Betrachtung über das Evangelium nach Lukas
Lukas 17,20 bis 18,8
In diesem Abschnitt stellt der Herr als der große Lehrer zu unserer Unterweisung einen neuen Gegenstand vor unsere Blicke: das „Reich Gottes“. Hierüber redet Er nun in Beantwortung einer Frage der Pharisäer. Wir hören nichts über die begleitenden Umstände, weder wann noch wo es war. Solche Bemerkungen liegen, wie wir schon öfter sagten, nicht in den Absichten des Geistes Gottes in diesem Evangelium. Dagegen sind die Belehrungen des Herrn über diesen Gegenstand selbst recht ausführlich.
Die Art Seiner Antwort hier bestätigt aufs Neue, was wir bereits früher bei ähnlichen Gelegenheiten sahen (Kap. 13). Der Herr wendet Sich in Seiner Antwort an das Gewissen und gibt Belehrungen, die weniger die Frage selbst beantworten, sondern mehr dem moralischen Zustand des Fragestellers angepasst sind. Zu diesem Zweck teilt Er hier das Wort recht unter die verschiedenen Zuhörer, denn in Vers 22 wendet Er sich von den Pharisäern zu den Jüngern; Er stellt beiden das Reich Gottes verschieden dar. Die Antwort an die Pharisäer entspricht ihrem Herzenszustand, während Er Seinen Jüngern die notwendige „Speise zur rechten Zeit“ für ihre erneuerte Gesinnung und entsprechend ihrer wachsenden Aufnahmefähigkeit gibt. „Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen“, sagt der Herr ein andermal. Auch Paulus beantwortete in der Weisheit des Geistes Christi nicht die Wissbegierde der neugierigen Athener, sondern tat ihnen die ernsten Dinge Gottes kund, die Buße und das Gericht.
Der Gegenstand der kurzen Ausführungen des Herrn ist das „Reich Gottes“. Dieser Ausdruck kennzeichnet eine Haushaltung göttlicher Kraft, wie der Apostel sagt: „Das Reich Gottes besteht nicht im Wort, sondern in Kraft“ (l. Kor 4,20). Es ist die Ausübung oder Darstellung der alle Verhältnisse beeinflussenden Kraft Gottes.
Das Reich Gottes hat verschiedene Gestalten, eine Wahrheit, die der Herr Jesus uns an dieser Stelle mitteilt. Er belehrt uns, dass dieses Reich nicht „Essen und Trinken“ ist, sondern „Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist“, aber später, in „den Tagen des Sohnes des Menschen“, wird es in Herrlichkeit und Macht geoffenbart werden. Im Evangelium Johannes spricht der Herr ebenfalls von diesen beiden Formen des Reiches, jedoch in anderen Ausdrücken, als wir sie hier haben. Wir meinen Sein Zeugnis vor Pilatus, wo Er sich selbst als „König der Juden“ bekennt, aber gleichzeitig dem Römer klarmacht, dass dieser Charakter Seiner Macht im Augenblick nicht zur Darstellung kommen konnte, sondern einstweilen eine andere Gestalt annehmen musste, nämlich die des „Zeugnisses der Wahrheit“ (Joh 18).
So ist es auch hier. Jetzt ist es das Reich „mitten unter euch“, und später wird es das Reich „in den Tagen des Sohnes des Menschen“ sein. Die Herrlichkeiten gehören demselben Jesus, aber sie sind verschieden voneinander. Jetzt ist es eine verborgene, innere Herrlichkeit im Heiligen Geist, die Herrlichkeit eines Heiligtums, die nur von Gott und den Anbetern gekannt wird. Später wird es eine sichtbare Herrlichkeit sein, eine Herrlichkeit auf Erden, die von einem Ende des Himmels bis zum anderen gesehen wird.
Nachdem der Herr diese beiden Arten des Reiches dargelegt hat, geht Er weiter und sagt, was geschehen müsse, bevor es diese zweite Gestalt annehmen könnte. Er belehrt Seine Jünger, dass Er selbst „zuvor ... vieles leiden“ müsse, sie selbst aber „begehren“ würden und „allezeit beten und nicht ermatten sollten“ (Kap. 17,22.25; 18,1). Sie sollten an abgeschiedenen Plätzen verweilen, auf dem Dach und auf dem Feld, wie einst Isaak und später Petrus (l. Mo 24; Apg 10).
Dann so ganz nebenbei sagt Er ihnen, dass unmittelbar vor der Offenbarung des Reiches in seiner sichtbaren Gestalt die Welt sich in einem Zustand der Ausschweifung und des Wohllebens befinden würde, wie in den Tagen Noahs und Lots, und dass infolgedessen jene „Tage des Sohnes des Menschen“ über sie so überraschend wie ein Blitz hereinbrechen würden. Aber dann wird auch mit einsichtsvoller Gerechtigkeit unterschieden werden zwischen Mensch und Mensch, zwischen denen, die in entschiedener und treuer Erwartung und im Gebet verharren, und anderen, die im Pflanzen und Bauen, im Kaufen und Verkaufen, dem Gewinn der Arbeit ihrer Hände, ihre Befriedigung suchen und finden.
Jesaja scheint die Zwei auf dem Bett, an der Mühle und auf dem Feld an diesem Tag des Herrn prophetisch vorauszusehen (Kap. 3,10.11; 33,14–16), und auch Maleachi schaut diesen Tag der Unterscheidung, an welchem dieselbe Sonne für die einen mit „Heilung in ihren Flügeln“ aufgehen und für die anderen brennen wird „wie ein Ofen“. Dieser Tag des Herrn wird ein Tag der Scheidung oder des Gerichts sein: „Einer wird genommen und der andere gelassen werden.“
Indessen gibt es noch einen dritten Zustand. In den Zeiten Lots gab es nicht nur Lot und das Volk von Sodom, sondern auch Lots Frau. Sie kam nicht in Sodom um, sondern zwischen Sodom und Zoar. Für sie war der Auszug aus Sodom Verbannung, nicht Befreiung! Für viele Israeliten in der Wüste hatte die Trennung von Ägypten den gleichen Charakter. Daraus ergibt sich für uns eine ernste, praktische Frage: Wie denken wir in unseren Herzen über die Trennung von der Welt? Betrachten wir sie als eine Verbannung, oder schätzen wir sie als eine Erlösung? Lobsingen wir bei diesem Gedanken, wie Israel am Roten Meer, oder gedenken wir, wie das Volk später, der Fische, der Zwiebeln, des Lauchs und der Gurken Ägyptens? Lots Frau schaute zurück und wurde zu einer Salzsäule, sie seufzte wie eine aus Sodom Verbannte. Jubeln wir als Erlöste des Herrn, die von der Welt befreit sind? „Erinnert euch an Lots Frau!“ sind die ernsten Worte des Herrn in dieser Rede über das Reich Gottes, und diese feierliche, ernste Warnung sollte sich auf unsere Herzen legen.
Der Herr belehrt uns ferner, dass das Reich Gottes, in welcher Gestalt es auch sei, nicht dem „Siehe hier!“ oder „Siehe dort!“ des Menschen unterworfen ist. Es macht sich selbst bekannt, denn es ist eine Eigenschaft der Kraft, sich selbst zu offenbaren, wie der Herr von dem Sachwalter in uns sagt: „Ihr aber kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein.“ Auch Paulus war sich seiner Gegenwart völlig bewusst. Nachdem der Sohn Gottes in ihm geoffenbart worden war (Gal 1,15), zeigte sich seine innere Kraft, die ihn für Gott absonderte.
Erfüllt mit dieser neuen und wunderbaren Freude, ging er, wie einst Abraham, aus Heimat und Verwandtschaft fort. Er brauchte weder ein menschliches Siegel für seine Berufung noch menschliche Hilfe für seine Glückseligkeit. Er ging weder mit Fleisch und Blut zu Rate, noch zog er nach Jerusalem hinauf zu denen, die vor ihm Apostel waren, als bedürfte er ihrer Bestätigung. Statt zu den Säulen der Versammlung und nach der Stadt der feierlichen Bräuche, ging er nach Arabien hinab, wo die Einsamkeit einer Sandwüste seiner wartete. Denn der Sohn war in ihm geoffenbart worden, seine Berufung war besiegelt, und seine Hilfsquellen waren ihm von Gott selbst geöffnet worden. Daher war er unabhängig von menschlicher Bestätigung und menschlichen Hilfsmitteln. Gott war sowohl sein Zeugnis als auch sein Teil (Gal 1).
Wie wenig kennen wir diese göttliche Unabhängigkeit von den Menschen! Darunter sollten wir uns tief demütigen. Jerusalem den Rücken zu kehren und geradewegs nach Arabien zu gehen, wäre das nicht ein wenig zu viel für uns? Ist das Reich in uns so mächtig, haben wir solche Freude und Kraft in Gott, dass „Fleisch und Blut“ nicht mehr unsere Hilfsquellen sind? Was würden unsere Herzen empfinden, wenn nur Sand und Wüste vor uns lägen? Die erste Freude der Sohnschaft in Paulus machte ihm jeden Platz auf der Erde gleich wichtig, und diese erste Freude sollte auch stets in uns sein bis zum Ende.
Das Gleichnis von der zudringlichen Witwe beschließt diese Unterweisungen. In uns mag die Frage aufsteigen: Woher kommt dieser Schrei der Auserwählten bei Tag und Nacht? Die Gläubigen, die jetzt gesammelt werden, sollten sich über das Zögern des Herrn freuen, weil es für die anderen Errettung bedeutet. Aber der jüdische Überrest in den letzten Tagen wird nach dem Erscheinen des Herrn, des gerechten Richters, rufen, und der Herr scheint ihn besonders im Auge zu haben, wenn Er dieses Gleichnis erzählt. Allerdings gibt es im gewissen Sinn auch einen Schrei des Blutes Abels (l. Mo 4, 10) und einen Schrei Sodoms (l. Mo 18,20). Wir hören in Jakobus 5,4 auch von einem Schrei der Arbeiter wegen des ihnen vorenthaltenen Lohnes, ja, selbst Steine können für das Ohr Gottes eine Stimme haben (Hab 2,11; Lk 19,40).
Nachdem der Herr Seinen Auserwählten diesen hohen Platz vor Gott gegeben hat, einen Platz der Anrechte und Vorrechte, schließt Er mit Worten, die geeignet sind, sie zur Vorsicht zu mahnen und sie zu veranlassen, mehr auf sich selbst zu sehen als auf ihre Vorrechte und Kräfte. „Doch wird wohl der Sohn des Menschen, wenn er kommt, den Glauben finden auf der Erde?“ Das war die Art und Weise eines vollkommenen Lehrers. Er vermischt die glänzenden Lichter mit den dämpfenden und verleiht so unserem Verhalten einen Charakter der Heiligkeit, aber gleichzeitig ermahnt Er uns, was die Ausübung unseres erhabenen Dienstes betrifft, zur Selbstbeurteilung in Demut.