Die letzten Dinge
Das Sendschreiben an Pergamus
Pergamus bedeutet Hochburg, Residenz. In dieser Stadt stand unter anderem der Tempel Aesculapius, des Gottes der Heilkunde; sie war also ein Mittelpunkt der Macht Satans, eine Residenzstadt des Fürsten dieser Welt. Dennoch bestand auch dort eine Versammlung.
Dieses Sendschreiben beleuchtet die historische Periode von der Thronbesteigung Konstantins des Großen 313 n.Chr., der als erster Kaiser äußerlich Christ wurde, bis zum Jahr 606 n.Chr., in dem durch Dekret des Kaisers Justinian der Bischof von Rom zum Papst, d.h. zum „Heiligen Vater“ erhoben wurde. Mit Konstantin ist in der Kirche äußerlich und innerlich eine große Wandlung vor sich gegangen. Äußerlich wurde aus der unterdrückten Gemeinde eine angesehene, durch das Kaisertum getragene Staatsreligion. Das Senfkorn des dritten Gleichnisses in Matthäus 13 wurde zum großen Baum, in dem die Vögel des Himmels, die im ersten Gleichnis den Samen vom Weg aufpickten, Platz fanden. Das heißt, dass damit die Welt Eingang in die Kirche fand, ja, sie begann sogar, das Wort darin zu führen. Innerlich aber bestand die Veränderung darin, dass der Herr Jesus nicht mehr der einigende Mittelpunkt der Kirche war, die jetzt, zu einem großen Teil, mehr eine dogmatisch geleitete Religion geworden war. Andrerseits war es auch die Zeit der großen treuen Kirchenväter, eines Athanasius, Ambrosius, Tertullian, Chrysostomus, Hieronymus, treuer Kämpfer für die Wahrheit, obwohl auch bei ihnen irrige Ansichten nicht fehlten.
„Und dem Engel der Versammlung in Pergamus schreibe: Dieses sagt der, der das scharfe, zweischneidige Schwert hat“ (2,12).
In Vers 12 stellt sich der Herr Jesus als der vor, „der das scharfe, zweischneidige Schwert hat“, das wir aus Hebräer 4,12 kennen; zugleich lesen wir dort, dass „alles bloß und aufgedeckt ist vor seinem Auge“. Er will damit andeuten, dass Er alles genau bis ins Innerste unterscheidet, nicht nur was aus dem Herzen ausgeht, sondern auch dessen geheimste Wurzeln und Untergründe, alle Gedanken und Gesinnungen. Er erkennt sehr wohl, wie die Herzen nicht mehr ungeteilt Ihm gehören, wie aus seinem Tempel zum großen Teil eine nur noch äußerliche kirchliche Organisation geworden ist und wie der Boden der Absonderung von der Welt und die göttliche Grundlage des Zusammenkommens verlassen worden sind.
„Ich weiß, wo du wohnst: wo der Thron des Satans ist; und du hältst fest an meinem Namen und hast meinen Glauben nicht verleugnet, auch in den Tagen, in denen Antipas mein treuer Zeuge war, der bei euch, wo der Satan wohnt, ermordet worden ist“ (2,13).
Ja, der Herr Jesus Christus nimmt nicht nur Kenntnis von dem, was den Seinen geschieht, geht nicht nur mit ihnen durch alles hindurch, kennt nicht nur ihre Werke an ihrem inneren Wert, sondern Er beurteilt auch den Ort, wo sie sich aufhalten, die Gesellschaft, in der sie sich bewegen. Welche ernste, schwerwiegende Tatsache: „Du wohnst, wo der Thron Satans ist!“ Obwohl der Herr den Widersacher am Kreuz besiegt und ihm die Todeswaffe entrissen hat, ist Satan doch immer noch der Gott und Fürst dieser Welt, ja er führt diesen Titel erst recht seit seiner Niederlage. Noch ist er eifrig beschäftigt, die Angehörigen des Herrn zu schädigen, wie und wo er nur kann, sie auf alle Weise irrezuführen und zum Straucheln zu bringen. Vermochte er als brüllender Löwe gegen Smyrna nichts, als die Körper zu töten, so kam er jetzt in dieser Periode als die schleichende Schlange, als der große Verführer. Indem nun das Kaisertum „christlich“ wurde, gelang es ihm, die Tür für die Welt zu öffnen und seinen giftigen Hauch in das Innere strömen zu lassen.
„Bei euch, wo der Satan wohnt“, will allerdings nicht besagen, dass Satan in der Kirche Wohnung nehmen konnte, sondern dass er seinen Thron in solche bedenkliche Nähe zu jener brachte, dass er nun durch die Welt von innen wirken und verderben konnte.
Trotz aller Missstände konnte der Herr dennoch anerkennen, dass viele treu an seinem Namen und Glauben festhielten, vor allem unter dem Volk. Aber es gab auch treue große Zeugen, die die Wahrheit liebten und tapfer für diese kämpften, wie z.B. ein Athanasius gegen Arius, hinter dem zum Teil sogar die Kaisermacht stand. Antipas (= einer gegen alle) stellt diesen Typus auf örtlichem Gebiet der Stadt Pergamus dar. Auch war damals das Bekenntnis trotz einzelner Irrtümer noch ein wirkliches Bekenntnis zum Herrn Jesus, das der Herr noch anerkennen konnte.
„Aber ich habe ein weniges gegen dich, dass du solche dort hast, die die Lehre Bileams festhalten, der den Balak lehrte, einen Fallstrick vor die Söhne Israels zu legen, Götzenopfer zu essen und Hurerei zu treiben“ (2,14).
Ja, der Herr hatte gegen Pergamus ernste Dinge zu klagen; dennoch nennt Er es „ein weniges“, weil es gegenüber dem ersten entscheidenden Schritt von Ihm weg in Ephesus, und auch Thyatira gegenüber, doch nur ein kleiner Schritt weiter auf dieser Bahn des Niedergangs bedeutete. Wir wissen, dass Bileam ein falscher, ungerechter Prophet war, der Gott dienen wollte, zugleich aber nach Gewinn und Ehre in dieser Welt trachtete; der bereit war, wegen des Geldes Gottes Volk zu verfluchen, sofern Gott es zugelassen hätte. Er hatte das Volk verführt und es durch hurerischen Umgang mit Balaks Volk verdorben. Bezeichnenderweise ist hier Bileam als geistiger Urheber all dieses Bösen genannt, eine symbolische Andeutung auf die geistlichen Häupter und Führer, die das hier genannte Böse in die Kirche eingeführt hatten. So kamen allerlei schriftwidrige Dinge und Lehren auf, die viel Streit verursachten; ein großes Ärgernis für den Herrn und die treuen Gläubigen. Götzendienerische Gebräuche, dem Judentum oder Heidentum nachgeahmte Formen und äußeres Blendwerk, wie Anrufung der Maria und der Heiligen, die Lehre vom Fegefeuer, Kommunion, Bittgänge, Fahnen- und Lichterprozessionen, besonders aber Bilder- und Reliquienkult fanden Eingang. Dieser letztere hatte schon durch die Kaiserin Helena, Konstantins Mutter, begonnen, die bei Ausgrabungen in Jerusalem das Kreuz Jesu gefunden haben wollte. Dieser Schwindel machte Schule, und sehr bald wollte man die unglaublichsten Dinge gefunden haben, und diese fanden andächtige Verehrer.
Unter Hurerei versteht der Heilige Geist hier die Verbindung der Kirche mit der Welt, die durch das Kaisertum nun auch maßgebendes Mitspracherecht sogar in geistlichen Fragen bekam. Bei den zahlreichen Konzilen führte nun der Kaiser den Vorsitz und sein Wort gab die Entscheidung. Aus dem Dienst und den Gaben des Christus waren menschliche Ehrenämter und Rechte geworden, in die sich nun auch die Welt drängte, und aus der Absonderung von der Welt war ein Trachten nach ihren Gütern geworden. Selbst in der Ausbreitung des Evangeliums unter Germanen und Slaven prägte sich damals dieser Charakter der Periode aus, indem zumeist die Fürstenhöfe nach dem Beispiel Konstantins in der Annahme des Christentums und der Taufe vorangingen, und das ganze Volk folgte.
„So hast auch du solche, die in gleicher Weise die Lehre der Nikolaiten festhalten“ (2,15).
Durch diese wurde dieser Fehlzustand noch untermauert. Bei Ephesus werden bereits Werke der Nikolaiten erwähnt, die aber damals noch abgelehnt worden waren. Hier in Pergamus aber begegnen wir dem Festhalten einer eigentlich kristallisierten, ausgebauten Lehre, d.h. dieses gottwidrige klerikale System war nunmehr zu einer direkten, gesetzlich geordneten Hierarchie geworden, zu einer Priesterherrschaft, wobei das übrige Volk völlig aus dem Priestertum verdrängt worden war. Der Bischof von Rom erhob sich mehr und mehr über die anderen, vor allem seit Leo I. (440–461 n. Chr.) das Dogma von Petrus, als erstem Bischof von Rom, dessen Statthalterschaft Christi und gesetzmäßige Nachfolge der römischen Bischöfe (fälschlicherweise auf Mt 16,18.19 gestützt), zur Geltung gebracht hatte. Daraus folgerten Leos Nachfolger immer weitergehende Ansprüche, wie z. B. den obersten Entscheid in kirchlichen Dingen. Die Verleihung des Titels Papst (= Vater) durch Kaiser Justinian bildete dann den logischen Abschluss dieser Entwicklung in der Pergamus-Periode.
Lasst uns bedenken, dass dieses Sendschreiben auch als ernste Mahnung zur Selbstprüfung an uns gerichtet ist. Auch wir stehen in derselben großen Gefahr, unser Fleisch und unsere Gedanken nach unserem Willen wirken zu lassen und dadurch auf die grundsätzlich gleich schiefen Wege zu geraten. Kommt es nicht auch oft vor, dass wir anderen durch ein Verhalten und allerlei Gewohnheiten, die dem Wort Gottes und der Gesinnung von Jesus Christus keineswegs entsprechen, Ärgernisse und Anstoß bereiten? Gibt es nicht auch in unserer Mitte manche Dinge, sog. „geistlichen Betrieb“, Liebhabereien, eigene Interessen, die unsere Herzen gefangen nehmen und uns zu Götzen werden, oder einseitig erfasste Lehren, wodurch wir Anlass zu Unruhe und Spaltungen geben? O, nicht umsonst mahnt der alte Apostel Johannes am Schluss seines ersten Briefes: „Kinder, hütet euch vor den Götzen!“ Und wie nahe liegt es uns oft, mit der Welt zu liebäugeln, wie Bileam auf beiden Seiten zu hinken, um beides – Christus und die Welt – zu genießen. Müssen wir nicht über viel Weltförmigkeit klagen? Ist aber andererseits nicht auch für uns die Gefahr groß, ebenfalls in einer kraftlosen Gewohnheitsform zu erstarren? O, lassen wir uns doch nicht über unseren Zustand täuschen und vergessen wir nicht, wie der Feind gerade in solchen Dingen immer hinter uns her ist! Darum lasst uns sorgfältig Rechenschaft über uns selbst geben und den Herrn bitten, uns die Augen offen zu halten, denn diese Gefahren sind ernster, als wir gewöhnlich denken.
„Tu nun Buße; wenn aber nicht, so komme ich dir bald und werde Krieg mit ihnen führen mit dem Schwert meines Mundes“ (2,16).
Ach, die Kirche hat diese ernste Warnung und Mahnung nicht beachtet und ist bereits das große Haus nach 2. Timotheus 2,20 geworden, in dem Gefäß zur Ehre neben vielen zur Unehre zu finden sind. Damals schon bereitete sich die große Spaltung zwischen der östlichen griechisch-orthodoxen und der westlichen römisch-katholischen Kirche vor. Die Erstere verknöcherte immer mehr, während die westliche Kirche sich immer tiefer in Irrtum und Abgötterei verstrickte. Rom ist zum Zustand von Thyatira gekommen, während die östlichen Kirchen den Zustand von Pergamus beibehalten haben.
Die Drohung: „Ich komme dir bald und werde Krieg mit ihnen führen mit dem Schwert meines Mundes“, ist zwar nicht an die Versammlung gerichtet, sondern an ihre eigentlichen Schädlinge; aber die Gerichte haben dennoch jeweils die Versammlung selbst mitbetroffen. Der Herr hat zwar nicht abgelassen, jederzeit treue Zeugen gegen das Verderben in der Kirche zu erwecken. Er hat aber auch durch wiederholte Völkerstürme Gerichte von außen her über sie gebracht, die große Teile der Christenheit unter sich begruben, z. B. durch die Völkerwanderung im 5. Jahrhundert, durch die mohammedanischen Araber, die im 7. bis 8. Jahrhundert bis nach Spanien gelangten, durch Mongolen und Türken im 13. und 14. Jahrhundert, und in neuerer und neuester Zeit durch die kommunistischen Revolutionen, die bis jetzt vor allem die östlichen Kirchen betroffen haben.
„Wer ein Ohr hat, höre, was der Geist den Versammlungen sagt! Dem, der überwindet, dem werde ich von dem verborgenen Manna geben; und ich werde ihm einen weißen Stein geben, und auf den Stein einen neuen Namen geschrieben, den niemand kennt als nur der, der ihn empfängt“ (2,17).
Zuerst steht auch hier wiederum die ernste Mahnung, zu hören, und zwar richtet sie sich an jedermann, also auch an uns! Wie wichtig daher, stets ein offenes Ohr für die Hirtenstimme des Herrn zu haben! Haben wir Christen immer ein solch offenes Ohr? Denjenigen, die hören und alle Hindernisse überwinden, um sich von den oben genannten falschen und gefährlichen Dingen freizuhalten, und sich völlig dem Herrn zuwenden – aber nur solchen – verheißt der Herr hier drei Dinge:
- Das verborgene Manna, also Himmelsspeise. Was, oder vielmehr wer, ist dieses Manna? Es ist der, der sich selbst als das lebendige Brot vom Himmel bezeichnete (Joh 6,35), unser Herr Jesus Christus selbst. Er ist im Vergleich zu den glänzenden Äußerlichkeiten des Fleisches ein verborgenes Gut, das nur der genießt, der sich in seine Gemeinschaft im Heiligtum begibt und ihm sein ganzes Herz weiht, damit Er darin Wohnung nehmen kann (Joh 14,21–23).
- Einen weißen Stein. Im alten Griechenland wurde bei einer Urteilsfällung über Schuld und Unschuld durch Einlegen eines weißen Steines in eine Urne für Unschuld und eines schwarzen für Schuld gestimmt. So will Gott der Herr dem, der überwindet und sich von diesen Dingen rein hält, seine Rechtfertigung deutlich offenbar machen vor allen, wogegen alle menschlichen Gedanken und Urteile nichts gelten, da nur Gottes Urteil gültig ist.
- Einen neuen Namen, den nur der Empfänger kennt und versteht. Das wird der wahre Name seines neuen, aus Gott geborenen Ichs sein, der zugleich das ganze Wesen des Trägers zum Ausdruck bringt. Dem neuen wiedergeborenen Menschen gibt Gott einen Namen, seinem Wesen entsprechend und zwar nicht nur nach seiner Natur an und für sich, sondern er soll auch alle besonderen Beziehungen Gottes zu einem jeden einzelnen, die persönliche Freude, die der Herr an ihm hat, zum Ausdruck bringen. Darum wird dieser neue Name für jeden, der ihn empfängt, ein besonderes, persönliches Vorrecht sein. Dieser neue Name auf weißem Stein wird von der Öffentlichkeit nicht gesehen; er ist ein persönliches Geheimnis zwischen dem Herrn und dem Überwinder.