Betrachtung über das Evangelium nach Lukas

Lukas 19,1-27

Betrachtung über das Evangelium nach Lukas

Jede einzelne Station auf dem Weg des Herrn wird hier genau verzeichnet. Wir sehen Ihn jetzt durch Jericho hindurchziehen, nachdem Er sich im vorigen Kapitel dieser Stadt genähert hatte, und dann geht Er von Jericho nach Jerusalem, vor deren Toren Er noch einen Augenblick verweilt, bevor Er die Stadt betritt. Die Szenen, die die Prüfung und Überführung Jerusalems beenden, werden, wie auch in Matthäus und Markus, genau geschildert. Sie bilden den Gegenstand dieser beiden Kapitel (bei Matthäus sind es die Kapitel 21–23 und bei Markus das 11. und 12. Kapitel).

Die Berichte haben wieder die für Lukas charakteristischen Merkmale. Die Bekehrung des Zachäus, eine kleine Erzählung, die eindrucksvoll das Werk Gottes in der Seele eines Menschen schildert, ist für Lukas eigentümlich. Ihr folgt das Gleichnis von den Talenten oder dem hochgeborenen Mann, der in ein fernes Land reiste, das Matthäus in anderer Verbindung bringt. Hier sind die beiden Szenen zusammengestellt, um die unterschiedlichen Zwecke des ersten und des zweiten Kommens des Herrn zu erläutern.

Wie bereits mehrmals gesagt, ist es die Absicht des Geistes Gottes im Lukas-Evangelium, Umstände und Dinge so miteinander zu verbinden, dass sich daraus sittliche Belehrungen für Herz und Gewissen ergeben und Grundsätze oder Wahrheiten des Reiches illustriert werden. Das Gleichnis von der Hochzeit des Königssohnes wird hier weggelassen und im Einklang mit dem Charakter des Evangeliums an geeigneter Stelle, nämlich im 14. Kapitel, gebracht. Dort trägt es einen allgemeineren oder moralischen Charakter, während es an dieser Stelle eine strengere Anwendung auf die Juden gefunden hätte. Ebenso finden wir hier nicht das Gleichnis von dem unfruchtbaren Feigenbaum, und auch das Urteil über Jerusalem ist weniger ausführlich und vollständig.1

Zachäus war, wie wir in der letzten Betrachtung sagten, eine der Ermunterungen, die durch die Gnade des Vaters der schwergeprüften Seele Christi auf Seinem augenblicklichen Weg nach Jerusalem zuteil wurden. Der Herr nimmt diese Erquickung an, denn Er sagt selbst von der Bekehrung des Zöllners, dass sie den Zweck seines Kommens erfülle, und ohne Frage wird Er etwas von der Frucht der Mühsal Seiner Seele genossen haben. Die Art dieser Bekehrung ist einfach und lieblich. Die Kühnheit des Glaubens ist ebenso bemerkenswert wie in dem Fall des Blinden. Zachäus ist taub gegenüber den beleidigenden Bemerkungen einer gerechten oder moralischen Welt, wie es der blinde Bettler für ihre religiöse Förmlichkeit und Vorsicht war. Die Frucht der Gemeinschaft mit Christus offenbart sich lebendig und köstlich an dem Ort, wo der Herr dem überführten Sünder das Unterpfand Seiner Gunst schenkt.

Das dieser wunderbaren Geschichte folgende Gleichnis erläutert, wie wir klar erkennen können, den großen Zweck des zweiten Kommens des Herrn. Die Propheten hatten die beiden Ereignisse nicht so deutlich unterschieden. Ihre Prophezeiungen über das Kommen des Messias reden gleichzeitig von Gnade und Herrlichkeit. Das 61. Kapitel des Propheten Jesaja ist ein Beispiel dafür. Die Gnade, die Rache und das Reich werden in unmittelbarer Aufeinanderfolge erwähnt. Die Lobgesänge und Prophezeiungen bei der Geburt des Herrn in unserem Evangelium bezeugen dasselbe (Kap. 1 u. 2). Aber die Notwendigkeit dieser zwei Kommen des Herrn ergibt sich rein äußerlich aus dem Unglauben Israels und der Verwerfung seines Königs. Wir sagen äußerlich, weil selbstverständlich Gott alles im Voraus bekannt war. Die Geschichte Christi als „der Stein“, wovon wir in dem Gleichnis von den Weingärtnern eine Andeutung finden, zeigt uns gerade die beiden Kommen nach diesem Grundsatz und die darauf folgende Rache, welche das zweite Kommen begleiten wird.

Fußnoten

  • 1 Wir sahen im Verlauf dieser Betrachtungen – wie wir es auch hier bei dem Gleichnis von den Talenten oder zehn Pfunden wieder finden –, dass Lukas die Ereignisse und Reden nicht in genauer Zeitfolge bringt, weil sein Zweck sittlicher Art ist. In Psalm 105 und 106 beobachten wir dasselbe. Auch dort sind die Absichten des Geistes Gottes nicht geschichtlicher, sondern moralischer Natur, nämlich den Herrn in Seinem Handeln mit Israel zu rechtfertigen und Israel von seinem Tun dem Herrn gegenüber zu überführen. Der Psalmist bringt die Ereignisse nicht in zeitlicher Reihenfolge, er spricht von der Plage der Finsternis, vor der der Hundsfliegen und von Korahs Empörung schon vor dem goldenen Kalb. Das entspricht genau dem Geist des Lukas-Evangeliums.
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