Betrachtung über das Evangelium nach Lukas
Lukas 5
Wir kommen jetzt zum 5. Kapitel, dessen Inhalt wir im Allgemeinen auch in anderen Evangelien finden. Ich möchte daher nur auf das eingehen, was für Lukas charakteristisch ist.
Unser Evangelist befasst sich, wie schon bemerkt, weniger mit den äußeren Umständen, wie z. B. mit der chronologischen Reihenfolge oder dergleichen, sondern er stellt die Ereignisse nach sittlichen Gesichtspunkten zusammen, beschäftigt sich mit Menschen und Grundsätzen. So tun wir es ja mitunter auch. Wenn jemand einem anderen bestimmte Ereignisse erzählt, um ihn damit bekannt zu machen, so wird er alle Einzelheiten, auch die über Zeit und Ort, gewissenhaft berichten. Will er die Geschehnisse jedoch nur dazu benutzen, bestimmte Grundsätze und Wahrheiten zu illustrieren, so wird er auf diese Dinge weniger Sorgfalt verwenden. So haben wir in diesem Kapitel eine Szene, die zeitlich weit vor den im vorigen Kapitel geschilderten Ereignissen liegt. Die Berufung Simons zum Menschenfischer erfolgte tatsächlich vor der Heilung seiner Schwiegermutter (siehe Mt 4,18; 8,14 und Mk 1,16.30), aber hier bei Lukas wird sie hinterher berichtet (vgl. Lk 4,38 mit 5,1). Die zeitliche Reihenfolge ist nichts für Lukas, denn seine Absicht ist nicht festzustellen, was zuerst geschah, sondern uns Grundsätze in den Beziehungen zwischen Gott und den Menschen vorzustellen. Dementsprechend enthüllt er uns in der Berufung Simons große moralische Grundsätze, welche die anderen Evangelisten nicht erwähnen, während die Umstände für ihn unwesentlich sind.
Das ist in der Tat bemerkenswert. Sein Bericht gibt uns das Bild eines Menschen, der in Wahrheit unter die Macht Gottes gebracht wird. Normalerweise gibt es in einem Fischzug, mag er noch so erfolgreich und unerwartet sein, nichts, was mit der Überführung von Sünde zu tun hätte, wohl aber in den Wegen Gottes. Denn stets führt die Erkenntnis Gottes zur Buße oder zur Erkenntnis der Sünde. Nur im Licht Gottes können wir uns selbst wirklich kennenlernen. Schon in früheren Zeiten war es das allgemeine Urteil aller gottesfürchtigen Männer, dass sie nicht Gott sehen und leben konnten. Seit Adam und Eva sich aus der Gegenwart Gottes unter die Bäume des Gartens zurückzogen, waren sie von diesem Bewusstsein erfüllt. Manoah glaubte, dass er sterben müsste, weil er Gott gesehen hatte. Gideon glaubte dasselbe. Hesekiel fiel auf sein Angesicht und Daniels Gesichtsfarbe veränderte sich bis zur Entstellung, als sie mit der Herrlichkeit Gottes in Berührung kamen. Jesaja erkannte die Unreinheit seiner Lippen, als er den Herrn der Heerscharen, den König, sah. Auf diese Weise – durch Gott – lernten sie sich selbst wahrhaft kennen und verstanden, dass sie an die Herrlichkeit Gottes nicht heranreichten (Röm 3,23).
So war es jetzt auch bei Petrus. Die Herrlichkeit Gottes kam ihm ganz nahe, während andere sie gar nicht wahrgenommen haben mögen. War für einen tüchtigen Fischer ein großer Fischfang mehr als ein glücklicher Wurf? Aber dem Ohr eines von Gott geleiteten Menschen erzählen kleine Umstände oft große Dinge. Ein Loch in der Mauer genügte, um einen Propheten große Greuel sehen zu lassen (Hes 8), und für einen anderen Propheten war eine Wolke, nicht größer als die Hand eines Menschen, der Vorbote großer Werke Gottes (1. Kön 18). Und weil der, welcher der Fülle des Sees befahl, nun vor Petrus saß, wurde ein Fischfang für ihn zur Offenbarung der Herrlichkeit Gottes. Und kaum umstrahlte Petrus diese Herrlichkeit, als er sich selbst erkannte, und er verabscheute sich in Staub und Asche.
Diese Selbsterkenntnis im Licht Gottes bewirkt wahre Buße. Wir mögen manche Seite unserer befleckten Geschichte lesen und uns ihrer schämen, wenn wir aber uns selbst im Licht der Herrlichkeit und Gegenwart Gottes betrachten, werden wir durch den Heiligen Geist zur Buße geführt. Wir erfahren, dass wir schwarz sind, wenn die Sonne uns bescheint (Hld 1,5.6), wenn die sengenden Strahlen der Herrlichkeit über uns aufgehen wie hier über Petrus.
Wir möchten hinzufügen, dass wir auch Gott kennenlernen, wenn wir uns auf diesem Weg selbst erkennen. Wenn auch unsere Übertretungen und Torheiten uns viel über uns selbst mitteilen, so lernen wir uns doch erst völlig im Licht der Herrlichkeit Gottes kennen. So erzählen uns auch die Werke Gottes viel von Ihm, Seiner Macht und Göttlichkeit, aber was Er ist, erkennen wir erst dann in Wahrheit, wenn wir Ihn durch die Finsternis unserer eigenen Ungerechtigkeit schauen. Dann sehen wir Ihn auch im Angesicht Jesu Christi, wie Er für uns, die Sünder, Vorsorge trifft, indem Er unsere Schuld und Schande für immer wegwälzt in die unendlichen Reichtümer Seiner Gnade. So lernte auch Adam Gott kennen. Das Sechstagewerk Gottes zeigte Adam nicht alles das, was Gott für ihn bereit hatte und was Er für ihn war. Erst seine Übertretung offenbarte die ganze Fülle der Reichtümer Gottes. „Er wird dir den Kopf zermalmen, und du wirst ihm die Ferse zermalmen.“ Der Same der Frau war ein Geheimnis, das die Schöpfung nicht offenbart hatte. Das war ein Schatz, der größer war als die Früchte des Gartens und der durch eine die Sünde überströmende Gnade Adams Reichtum ausmachte. Nicht durch das Werk von Schöpferhänden lernte Adam Gott so kennen, das war die Folge des Geheimnisses von Tod und Leben. Wir sehen uns selbst und unsere ganze Finsternis im Lichtglanz der göttlichen Herrlichkeit und erfahren Gott in Seiner Güte durch die Schlechtigkeit unserer eigenen Sünde.
Sind dies nicht gesegnete Wahrheiten, in die uns der Evangelist hier einführt? Diese Szene ist charakteristisch für Lukas und in völliger Übereinstimmung mit den Absichten des Geistes Gottes, der unseren Herrn als den großen Lehrer vorstellt, der sich mit den Herzen und Gewissen von Menschen, mit Wahrheiten und Grundsätzen beschäftigt. Hier möchten wir noch bemerken, dass Petrus durch das Sinken des Schiffes nicht beunruhigt wird, wie er sich später vor dem Sinken fürchtete (Mt 14). Hier empfindet er es nicht und wird es gar nicht gewahr, weil seine Seele voll anderer Gedanken und sein Auge mit ganz anderen Dingen beschäftigt ist, sodass bei ihm gar kein Raum für Gedanken an sich selbst oder gar für Furcht ist. Das ist in der Tat auch das beste Heilmittel für Zweifel, Furcht und Bestürzung. Wie schade ist es, dass dieses frische, lebendige Gefühl von der Fülle, die in dem Herrn Jesus ist, wieder erkalten sollte! Später fürchtete Petrus die Wasser, weil sein Blick weniger auf Christus gerichtet war. Wie beschämend und demütigend ist das! Und haben nicht die Besten von uns darin gefehlt? Selbst David, der unter den Erlösten des Herrn einen so ehrenvollen Platz einnimmt und der einst als schmächtiger Jüngling einem Riesen zurief: „An diesem Tag wird der Herr dich in meine Hand überliefern“, sprach später in seinem Herzen: „Nun werde ich eines Tages durch die Hand Sauls umkommen.“ Sauls Hand, die David fürchtete, war nicht so groß wie die Hand Goliaths, die er verachtete. Christus stand nicht mehr so groß und mächtig vor seinem Glaubensauge wie vorher im Terebinthental. Wie gut, dass Einer im Leben und im Tod beständig blieb zum vollkommenen Wohlgefallen und Lob Gottes!
Auf die weiteren Einzelheiten dieses Kapitels wollen wir nicht eingehen, da wir sie im Allgemeinen auch in anderen Evangelien haben. Jedoch am Schluss des Kapitels finden wir noch einige wenige Worte, die typisch für unseren Evangelisten sind und die ich deshalb erwähnen möchte: „Niemand will, wenn er alten Wein getrunken hat, neuen, denn er spricht: Der alte ist besser.“
Diese Worte stehen in Übereinstimmung mit dem Charakter dieses Evangeliums, weil sie ein anderes großes Geheimnis der menschlichen Natur offenbaren: die Macht menschlicher Gewohnheiten und Bindungen, die die Wirksamkeit Gottes in der Seele so sehr behindern. Wir haben den alten Wein getrunken – das, was das Fleisch für uns von Geburt an bereitet hat –, der uns das Verlangen nach dem neuen Wein – das, was der Sohn Gottes außerhalb von Natur und Fleisch mit Sich brachte – raubt. Wir alle haben das wohl erfahren. Der Prophet sagt: „Kann ein Kuschit seine Haut wandeln, ein Leopard seine Flecken? Dann könntet auch ihr Gutes tun, die ihr Böses zu tun gewöhnt seid“ (Jer 13,23). Und hier warnt uns der große Prophet mit gleicher Weisheit: „Niemand will, wenn er alten Wein getrunken hat, neuen.“
Geliebte, das ist eine ernste Warnung. Alle Dinge sind bei Gott möglich, das ist wahr, und Er gibt mehr Gnade. Aber wir tun doch gut, uns vor dem Genuss des alten Weines in Acht zu nehmen. Jeder Gedanke, den wir dulden, und jeder Wunsch, dem wir nachgeben, schmeckt entweder nach dem alten Wein oder nach dem neuen. Es ist entweder ein Schluck von dem einen oder von dem anderen, mag er noch so klein sein, der in dem Herzen und Gewissen eines jeden von uns ernste Gedanken aufkommen lässt. Wir sollten uns den ganzen Tag hindurch fragen: Woran denke ich, was koste ich jetzt? Treibe ich Vorsorge für das Fleisch, oder ist es ein Wandel im Heiligtum, kommt es vom Himmel oder von der Hölle? Oftmals muss der Gläubige am Ende eines Weges zu seiner tiefen Beschämung feststellen, dass er dem Fleisch nachgegeben hat. Am Anfang war Noah, der Patriarch, nicht betrunken, aber „er fing an, ein Ackersmann zu werden, und pflanzte einen Weinberg“, und dann trank er von dem Wein. „Ist dein Knecht ein Hund, dass er diese ... Sache tun sollte?“ mag die Seele entrüstet antworten, aber wenn die verborgenen Lüste eines Hundes geduldet werden, wird zu seiner Zeit seine verderbliche Wut hervorbrechen. „Wandelt im Geist“ heißt der göttliche Schutz, „und ihr werdet die Lust des Fleisches nicht vollbringen.“ Zweifellos wird ein wenig dieses Wandels im Geist unsere Sprache verändern, sodass wir dann sagen: Der neue Wein ist besser. Das ist es, was unser hochgelobter Herr wünscht. Die heilige, wachsame Gewohnheit, das Fleisch, seine Leidenschaften und Lüste zu verleugnen, wird das Verlangen nach diesem neuen, besseren Wein frisch und lebendig erhalten. Hierzu wolle die sanfte und mächtige Hand des Geistes unsere Seelen leiten!