Bemerkungen über den Brief an die Kolosser
Kolosser 1,9-18
In der bisherigen Betrachtung haben wir gesehen, wie der Apostel reden konnte von den Wirkungen des Evangeliums von dem Tage an, da sie (die Kolosser) es gehört und die Gnade Gottes in Wahrheit erkannt hatten. Mit der Gnade ist es anders als mit dem Gesetz. Die zehn Gebote tragen hauptsächlich verneinenden Charakter. Das Gesetz behandelt zum größten Teil das, was böse ist, und verurteilt es. Das Evangelium dagegen offenbart Christus als eine Kraft, die lebendig macht, und die sowohl stärkend als fruchtbringend wirkt. Da es ein Lebenselement ist, breitet es sich aus und wächst, ebenso wie es Frucht hervorbringt. „Es ist fruchtbringend und wachsend… von dem Tage an, da ihr es gehört habt ...“
Aber nun fährt der Apostel fort:
„Deshalb hören auch wir nicht auf, von dem Tage an, da wir es gehört haben (gehört von diesem lebendigen, der Kraft des Evangeliums gegebenen Zeugnis), für euch zu beten“ (Vers 9)
— welch schöner Ausdruck der Liebe des Apostels, die ihn trotz der Befürchtungen, die er mit Recht betreffs der in Kolossä vorhandenen Neigungen hegte, nur umso mehr ins Gebet für sie trieb! —
„und zu bitten, auf dass ihr erfüllt sein möget mit der Erkenntnis seines Willens“.
Erkenntnis Seines Willens? Sie hatten eher das Gegenteil davon gezeigt. Sie hatten bewiesen, dass in ihrem Herzen eine Leere war, die sie vergeblich mit gesetzlichen Vorschriften und mit Philosophie auszufüllen gesucht hatten. Es ist so: Nichts als eine einsichtsvolle und wachsende Bekanntschaft mit Christus kann das erneuerte Herz befriedigen. Die Gnade selbst, die die Seele erlöst, wird zu einer Gefahr, sofern nicht Christus selbst der festgehaltene, gewohnte Gegenstand ist. Die durch das Evangelium gebrachte Freiheit kann gar dazu missbraucht werden, die Dinge leicht zu nehmen und an der Welt mehr oder weniger festzuhalten oder ihr Zugang zu gewähren. Wo das aber der Fall ist, da wird die Seele selten ein größeres Maß geistlichen Genusses haben, und nie wird ein steter, wahrhafter Friede ihr Teil sein. Im Gegenteil, die Seele wird auf diese Weise unstet und unsicher.
Ein derartiger, Schwankungen unterworfener Zustand mag eine Zeitlang andauern, bis Gott in Seiner Gnade das Werk im Herzen vertieft. Die Kolosser befanden sich in gewisser Hinsicht in einem solchen Zustand. Sie waren nicht gleichmäßig zu einer völligeren Erkenntnis des Willens Gottes fortgeschritten. Infolgedessen fand Satan Mittel und Wege, sie zu beunruhigen. Sie hatten die erste kostbare Entfaltung der Gnade erfahren. Es war Wirklichkeit für sie gewesen, aber nicht tief gegangen. Überdies ist, „die Gnade Gottes in Wahrheit erkannt haben“, nicht dasselbe, wie „erfüllt sein mit der Erkenntnis seines Willens“.
Das Gesetz vermag derartiges niemals auch nur im geringsten zu geben. Bei ihm handelt es sich eigentlich nur um ein gerechtes, dem Willen des Menschen auferlegtes Verbot. Nur ein einziges unter den Geboten — ich meine die Verordnung über den Sabbat — trägt nicht ausgesprochenermaßen diesen Charakter, der nie die Wege eines Christen zu bilden vermag. Was wir nötig haben, ist, dass der Mensch mit allem, was gut ist, sittlich verbunden werde. Wie aber kann das geschehen? Alles nur in Christus und durch Ihn. Wie Christus Leben mitteilt, so kommt auch von Ihm das Erfülltwerden mit dem Willen Gottes „in aller Weisheit und geistlichem Verständnis“. Der Gläubige wird von Gott nicht wie ein Ross oder wie ein Maultier behandelt, das keinen Verstand hat, sondern wie ein vernünftiges und geliebtes Wesen, das in die Gemeinschaft mit Gott gebracht ist. Er wäre kein erlöster Mensch, wenn sein eigener Wille ihn beherrschte. Vom eigenen Willen beherrscht sein, ist aber das gerade Gegenteil vom Erfülltsein mit der Erkenntnis des Willens Gottes. Daher betet der Apostel für sie, dass sie dies sein möchten.
Im Brief an die Epheser war es für den Apostel nicht wie hier erforderlich, die Erkenntnis des Willens Gottes für die Gläubigen zu erbitten, obwohl wir in wunderbaren Ausdrücken von diesem Willen lesen. (Kap. 1.) Es gab bei ihnen ein Erfassen mit dem Herzen, welches es unnötig machte, dass der Apostel in diesem Sinn für sie betete. Den Ephesern wünschte er einerseits ein reiches inneres Genießen Christi, damit sie erfüllt sein möchten zu der ganzen Fülle Gottes — „mit Kraft gestärkt durch seinen Geist“. Aber das Erfülltwerden mit der Erkenntnis Seines Willens, wie wir es hier haben, hat es offenbar mit dem praktischen Wandel zu tun, denn der Apostel setzt hinzu: „um würdig des Herrn zu wandeln“.
Mit anderen Worten: Im Kolosserbrief haben wir einen wichtigen praktischen Hinweis auf den Wandel. Es handelt sich da mehr um das Heranbilden des Kindleins, um die Kräftigung und Leitung von jemand, der noch schwach auf den Füßen ist, um ihm weiterzuhelfen, während wir im Epheserbrief die Mitteilungen haben, die der Gott und Vater Jesu Christi Seinen Kindern macht, die nun nicht länger Kindlein, sondern Erwachsene sind. Daher ist dort von Familienbeziehungen die Rede, von Gefühlen, Zuständen, Interessen, Verantwortlichkeiten, und was dergleichen mehr ist. Die Kolosser waren irregeleitet worden durch die Gedankenwelt von Lehrern, die selber weit abgeirrt waren. Obgleich die dortigen Gläubigen ernst gesinnt waren, so war doch etwas da, das ihr Auge trübte. „Wenn dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib licht sein.“ Hieran fehlte es. Sie mussten von ihren eigenen Gedanken geleitet worden sein, anders hätten sie sicherlich diese falschen Begriffe verworfen.
Es ist eine einfache, aber sehr beachtenswerte Wahrheit, dass das, was den Gläubigen als Gottes Wille vorgestellt wird, notwendigerweise ihren Sinn bilden und folglich auch ihren Wandel als Christen gestalten wird. Wenn ich in Bezug auf die Gedanken Gottes oder auf Gegenstände, die Er im Auge hat, irregeleitet werde, so wird die Auswirkung praktisch überaus verderblich sein. Und die Sache ist umso ernster, je weiter das Irreleiten geht. Aber der Apostel hatte für die Kolosser gebetet und tat das auch weiterhin, damit sie erfüllt sein möchten mit der völligen Erkenntnis Seiner selbst. Ich hege nicht den geringsten Zweifel, dass in dieser Stelle an den Gegensatz gedacht ist zu dem Wandel eines Menschen, der sich, wie hingebend er auch sein mag, doch noch unter Gesetz befindet. Je mehr der Christ den Willen Gottes erkennt, der ebenso gut wie heilig ist, desto mehr wächst seine Glückseligkeit und auch seine Kraft, während demgegenüber das Gesetz sich so auswirkt, dass ein elender Zustand die Folge ist und ein Überführtwerden von der großen vorhandenen Schwachheit. Wäre ein tiefes Bewusstsein von der Gegenwart Gottes bei uns vorhanden, so würde es zweifellos nicht viel ausmachen, mit wem wir zusammen sind, ob mit Weltmenschen oder mit Kindern Gottes, abgesehen davon, dass natürlich ein Unterschied in unserer Einstellung ihnen gegenüber besteht, entsprechend ihren Beziehungen zu Gott oder ihrer Unwissenheit über Ihn. Tatsache aber ist, dass wir immer tief beeindruckt werden durch den Umgang, den wir haben. Wir beeindrucken unsere Umgebung und werden durch sie beeindruckt. Solange nun Christus als der Geoffenbarte vor der Seele steht, wird der Wandel des Gläubigen dementsprechend sein, und zwar genau in dem Maß, in dem er praktisch seinen Beziehungen zu Christus entspricht. Wenn ich meine Stellung als mit Ihm verbunden kenne und Er dann der Gegenstand meines Herzens ist, und wenn ich Ihn zugleich als mein Haupt und meinen Bräutigam kenne, so muss ein ganz und gar anders gearteter Wandel das Ergebnis sein. Maß und Charakter des Wandels bei Kindern Gottes werden gebildet durch das Maß unserer Bekanntschaft mit Christus, wobei natürlich das Fleisch genügend gerichtet werden muss, um die Bekanntschaft zu genießen.
Sehr bemerkenswert scheint mir, dass der Apostel trotz allem, was bei den Kolossern vorlag, zunächst nicht an die Dinge berührt, betreffs derer ein Mangel bei ihnen zu Tage getreten war. Erst in der Mitte des zweiten Kapitels teilt er ihnen offen mit, worin sie zu tadeln waren. Lasst uns diesen wichtigen Umstand beachten, denn wenn unser Ziel wirklich das Wohl und die Befreiung der Seelen ist, und wir ihnen zu helfen wünschen, so gilt es zu erkennen, was der Weg Gottes ist, um den Seelen zu begegnen und ihnen behilflich zu sein, den Fallstricken zu entrinnen. Der beste Weg, dies zu lernen, ist, der Leitung des Heiligen Geistes nachzuspüren, wie sie in Schriften, wie der vorliegende Brief, in Erscheinung tritt, und sich nach ihr zu richten. Nur mit Beschämung im Blick auf unser eigenes so häufiges Benehmen gegen andere können wir die wunderbare Gnade und die Langmut des Apostels betrachten, die er anwendet, um schließlich auf seinen eigentlichen Gegenstand zu kommen. Die von ihm angewandte Langmut ist so groß, dass man von Anfang des Briefes an fast denken möchte, die Kolosser hätten sich in einem ganz ausgezeichneten Zustand befunden. Überaus behutsam geht der Schreiber vor, um ganz allmählich an das heranzukommen, was ihn beschwerte und sie beschweren musste. Er legt sozusagen Stollen und Minen an, um die Festung einzunehmen. Es ist langsame, aber sichere Arbeit.
Beachtenswert ist auch der Ausdruck: „Um würdig des Herrn zu wandeln zu allem Wohlgefallen.“ Es heißt nicht: „würdig des Evangeliums“, oder: „würdig unserer Berufung“. So steht es nicht an dieser Stelle. Die Epheser waren sich klar über die bösen Einflüsse, die es in dieser Hinsicht gab. Sie konnten daher nach Belieben unterwiesen werden über die Berufung Gottes, mit der sie berufen worden waren. Daher die Ermahnung, „dass sie würdig der Berufung wandeln möchten“ usw. Aber an die Kolosser schreibt er: „würdig des Herrn“. Es würde ihnen nicht so leicht fallen, sich von den Wirkungen freizumachen, die die Folge ihrer Beschäftigung mit Philosophie und gesetzlichen Verordnungen waren. Die Epheser waren von diesem Irrtum verschont geblieben. Deshalb werden sie ermahnt, dessen würdig zu wandeln, was sie als ihre Stellung erkannt hatten.
Dem Hinweis des Apostels auf den Herrn, dessen sie würdig wandeln sollten, entspricht auch das Maß: „Zu allem Wohlgefallen“, denn dieser Ausdruck bedeutet nicht: uns oder anderen zu gefallen, sondern: Ihm zu gefallen. Da haben wir wieder den ganzen Unterschied zwischen dem, was hier in Frage kommt, und dem Gesetz. Denn das Gesetz verlangt genau so und so viel und nicht mehr. Die Wege der Gnade dagegen sollten unbegrenzt sein. Da heißt es: „würdig des Herrn zu allem Wohlgefallen“. Darum fügt der Apostel unmittelbar hinzu: „in jedem guten Werk fruchtbringend“. Alles hier ist positiv, nicht nur negativ, wie die Forderungen des Gesetzes. „Wachsend durch die Erkenntnis Gottes“, scheint hier der Hauptgedanke zu sein. Er bezieht sich auf das Mittel, durch welches das christliche Wachstum bewirkt wird. In Verbindung hiermit scheint mir der Ausdruck „Weisheit und geistliches Verständnis“ ein Wahrnehmungsvermögen zu bedeuten für das, was gut und weise in den Augen Gottes ist, abgesehen davon, dass es sich dabei um Sein ausdrückliches Gebot handelt. So kann ich einfach deswegen etwas tun, weil ein anderer es wünscht, und das ist natürlich richtig in Fällen, in denen rechtmäßige Autorität vorhanden ist. Zum Beispiel: Mein Vater mag mich dies oder jenes tun heißen, und ich folge der Aufforderung, ohne das Warum zu kennen. Aber hier zeigt mir mein Vater gleichzeitig die Wichtigkeit der Sache. So erkennt „die Weisheit“ die Schönheit und das Angemessene der Sache, und „das geistliche Verständnis“ macht die rechte Anwendung davon. Die eine (die Weisheit) erfasst die Ursache, während das andere (das geistliche Verständnis) mit der Wirkung beschäftigt ist. Hier haben wir wiederum den großen Unterschied zwischen Evangelium und Gesetz. Ob jemand in den Sinn des Gesetzes eingeht oder nicht — er gehorcht einfach, weil Gott befiehlt. Ein solcher Gehorsam erhebt sich aber nicht zu der Natur des Gehorsams eines Christen, der die Entfaltung der Gedanken Gottes in Christus genießt: er sieht nicht nur Gottes Autorität, sondern nimmt auch ihren bewunderungswürdigen, vollkommenen Charakter sowie ihre gnadenvollen Wirkungen wahr. Es ist ganz richtig, dass ein Untertan, ein Knecht, ein Minderjähriger gehorchen lernt, wäre es auch nur um des Gehorchens selbst willen. Aber das ist nicht der christliche Grundsatz. Der Gehorsam eines Christen ist nicht das Leiten Blinder durch Blinde, noch das Leiten Blinder durch Sehende. Er umfasst weit mehr. Es ist das Leiten Sehender durch Sehende. Nicht nur werden Menschen lebendig gemacht und tragen Frucht. Sie wachsen außerdem noch durch eine tiefere Erkenntnis Gottes selbst oder wachsen in eine solche hinein. Diese sich vertiefende Bekanntschaft mit Gott, die neben der Erkenntnis Seines Willens herläuft, ist etwas sehr Wichtiges auf dem Pfade des Gehorsams. Man kennt Gott besser; man geht besser in Seinen Charakter ein; man lernt vertrauter mit Ihm werden. Eine andere Sache von großer Bedeutung ist, dass nicht nur wachsende Erkenntnis vorhanden ist, sondern ein Gekräftigtwerden mit aller Kraft nach der Macht Seiner Herrlichkeit; nicht, wie Luther übersetzt, nach „Seiner herrlichen Macht“, sondern nach der Macht Seiner Herrlichkeit. Das ist der Gedanke hier. Er setzt voraus, dass die Herrlichkeit Christi eine höchst entschiedene Wirkung hat. Sie ist das Mittel, durch das Kraft bewirkt oder mitgeteilt wird.
Wenn ich auf Christus blicke, wie Er hier auf der Erde war, so sehe ich Ihn in Schwachheit und Schande und Verwerfung, dabei aber voll der tiefsten Gnade, und dies nirgends mehr als am Kreuze; und obgleich wir nicht auskommen, ohne Ihn so zu betrachten — denn in Wahrheit ist Christus überall unaussprechlich kostbar und unbedingt nötig für uns —, so besteht doch für den Christen das Mittel, um „Kraft“ zu finden, in dem Schauen auf den Auferstandenen und verherrlichten Christus. Ohne Zweifel weckt der Gedanke an den Christus, der einst hienieden in dieser Welt war, die Zuneigung des Herzens, geradeso wie das Kreuz der Gewissensnot begegnet. Aber keins von beiden kann aus sich selbst Kraft geben; keins ist von Gott dazu bestimmt, uns alles das darzureichen, was wir in dieser Hinsicht brauchen. Das ist der Grund, dass die, welche Christus überhaupt kennen, wohl Leben und Segnung in Ihm finden werden, aber niemals Kraft, wofern der irdische Pfad Christi alles ist, was ihre Herzen beschäftigt. Was ist es denn, das in dieser Hinsicht unserem Bedürfnis entspricht? Wir finden es in 2. Korinther 3: „Wir alle, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit“ (V. 18). Hier haben wir das, was Kraft gibt fürs Leben. Die Frage nach Kraft ist nur in Verbindung mit Seiner Herrlichkeit zu lösen. Handelt es sich dagegen um Mitleid (vgl. Hebr. 4, 15), so steht dies immer in Verbindung mit Seinem Leben hienieden. So ist im Hebräerbrief z. B. wohl von Christus als zur Rechten Gottes befindlich usw. die Rede, aber hauptsächlich doch in Verbindung mit dem Gedanken, dass Er der ist, welcher von Mitgefühl bewegt wird im Blick auf unsere Schwachheiten, indem Er einst in allem versucht worden ist wie wir, ausgenommen die Sünde. Das ist überaus tröstlich in Bezug auf die Kraft des Mitleids. Ewiges Leben und Kraft sind zwei sehr verschiedene Dinge. Manche kennen nur den einen Gedanken, Christus als ihrem Vorbild nachzufolgen. Das ist natürlich bewundernswert; aber wo soll die Kraft dazu herkommen? Zuerst muss ich in Verbindung mit Gott sein, um ewiges Leben zu besitzen; und dann ist Kraft nötig. Sie zu empfangen bin ich aber nicht eher in der richtigen Verfassung, als bis ich die Erlösung durch das Blut Christi kenne. Und Kraft ist allein zu finden in dem auferstandenen und verherrlichten Christus. Die Kraftquelle liegt nicht darin, dass man auf das schaut, was Er hienieden war, sondern darin, dass man von der Herrlichkeit weiß, die in Ihm ist. Die Macht dieser Herrlichkeit muss mein eigenes Herz erfüllen und mir die Gewissheit geben, dass ich bei Ihm sein werde. Ist dies der Fall, so werde ich nicht vor der Verwerfung zurückschrecken, die Christi Teil hienieden war, „gekräftigt“, wie ich bin, „zu allem Ausharren und aller Langmut mit Freuden“. Es ist eine böse Welt, die wir zu durchschreiten haben, aber wir besitzen ein wundervolles Geheimnis: wir haben das Bewusstsein einer besseren Segnung, die wir in Christus besitzen. Möge man mir deshalb die Bemerkung gestatten: unser Durchschreiten der Welt sollte in geradem Gegensatz zu dem eines Menschen stehen, der mit gesenktem Kopf durch die Prüfung geht. Es sollte vielmehr, entsprechend der Macht Seiner Herrlichkeit, ein Durchschreiten mit Freuden sein,
„danksagend dem Vater, der uns fähig gemacht hat zu dem Anteil am Erbe der Heiligen in dem Lichte“ (Vers 12).
Dazu sind wir schon gegenwärtig fähig gemacht. Anteil an dem Erbe der Heiligen in dem Lichte haben, ist ein überaus wunderbares Vorrecht. Aber der Apostel zögert nicht, es von diesen Kolossern zu behaupten, von Leuten, die er im nächsten Kapitel mit allem feierlichen Ernst zu tadeln im Begriff stand. Ihnen schreibt er, der Vater habe uns fähig gemacht zum Anteil am Erbe der Heiligen in dem Licht.
„In dem Licht“ wird ausdrücklich hinzugefügt, um zu zeigen, wie das Ergebnis des Werkes Gottes in Christus ein unbedingtes ist. Es ist nicht einfach „das Erbteil“, denn in diesem Ausdruck ist nicht ohne weiteres der Gedanke der alles bloßstellenden Heiligkeit enthalten, wie es bei „Licht“ der Fall ist. Ferner: der „Anteil der Heiligen in dem Lichte“ ist nicht eine Sache, die der Erde angehört, ist auch nicht nur eben eine Himmelssache. Nein, es geht weiter. Der Anteil ist „in dem Lichte“, da, wo Gott als solcher wohnt. Ist das nicht ein geradezu wundersamer Ort für uns? Und für diesen Anteil hat unser Vater uns fähig gemacht.
Das Gesetz hat immer die Wirkung, Gott in die Ferne zu rücken. Deshalb wird hier der Vater vorangestellt. Es gibt viele, die in Gott nur den Schöpfer und den Richter sehen. Obwohl sie zugeben, dass in Christus das Leben ist, fühlen sie sich doch nicht heimisch bei dem Vater. Sie machen aus dem Christus, was die Papisten aus der Jungfrau Maria machen. Das eine ist so falsch wie das andere. Und eben dies machte es nötig, den Vater besonders voranzustellen. Im Brief an die Epheser war das unnötig. Die Epheser hatten Verständnis über die Wahrheit. Obwohl nun der große Zweck des vorliegenden Briefes der ist, aus Christus, aus Seiner uneingeschränkten Herrlichkeit das zu machen, was Verordnungen usw. ausschließt, bringt der Apostel doch gerade hier den Vater hinein, indem er zeigt, dass der Vater in Seiner Liebe gewirkt hat. Die Verbindung von vollkommener Liebe und der Tatsache, dass wir passend gemacht sind für das Licht, und zwar schon jetzt, ist eine wunderbare Wahrheit. Was das Licht anlangt, so befindet sich der Christ immer in demselben, wenn es auch der Fall sein kann, dass er nicht immer dem Licht gemäß wandelt. Wenn daher ein Christ sündigt, so sündigt er in dem Licht, und das ist es, was seinem Sündigen einen, ich möchte sagen, dreisten Charakter verleiht. Mag er sich selbst praktisch in einem nicht guten Zustand befinden, dennoch ist er immer in dem Lichte. Und das gerade ist es, was die Sünde eines Christen so überaus ernst macht. Er begeht sie angesichts einer vollkommenen Liebe und angesichts eines vollkommenen Lichts. Deshalb gibt es keine Entschuldigung für sie.
Das gesegnete Vorrecht, von dem wir sprachen, hängt von zwei Dingen ab: zunächst von der Wirkung des Blutes Christi, das eine vollständige Sühnung unserer Sünden zustande gebracht hat, und sodann von der Tatsache, dass uns das Leben Christi mitgeteilt worden ist, ein Leben, das uns befähigt, mit Gott Gemeinschaft zu haben in dem Lichte. Diese beiden Gnadengaben sind unbedingt wahr von jedem Christen. Der Gläubige hat das Blut, das ihn reinigt, soweit er das je braucht; und er hat in Christus das Leben, das seiner Seele in ausgedehntestem Maß mitgeteilt worden ist. Was da noch an Erfahrungen hinterher folgen mag, ist einfach eine vertiefte Wertschätzung dessen, was das Blut Christi bewirkt hat, sowie davon, was Er selbst ist, der uns eine solch unendliche Gunst erwiesen und soviel für uns getan hat.
Unser Vater hat aber noch mehr getan, denn wie der Apostel ferner zeigt, hat Er „uns errettet aus der Gewalt der Finsternis“. Es handelt sich hier nicht bloß um böse Werke, sondern um die Gewalt der Finsternis, um die Errettung aus der Gewalt Satans. Aber der Apostel sagt nicht nur, dass die Gläubigen aus dieser Gewalt errettet, sondern auch, dass sie „versetzt worden seien in das Reich des Sohnes seiner Liebe“. Alles Geschehene ist vollkommen. Die Errettung von dem Feinde Gottes ist vollständig, und so ist es mit der Tatsache, dass wir in das Reich des Sohnes Seiner Liebe versetzt worden sind.
„In welchem wir die Erlösung haben, die Vergebung der Sünden.“
In Luthers Übersetzung finden wir der Vergebung der Sünden noch „durch sein Blut“ hinzugefügt. In Wirklichkeit gehören diese Worte aber zum Epheserbrief. (Kap. 1, 7.) Ich bin überzeugt, dass die Abschreiber sie hier eingefügt haben, weil sie dort stehen. Im Epheserbrief haben wir eine größere Fülle als im Kolosserbrief. Daher zeigt jener Brief, wie die Segnung möglich ist trotz unserer Sünden, die in dem herrlichen Bericht dort (Kap. 1) in Erscheinung treten. Hier im Kolosserbrief dagegen haben wir nur eben die Aufzählung der Segnung:
„In welchem wir die Erlösung haben, die Vergebung der Sünden, welcher das Bild des unsichtbaren Gottes ist.“ (Vers 14)
Der Zweck ist offenbar nicht so sehr, bei dem Werk Christi zu verweilen, als vielmehr Seine persönliche Herrlichkeit herauszustellen. So wird Er „das Bild des unsichtbaren Gottes“ genannt. Von Christus wird nie gesagt, dass Er das „Gleichnis“ des unsichtbaren Gottes sei (vgl. 1. Mose 1, 26), weil das den Gedanken hervorrufen könnte, Er sei nicht wirklich Gott. Das wäre ein verhängnisvoller Irrtum. Er ist Gott (ohne dies wären Gottes Herrlichkeit und Erlösung eitel); aber doch ist Er das Bild des unsichtbaren Gottes, indem Er die einzige Person der Gottheit ist, die Ihn kundgemacht hat. (Vgl. Joh. 1, 18.) Der Heilige Geist offenbart Gott nicht. Er offenbart Seine Macht, aber nicht Ihn selbst. Aber Christus ist „das Bild des unsichtbaren Gottes“. Er hat Gott in Vollkommenheit dargestellt; Er ist die Wahrheit. Wer Ihn gesehen hat, hat den Vater gesehen. Er war stets Der, welcher Gott offenbarte. Das Wort „Bild“, so hat jemand bemerkt, wird in der Schrift immer wieder im Sinne von Darstellung gebraucht. Das ist auch hier der Hauptgedanke. Christus hat den unsichtbaren Gott dargestellt.
Als Seine nächste Herrlichkeit wird gesagt, dass Er der „Erstgeborene aller Schöpfung“ ist. Diese Mitteilung ist offenbar das Gegenstück zu der ersten, dass Er das Bild des unsichtbaren Gottes ist. Christus wurde so wahrhaftig Mensch, wie Er Gott war und ist. Er wurde Fleisch. Nie wird von Ihm gesagt, noch konnte von Ihm gesagt werden, Er sei Gott geworden. Er nahm teil an Fleisch und Blut in der Zeit, aber von Ewigkeit her ist Er Gott. Nachdem der Apostel gezeigt hat, dass Er das Bild des unsichtbaren Gottes war, spricht er von Ihm als dem „Erstgeborenen aller Schöpfung“. Aber wie ist das möglich? Das Urbild davon haben wir in Adam. Wir würden sagen, dass obiger Titel ihm zukomme als dem ersten Menschen.
Aber hier, wie an anderen Stellen, drückt der Titel „Erstgeborener“ eine besondere Würde aus, anstatt einen rein zeitlichen Vorrang zu bedeuten. Adam war der erste Mensch; er war aber nicht der Erstgeborene und konnte es auch nicht sein. Aber wie kann von Christus, der doch so spät hier auf der Erde geboren wurde, als von dem Erstgeborenen gesprochen werden? Die Wahrheit ist, dass, wenn Christus Mensch wurde und in den Bereich der Schöpfung eintrat, Er einfach nichts anderes sein konnte. Denn Er ist der Sohn und Erbe. In gleichem Sinn heißt es durch die Gnade jetzt von uns, dass wir „die Versammlung der Erstgeborenen“ seien, obwohl es vor der Versammlung (Gemeinde) Heilige, d. h. Gläubige gegeben hat. Es ist eine Rang - , nicht eine Zeit - frage. Christus ist in Wahrheit der Erstgeborene aller Schöpfung. Er hat nie den Platz des Geschöpfes eingenommen, bis Er Mensch wurde und dann notwendigerweise der Erstgeborene sein musste. Selbst wenn Er buchstäblich der letzte gewesen wäre, musste Er dennoch der Erstgeborene sein, denn dies hat, wie gesagt, nichts mit dem Zeitpunkt Seines Kommens zu tun, sondern mit der Ihm innewohnenden Würde. Alle anderen waren lediglich Kinder des gefallenen Menschen Adam, und von ihnen konnte in keinem Sinne einer der Erstgeborene sein. Er war so wahrhaftig Mensch wie sie, aber mit einer ganz besonderen Herrlichkeit. Warum Er hier als Erstgeborener aller Schöpfung vorgestellt wird, geht aus den Worten hervor: „Denn durch ihn sind alle Dinge geschaffen worden.“ Das macht den Grund völlig klar. Er war Erstgeborener aller Schöpfung, weil Er, der in den Kreis des geschaffenen Menschentums eintrat, der Schöpfer war; darum musste Er notwendigerweise der Erstgeborene sein. Das ist die klare und sichere Bedeutung dieser Stelle, die auf das stärkste die Gottheit Christi bestätigt, anstatt sie zu schwächen, wie einige die Stelle aus einem seltsamen Missverständnis heraus aufgefasst zu haben scheinen. Daher übersetzen viele: „der Erstgeborene vor allen Kreaturen“. (Luther.) 1 Diese Auffassung ist unmöglich, und es liegt in der Tat keinerlei Bedürfnis für eine Änderung des Textes vor. Gottes Wort ist weiser als die Menschen. Es gibt keine Schriftstelle, die Christi Würde mehr hervortreten ließe als diese.
Zuerst also wird von Ihm gesagt, dass Er das Bild des unsichtbaren Gottes sei. Sodann haben wir Seinen menschlichen Platz, an dem Er der Erstgeborene ist, weil, da Er Gott ist, es nicht anders sein konnte. Im Hebräerbrief heißt es von Ihm, dass Er zum Erben aller Dinge gesetzt worden sei, weil Er der Sohn Gottes war. Hier aber lesen wir: „Alle Dinge sind durch ihn“, oder wörtlicher: „in ihm (d. h. durch Seine, in der Kraft Seiner Person) geschaffen worden.“ Die Bedeutung ist nicht einfach: „durch“ Ihn, sondern: vermöge Seiner eigenen göttlichen Kraft.
„Denn durch ihn (in ihm) sind alle Dinge geschaffen worden, die in den Himmeln und die auf der Erde, die sichtbaren und die unsichtbaren, es seien Throne oder Herrschaften oder Fürstentümer oder Gewalten: alle Dinge sind durch ihn und für ihn geschaffen.“ (Vers 16)
Alles das erstreckt sich auf Dinge, von denen wir wenig wissen, Dinge, die außerhalb unseres Gesichtskreises liegen. Wie im Anfang des Verses von dem die Rede war, was vermöge Seiner Kraft (in Ihm) geworden ist, so heißt es am Schluss „durch 2 “ Ihn, weil Christus beides war: ein in Seinem eigenen göttlichen Recht Handelnder, und ebenso einer, der zu Gottes, des Vaters, Herrlichkeit als Dessen Werkzeug handelte. „Alle Dinge sind durch ihn geschaffen.“ „Geschaffen worden“ und „sind geschaffen“ sind unterschiedlich zu bewerten. In dem einen Fall ist es eine abgeschlossene Handlung, in dem anderen dagegen das als Ergebnis der vergangenen Handlung gegenwärtig Geschaute. Das erste ist die Kraft, die ins Dasein rief, das zweite das gegenwärtige Ergebnis.
„Und er ist vor allen, und alle Dinge bestehen zusammen durch ihn.“ (Vers 17)
Nicht nur war Er vor allen Dingen, sondern vor allen (Gott natürlich ausgenommen). Auch nicht, dass alle Dinge nur waren, sondern sie sind „für ihn“ geschaffen, zu Seinem Gefallen. „Und alle Dinge bestehen zusammen durch ihn“ (hier wieder in (en) Ihm, kraft Seiner Person). Kraft Seiner, in der Kraft Seiner Person macht den Gedanken klarer. Es kommt dem Schreiber darauf an, alle Unklarheiten betreffs der Erhabenheit Christi zu entfernen.
Aber weiter:
„Und er ist das Haupt des Leibes, der Versammlung, welcher der Anfang ist, der Erstgeborene aus den Toten, auf dass er in allem den Vorrang habe.“ (Vers 18)
Den Grund hierfür werden wir in dem finden, was folgt. Zunächst sei auf die interessante Tatsache hingewiesen, dass es zwei sehr verschiedene Erstgeborene gibt: Den Erstgeborenen aller Schöpfung, weil Er der Schöpfer ist, und dann den Erstgeborenen aus den Toten. Dies letztere wird hier als eine klare und wichtige Tatsache bezeugt. Christus ist also nicht nur das Haupt der Schöpfung als Mensch, sondern Er ist Erstgeborener aus den Toten als Auferstandener. In Verbindung hiermit ist Er das Haupt der Versammlung, der Ekklesia. Auf Erden stand Er nicht in diesem Verhältnis. Er war es nicht nur einfach dadurch, dass Er Mensch wurde. Dass das Wort Fleisch wurde, ist eine Wahrheit, die ganz und gar verschieden ist von der, dass Christus das Haupt der Versammlung ist. Letzteres schließt eine weitere Wahrheit in sich, die der Vereinigung oder Verbindung mit anderen. Von Ihm als dem Haupt des Leibes, der Versammlung, kann erst die Rede sein, seitdem Er aus den Toten auferstanden ist und Seinen Platz im Himmel eingenommen hat. Aber der Kolosserbrief beginnt nicht sogleich mit dem himmlischen Platz Christi. Es ist der Epheserbrief, der Christus klar darstellt als Den, der auferstanden ist und sich als Haupt gesetzt hat. Die Sprache im Kolosserbrief trägt einen mehr allgemeinen Charakter. Es wird nichts davon gesagt, dass Christus im Himmel sei. Er ist „der Anfang, der Erstgeborene aus den Toten, auf dass er in allem den Vorrang habe“. Manche verwechseln Vereinigung mit Fleischwerdung. Aber durch Sein Annehmen von Fleisch und Blut hienieden ist noch keine Vereinigung geschehen. Diese finden wir erst in der Tatsache, dass wir zu Gliedern Seines Leibes gemacht worden sind, und zwar jetzt, nachdem Er auferstanden und verherrlicht ist. Solange Tod und Auferstehung nicht stattgefunden hatten, konnte es keine Vereinigung mit Ihm geben. Erst nachdem Er auferstanden war, wurde der Heilige Geist gesandt, um uns mit Ihm in dieser Stellung der Auferstehung zu vereinigen. Von da an, und nicht vorher, haben wir den Leib, die Versammlung. Er hatte einen menschlichen Leib, selbstverständlich; aber der geheimnisvolle Leib wird durch den Heiligen Geist gebildet, der hernieder gesandt wurde, nachdem Er aus den Toten auferstanden war. Das eine war verbunden mit der Erde, das andere steht in Verbindung mit dem Himmel.
Fußnoten