Betrachtung über das Evangelium nach Lukas
Lukas 21
Im vorigen Kapitel sahen wir den Herrn Israels, den Herrn der Erde und ihrer Fülle, von den Bewohnern der Erde verworfen. Der sie einst mit einem Tag des Friedens heimgesucht hatte, nahm nun Seinen Platz zur Rechten der Macht ein und wartet auf den Tag, da Er sie mit Gericht heimsuchen wird (Kap. 20,42). Das 21. Kapitel berichtet nun ausführlicher über alle die Folgen, die sich für Israel und Jerusalem aus der Verwerfung ihres Königs ergeben, d. h. über „die Zeiten der Nationen“, wo Israel unterdrückt sein wird, und über den Abschluss dieser Zeiten durch die Wiederkunft des Sohnes des Menschen.
Das Kapitel hat seine Parallele im Großen und Ganzen in Matthäus 24 und 25 und in Markus 13, aber gleich zu Beginn haben wir, neben anderen Unterschieden, eine kleine Begebenheit, die wieder typisch für Lukas ist.
Die arme Witwe steht im Gegensatz zu der Masse des Volkes, zumindest zu jenen, die in ihrem irdischen Wohlstand und ihrer eigenen religiösen Wichtigtuerei als seine Vertreter gelten konnten. Der Herr selbst gibt ihr diesen Platz, und wie der Herr Israels diese beiden hier beurteilt, so hatten es die Propheten vor Ihm getan. Sie sahen das Volk in seiner Abtrünnigkeit, in seiner Mitte aber auch den Überrest, gleich den Zweien an der Mühle oder auf dem Feld, wovon wir bereits gesprochen haben. Denn in den letzten Tagen, wenn die Dinge Israels wieder Gegenstand göttlicher Aufmerksamkeit sind, werden diese beiden noch einmal geoffenbart werden.
Es fiel dem Herrn nicht schwer, von den reichen Wohltätern in dieser Szene zu der Witwe mit ihren zwei Scherflein überzugehen. Wir kennen Seine Gesinnung zu gut, als dass wir nicht wüssten, dass es nicht anders sein konnte. Sein Geist in dem Propheten Jesaja (Kap. 66,1.2) spricht einen ähnlich wunderbaren Gedanken aus. Er blickt auf den Elenden, auf den, der zerschlagenen Geistes ist, und wendet sich lieber ihnen zu als all den glänzenden Werken Seiner eigenen Hand. Die Himmel und die Erde waren, sind und werden Seine Wonne und Herrlichkeit sein, aber lieber will Er auf „diesen“ blicken, der Seine innigsten Zuneigungen hervorruft.
Welch ein Trost ist das, und wie gut verstehen es unsere Herzen! Denn was unsere Gefühle anspricht und anrührt, liegt uns tatsächlich näher als das, was unserem Vorteil dient. Jemand, der in den äußeren Dingen des Lebens unsere Interessen wahrnimmt, steht unseren Herzen nicht so nahe wie einer, der sich zu uns setzt und in unsere Gefühle und Gedanken eingeht. So ist es auch bei unserem Gott. Himmel und Erde, die Seinen Ruhm verkünden, treten zurück vor einem gedemütigten Sünder, der vor Seinem Wort zittert. Ihm gilt Gottes ganze Zuneigung. Wer wünschte wohl, dass es anders wäre, und wer vermöchte zu ermessen, welch ein Trost für uns darin liegt?
Es ist bereits darauf hingewiesen worden, wie geschickt der Herr in Kapitel 4,19–21 bei der Anführung von Jesaja 61 mit den Worten abbricht: „... auszurufen das angenehme Jahr des Herrn“, weil Er von den darauf folgenden Worten: – „und den Tag der Rache unseres Gottes“ nicht sagen konnte: „Heute ist diese Schrift vor euren Ohren erfüllt.“ Sein Dienst für Israel war ein Dienst der Gnade, nicht des Gerichts. Aber jetzt, in diesem Kapitel, setzt Er sozusagen Sein Zitat fort, indem Er den „Tag der Rache“ ankündigt, damit, wie Er in Vers 22 sagt, „alles erfüllt werde, was geschrieben steht“, nicht nur Einiges.
Dieser Tag der Rache für Israel erstreckt sich in gewissem Sinn über die ganzen gegenwärtigen „Zeiten der Nationen“. Die kritischen Ereignisse der letzten Tage sind charakteristisch für die ganze Zeitperiode, denn der Herr nennt sie „Tage der Rache“, obwohl ein besonderer Zeitabschnitt am Ende „der Tag der Rache“ und Heimsuchung sein wird, wie ihn der Prophet bezeichnet (Jes 34 und 63). Diesen ganzen Zeitabschnitt, die traurigen und bösen Tage für Jerusalem während der „Tage der Rache“ oder der „Zeiten der Nationen“, stellt der Herr hier vor unsere Blicke, mehr noch als in den entsprechenden Kapiteln bei Matthäus und Markus. Deshalb gebraucht unser Evangelist den allgemeineren Ausdruck „Wenn ihr aber Jerusalem von Heerlagern umzingelt seht“, statt „den Greuel der Verwüstung“ (Mt 24,15 und Mk 13,14), womit der letzte Feind Jerusalems geschildert wird. Auch die Anführung „aller Bäume“ in Verbindung mit dem „Feigenbaum“ in dem Gleichnis bezeugt den allgemeineren Charakter dieses Evangeliums und die ausführlichere Darstellung der Trübsale Jerusalems, die der Herr hier gibt. Tatsächlich finden wir nur bei Lukas den Ausdruck „Zeiten der Nationen“.
Wenn der Herr in dieser Weise einen weiten Vorausblick auf die Leiden Jerusalems tut, so empfangen wir beim Lesen den bestimmten Eindruck, dass Er die Seinen vor dem Gedanken zu bewahren beabsichtigte, das Reich Israels würde sofort und in aller Stille kommen. Er sagte ihnen im Gegenteil, dass sie darauf nicht hoffen sollten, denn bevor das Reich aufgerichtet werden konnte, mussten Gerichte und Trübsale kommen. Mochten auch einige sagen: „Die Zeit ist nahe gekommen“, andere wiederum: „Ich bin es“, oder mochte auch derselbe Verführer beides sagen (V. 8), der Herr warnt Seine Jünger davor. Die Bürger hatten den ihnen angebotenen König gehasst und sich als Seine Feinde erwiesen; daher müssen sie erschlagen werden, ehe das Reich völlig erscheinen kann. Der große Zweck der Rede des Herrn war, in den Herzen der Jünger einen tiefen Eindruck von diesen Dingen zu hinterlassen, damit sie an dem bösen Tag zu stehen vermöchten, um nicht von irgendwelchen Friedenspropheten verführt zu werden.
Daniel überblickt in gleicher Weise diese ganze Zeit, die „Zeiten der Nationen“, und zwar in demselben Charakter. Er bezeichnet sie als „Krieg“. Allerdings hat das Ende dort ein besonderes Gepräge; es wird sich kundtun „Durch die überströmende Flut“, wie er es nennt, aber das Ganze ist ein „Krieg, Festbeschlossenes von Verwüstungen“, bis auch „Festbeschlossenes über das Verwüstete ausgegossen“ wird (Dan 9,26.27).
Es ist sehr bezeichnend, dass der Evangelist Johannes diese bemerkenswerten Prophezeiungen überhaupt nicht erwähnt, wohingegen Matthäus und Markus mehr die letzte, große jüdische Trübsal oder die „Zeit der Drangsal für Jakob“ (Jer 30,7) und Lukas ausführlicher „die Zeiten der Nationen“ schildern. Der feierliche Einzug des Herrn als König in Jerusalem vollzieht sich bei Johannes in völlig anderer Art als in jedem der vorhergehenden Evangelien. Die Griechen, die die anwesenden und unterworfenen Nationen darstellen, kommen und wünschen Ihn zu sehen, wodurch Seine Gedanken in eine ganz andere Richtung gelenkt werden. Seine Seele wird bestürzt, und kurz darauf kündigt Er das Gericht der Welt und des Fürsten dieser Welt an, nicht dagegen das Gericht Israels entsprechend dem Charakter dieser Weissagung. Und schließlich spricht Er in Seiner großen Gnade von Sich als dem Heiland der Welt und dem an das Kreuz Erhöhten; Er bezeichnet Sich als das Licht der Welt und als Den, der gemäß dem Ihm vom Vater gegebenen Gebot redet, das ewiges Leben ist (Joh 12).
Das alles ist außerordentlich charakteristisch für die vier Evangelien und lässt uns leicht erkennen, dass diese Prophezeiungen, die wir nicht bei Johannes finden, jüdische Dinge betreffen und mit der Wiederkunft des „Sohnes des Menschen“ auf die Erde in Verbindung stehen. Sie bilden nicht die Erwartung der Kirche oder Versammlung. Die Gläubigen unserer Tage erwarten das Herabkommen des „Sohnes Gottes“ aus dem Himmel in die Luft (l. Thes 1,10), während die jüdischen Auserwählten später auf die Tage des Sohnes des Menschen warten werden.
Die Klagelieder Jeremias sind der passende Ausdruck des Mitgefühls des Herzens gegenüber Jerusalem und ihren Kindern während der „Zeiten der Nationen“. Die Stadt „sitzt“ noch „einsam“, und der Berg Zion ist noch verwüstet. Die Krone ist gefallen, und die Freude des Herzens hat aufgehört. Das Gericht über die Ungerechtigkeit in dem Land und seinem Volk ist noch nicht abgeschlossen, Rahel weint noch. Doch „der Herr verstößt nicht auf ewig“ (Klgl 3,31), denn zu Rahel ist einst gesagt worden: „Halte deine Stimme zurück vom Weinen und deine Augen von Tränen; denn es gibt Lohn für deine Arbeit, spricht der Herr, und sie werden aus dem Land des Feindes zurückkehren“ (Jer 31,16).
Aber wir haben hier noch einen anderen, für Lukas ebenso eigentümlichen Ausdruck, der hoffnungsvollere Aussichten eröffnet. Wenn der Herr von dem Ende der jüdischen Drangsale spricht, sagt Er: „Wenn aber diese Dinge anfangen zu geschehen, so blickt auf und hebt eure Häupter empor, weil eure Erlösung naht.“
Zu sagen: „Die Zeit ist nahegekommen“, bevor irgendeine Trübsal kommen konnte, würde Täuschung sein, wie wir sahen. Wenn man aber, sobald der Tag der Rache seinen Höhepunkt erreicht hat, sagt: „Eure Erlösung naht“, so wird dies für die Gläubigen in jenen Tagen einen zeitgemäßen, kostbaren Trost bedeuten. In der gleichen Weise, wie es der Herr hier tut, verbinden auch die Propheten den „Tag der Rache“ mit dem „Jahr meiner Erlösung“ (Jes 63,4). Beides, sowohl Gericht über das abtrünnige Volk als auch Befreiung und Freude, stehen dem Überrest bevor. Denn obwohl Gott „den Garaus machen wird allen Nationen“, wird Er Israel „nicht den Garaus machen“ (Jer 30,11). Die verheißenen „Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge“ werden bestimmt den angekündigten „Zeiten der Nationen“ folgen. Und jene verheißenen Zeiten der Wiederherstellung, hier von dem Herrn „eure Erlösung“ genannt, werden das wahre jüdische oder irdische Jubeljahr sein, das früher in besonderer Weise die Zeit der Wiederherstellung oder Erlösung war (3. Mo 25).
In Israel gehörten das Land und das Volk dem Herrn, und im Jubeljahr behandelte Er beides als Sein Eigentum. Neunundvierzig Jahre erlaubte Er, dass Verwirrung herrschte. Das Land konnte verkauft und das Volk selbst zum Gläubiger werden, aber nur eine Zeit lang, denn Gottes Rechte waren übergeordnet, und jedes fünfzigste Jahr wollte Er sie geltend machen. Israelit mochte mit Israelit Handel treiben und die ursprüngliche Ordnung verderben oder aus Gottes Welt die Welt des Menschen machen. Aber dieser ganze Verfall und diese Besitzumkehrung sollten ein Ende haben, das mit der Wiederkehr des Jubeljahres kam. Dann erhob Gott sich sozusagen, um nach Seinen eigenen Grundsätzen zu handeln und Seine eigenen Rechte geltend zu machen. Alles Unheil, das des Menschen Tun angerichtet hatte, wurde wiedergutgemacht und Land und Volk entsprechend dem ursprünglichen Zustand unter Gottes Hand zurückgebracht. Seine Hand hatte dann den Vorrang, und Seine Ordnung und Seine Gedanken sollten öffentlich geschaut werden. Welche Freude ist es zu sehen, dass der Augenblick, wo die Dinge wieder unter Gottes Hand kommen und wir selbst uns in Seiner Welt befinden, ein Jubelfest sein wird, eine Zeit der Freude und der wiederherstellenden Gnade, wo jeder zu seiner Familie und in seinen Besitz zurückkehren wird!
Wie gesegnet ist es, um bei dem Vorbild dieser Verordnung zu bleiben, Gott dann wieder als den Herrn der Erde zu sehen! „Glückselig das Volk, dem es so ergeht“'« (Ps 144,15). Das Jubeljahr wurde durch den Versöhnungstag eingeleitet (3. Mo 25,9). Das ist der Tag, der das tausendjährige Zeitalter eröffnen wird. Nichts anderes als das Werk des Lammes Gottes kann für uns die Grundlage irgendwelcher Freude oder Befreiung sein. Sein kostbares Blut ist unser ganzer Rechtstitel. Deshalb sind Jubeljahr und Erlösung miteinander verbunden, sodass es ein Ausblick auf jenes Jubeljahr Israels und der Erde ist, wenn der Herr hier sagt: „Eure Erlösung naht.“ Es ist Gottes Erlösung für Sein Volk und Land. Da bisher kein Verwandter dazu imstande oder willens war, wollte Gott selbst im fünfzigsten Jahr sowohl Seine Rechte ausüben als auch Seine Hilfsmittel zugunsten Seines unterdrückten Landes und geknechteten Volkes einsetzen. So war das Jubeljahr „das Jahr meiner Erlösung“ oder die Zeit der „Erlösung“, auf die der Herr die Augen des wartenden, leidenden Überrestes lenkt.
Dann hören wir, dass „dies alles geschehen soll“; die „Tage der Rache“, die „Zeiten der Nationen“, werden ihren Lauf nehmen, aber darauf folgt die „Erlösung“. Zuerst kommt der „rauchende Ofen“, weil die Rechte und Ansprüche des Herrn von den aufrührerischen Bewohnern dieser Welt verachtet worden waren und kein „Sohn des Friedens“ in des Menschen „Stadt der Verwirrung“ war, aber ebenso sicher wird die „Feuerflamme“ folgen (l. Mo 15). Die Bürger hatten eine Gesandtschaft hinter dem Herrn her geschickt und Ihm sagen lassen, dass sie Ihn nicht haben wollten, sodass Er sie bei Seiner Rückkehr mit Seinem Zorn heimsuchen muss, ehe Er das Jubeljahr verkündet, das Sein Werk krönen und vollenden wird.
Das ist Nahrung für die Hoffnung, denn Gott ist der Gott der Hoffnung. Ohne Gott sein heißt ohne Hoffnung sein (Eph 2,12). Wir können keinen Glauben haben, ohne auch Hoffnung zu haben, weil die Wahrheit, die wir glauben, die Wahrheit Gottes ist, und Gott gibt uns keine Wahrheit, die nicht auch Hoffnung in uns hervorruft. Er muss Seinen Offenbarungen diesen Charakter geben. Er berief Israel aus Ägypten, aber Er verhieß ihm auch Kanaan. So ist es auch mit uns. Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, ... rühmen wir uns in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes“ (Röm 5,1.2).
Das ist ganz gewiss. Gott ist der Gott der Hoffnung, aber auch der Gott des Heils. Die ganze Darstellungsweise dieses Kapitels deutet an – was uns ganz allgemein in der Schrift auffällt –, dass die Ermunterung der Hoffnung in der Schrift verhältnismäßig wenig Raum einnimmt, obwohl sie kostbar ist. Das ist indessen nur ein neuer Beweis für die Vollkommenheit der göttlichen Aussprüche, weil Gott selbst der Gegenstand unserer Betrachtungen sein will. Wir werden aufgefordert, vor allen Dingen Ihn selbst kennenzulernen, und dann erst das Erbteil oder die Herrlichkeit, die Er uns gibt.
Das ist auch richtig so. Denn wenn wir die Vortrefflichkeit oder den Wert einer Person voll und ganz kennen, werden wir auch völlig überzeugt sein, dass wir durch sie keinen Verlust erleiden werden. Christi Charakter verbürgt unsere Hoffnung und ist die Gewähr für die Gewissheit unserer Erwartungen, ja, wir tun Ihm sogar unrecht, wenn wir von Ihm nichts erhoffen. Wäre der Mensch der Verfasser der Schriften, würden sie ganz anders aussehen, sie wären angefüllt mit Beschreibungen der verheißenen Freuden. Selbst die Geschichte unseres teuren Herrn, hätte ein Mensch sie geschrieben, würde sich mit langen Beschreibungen und Lobreden über Sein Leben und Seinen Charakter beschäftigen. Aber die Art und Weise derer, die durch die Inspiration des Heiligen Geistes von Ihm geredet haben, ist dem ganz entgegengesetzt. So ist es auch mit unserer Hoffnung.
Betrachten wir die Geschichte Hiobs! Wir haben lange Berichte über seine Leiden und die Prüfungen seines Glaubens, aber die Freude und Würde, womit alle jene Trübsale endeten, füllen nur ein kurzes Kapitel. Ohne Frage ist die Beschreibung seiner Stellung am Ende seiner Geschichte herrlich, aber doch verhältnismäßig kurz und schnell abgetan. So gibt uns auch das Wort Gottes im Allgemeinen umfangreiche und häufige Belehrungen über das Böse in dieser Welt und die sich für uns daraus ergebenden Glaubensprüfungen, aber die Hoffnungen unserer Herzen werden nur sparsam genährt. Denn Er selbst ist es, mit dem wir uns jetzt beschäftigen und von dem wir uns nähren sollten.
Das vorliegende Kapitel trägt diesen Stempel. Leiden und Prüfungen beherrschen in großem Maß die Szene, aber der Ausblick am Ende, was sich bald erfüllen wird, wird nur kurz in den Worten zusammengefaßt: „Hebt eure Häupter empor, weil eure Erlösung naht!“