus als „Sohn Gottes“ bekennt.
Was uns aber in diesen Kapiteln vor allem bezeichnend erscheint, ist das Wort des Herrn am Kreuz: „Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist!“ Es ist insofern besonders bedeutungsvoll, als es uns zeigt, dass die Gefühle des Herrn in Seinen letzten Stunden von den verschiedenen Evangelisten nicht in gleicher Weise geschildert werden. In Matthäus und Markus haben wir den Schrei der tief empfundenen Einsamkeit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, diesen Ausruf des geschlagenen und zerschlagenen Lammes Gottes. Bei Johannes geht Er durch alles hindurch ohne jede Hinwendung zu Gott oder dem Vater; dort besiegelt Er einfach und gewissermaßen mit eigener Hand das vollendete Werk, indem Er sagt: „Es ist vollbracht!“ Aber hier, bei Lukas, befindet sich Seine Seele in einem Zustand, der zwischen diesen beiden Darstellungen liegt. Hier ist es weder das Gefühl des Verlassenseins, begleitet von dem ihm angemessenen Ruf nach Gott, noch das Bewusstsein göttlicher, persönlicher Autorität, sondern die Gemeinschaft mit dem Vater, der Ausdruck einer von Ihm abhängigen Seele, die sich Seines Beistandes und Seiner Annahme völlig gewiss ist.
Das steht auch in völligem Einklang mit unserem Evangelium. Es ist sozusagen dieser Mittelweg, den der Herr im Geist in allem durchschreitet. In Matthäus und Markus empfindet der Herr, dass Gott fern von Ihm ist, hier in Lukas weiß Er den Vater bei sich, während Er in Johannes Sich selbst Seiner göttlichen Würde bewusst ist. Alle diese Gedanken durchwehten in wunderbarer Vollkommenheit und Harmonie die Seele des Herrn während jener Stunden. Er war vollkommen in allen diesen verschiedenen Übungen des Herzens, und niemand anders als der Heilige Geist vermochte sie in ihrer Vielfalt durch die Feder aller vier Evangelisten, die von Ihm inspiriert waren, zum Ausdruck zu bringen. „Als mein Geist in mir ermattete, da kanntest du meinen Pfad“ (Ps 142,4).
Durch den Ausruf: „Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist!“ wird das selbstständige Leben des Geistes klar und in aller Form anerkannt. Der Herr übergab, als Er starb, Seinen Geist dem Vater, während Stephanus ihn später sterbend dem Herrn Jesus anbefahl, ein schönes Zeugnis dafür, dass beide, der Herr und Sein Diener, etwas erwarteten, was vorzüglicher als der Leib und unabhängig von ihm ist, einen Zustand des Geistes. Das war nicht die Erwartung des sterbenden Übeltäters, aber er erlangte es durch die überwältigende Gnade. Als Jude schaute er nach einem zukünftigen Reich aus, aber sein sterbender Herr verhieß ihm gegenwärtiges Leben mit Ihm im Paradies, denn „Leben“ wie auch „Unverweslichkeit“ (Unvergänglichkeit des Leibes) sind durch das Evangelium ans Licht gebracht worden (2. Tim 1,10).
Der Tod begrenzt die Herrschaft der Sünde und des Satans. Die Sünde herrscht zum Tod, das Gericht aber, das dem Tod folgt, gehört Gott. Bis zu diesem Punkt kann der Feind folgen, aber nicht weiter.
„Heute wirst du mit mir im Paradies sein“, sagt hier der Herr zu jemand, der gleich darauf das Tor des Todes durchschreiten sollte. Das Reich, das der Räuber erwartete und von dem er sprach, war jetzt noch nicht da, doch die gnädige Hand des Herrn war allein imstande und berechtigt, ihn zu führen. Wenn sie auch nicht sofort und unmittelbar in das verheißene Land führte, wo die „Stämme Jahs“ ihr ersehntes und bleibendes Erbteil in Besitz nehmen werden, so wird sie doch in Pfaden leiten, die dieser gütigen Hand angemessen sind, in Pfaden des Lichts und des Lebens. Denn Gott ist nur der Gott der Lebendigen, und „gar keine Finsternis ist in ihm“. Er ist der „Vater der Geister“, und sobald wir den Geist aufgegeben haben und durch den Tod gegangen sind, sind wir mit dem lebendigen Gott allein. Der Geist kehrt zu Ihm zurück, der ihn gegeben hat, und der Herr ruft uns zu: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und nach diesem nichts weiter zu tun vermögen.'«
Ist nicht der Herr selbst der Überzeugendste Beweis dafür, dass es so ist? Bezeugten nicht die zerrissenen Felsen, das geöffnete Grab und der zerrissene Vorhang, dass Er auf der anderen Seite des Todes der Sieger war? „Was er gestorben ist, ist er ein für allemal der Sünde gestorben; was er aber lebt, lebt er Gott.“ Dieser einzigen Hand, die uns dort entgegenkommt, können auch wir vertrauen. Sie mag uns – bis zur Auferstehung – zunächst ins Paradies führen, und nicht ins Reich, aber der Pfad wird Dessen würdig sein, der es uns öffnet. Sie leitete damals den sterbenden Räuber ins Paradies, an jenen Ort, wo Paulus Gesichte und Offenbarungen hatte, die er nach seiner Rückkehr zur Erde nicht wiederzugeben vermochte. In dieses Paradies gingen an jenem Tag ein sterbender Übeltäter und der sterbende Herr der Herrlichkeit! Welche erstaunliche Gesellschaft!
Paulus hielt es für besser, abzuscheiden und bei Christus zu sein. Er hatte das Paradies in gewissem Sinn bereits erlebt (2. Kor 12), und es mag für ihn eine Überraschung gewesen sein, dorthin gebracht zu werden. Wahrscheinlich hatte er keine Zeit, sich auf eine solche Reise vorzubereiten, die für ihn ein unbekannter, unbetretener Weg war. Aber dort empfing ihn eine Hand, die den Geist ohne Verwunderung leiten konnte. So ist es auch mit uns, wenn es sich um den plötzlichen, unerwarteten Tod eines Gläubigen handelt. Der, welcher die Hauptperson bei diesem Ereignis ist und der die Schlüssel des Hades und des Todes hat, kann nicht überrascht werden. Obwohl wir von dem Apostel hören, dass die Gesichte und Offenbarungen, die er dort empfing, für ihn ein Anlass zum Rühmen waren, so erhaben waren sie, sagt er doch nicht, dass sie zu groß oder zu hoch für ihn gewesen seien. Sein Geist war ihnen angepasst, denn Der, der diese Szene im dritten Himmel für ihn zubereitet hatte, bereitete auch ihn im gleichen Augenblick dafür zu. Kein Geringerer als Gott selbst hat uns für die Auferstehung in verherrlichten Leibern passend gemacht und uns das Unterpfand des Geistes gegeben. „So sind wir nun allezeit guten Mutes und wissen, dass wir, während wir einheimisch in dem Leib sind, von dem Herrn ausheimisch sind; ... wir sind aber guten Mutes und möchten lieber ausheimisch von dem Leib und einheimisch bei dem Herrn sein“ (2. Kor 5,6–8).
Unsere Begegnung mit dem Tod oder – was er für uns ist – der Eintritt in das Paradies ist völlig verschieden von dem, wie Christus ihm begegnete. Wir erfahren ihn als Schmerz und Trübsal im Fleisch, die der Feind, wenn möglich, zu unserem Schaden benutzt, während Gott daraus Segen und Lob hervorkommen lässt. Vor uns liegen keine drei Stunden der Finsternis, sondern wir dürfen das Bewusstsein einer Liebe haben, die stärker ist als der Tod. Er aber musste diese Zeit als die Stunde „der Gewalt der Finsternis“ erfahren, wovon Er in unserem Evangelium spricht (Kap. 22,53), und den gerechten Vollzug der Strafe erleiden, die wir uns vor alters zugezogen hatten: „… denn an dem Tag da du davon isst, musst du sterben.“ Das war der Kelch, den Er trank, dieser bittere Kelch, den Er in Gethsemane schmeckte und auf Golgatha leerte. Es ist für uns, die wir Ihn lieben, gesegnet zu wissen, dass auch der „Becher der Rettungen“ Sein Teil ist, den Er später im Reich nehmen wird, wenn Er die Lobgesänge der Versammlung im Heiligtum der Herrlichkeit anstimmt.
Es ist ein lieblicher Gedanke, der uns mehr mit Freude erfüllen sollte, dass in der Hand des Sohnes Gottes jede Sache erhöht und ausgezeichnet wurde. Alles, was wir verdorben und ruiniert hatten, wurde von Ihm wiederaufgenommen und erhielt unter Seiner Hand einen Charakter, den wir ihm nie hätten geben können. Das von uns gebrochene Gesetz wurde durch Ihn wieder zu Achtung und Ehren gebracht, und alle menschliche Zierde, jede Frucht des menschlichen Bodens, wurde Gott durch Ihn frischer und lieblicher dargeboten, als wir sie je hätten darbringen können. Jeden Dienst tat Er in Vollkommenheit, jeder Sieg wurde glorreich errungen, Gott zum ewigen Ruhm. Und was die Widmung für Gott betrifft, welches Bitten und Flehen stieg einst am Tag Seiner Leiden und Schmerzen zu Gott empor! Aber welches Lob wird Er auch hiernach anstimmen, wenn Er den „Becher der Rettungen“ nehmen wird! Wo hätte es jemals Tempel gegeben, die ein solcher Weihrauch erfüllte, wie ihn der Sohn Gottes darbrachte? Welche Opfer hat unser Gott doch in Seinem Heiligtum entgegennehmen können! Das zu wissen, ist für uns sicherlich sehr erquickend und tröstlich, denn diese Tempel wurden inmitten unserer Trümmer errichtet.
Solche Gedanken steigen in uns auf, wenn wir an jenen Kelch denken, den der Herr Jesus hier trank, aber auch an den anderen, den Er für den Augenblick ablehnte, um ihn später im Reich zu nehmen. Bevor wir weitergehen, möchte ich aber gerade hier noch einmal betonen, dass, wo immer wir irgendetwas für Lukas Eigentümliches in diesem Teil seines Evangeliums beobachten, es stets mit den Absichten und Gedanken des Geistes in ihm übereinstimmt. Der Stoff ist selbstverständlich in allen Evangelien der gleiche, denn alles ist Tatsache und Wahrheit, nur werden uns die Gedanken Gottes über alles in so mannigfaltiger Weise mitgeteilt.