Einführender Vortrag zum 2. Korintherbrief
Kapitel 4+5
Kapitel 4
In Kapitel 4 berücksichtigt der Apostel das Gefäß, welches diesen himmlischen Schatz enthält. Er zeigt, dass wir, „da wir diesen Dienst haben“ und vollkommen „begnadigt worden sind“, nicht ermatten (V. 1). Stattdessen „haben (wir) den geheimen Dingen der Scham entsagt, indem wir nicht in Arglist wandeln, noch das Wort Gottes verfälschen, sondern durch die Offenbarung der Wahrheit uns selbst jedem Gewissen der Menschen empfehlen vor Gott. Wenn aber auch unser Evangelium verdeckt ist, so ist es in denen verdeckt, die verloren gehen“ (V. 2–3). Das ist die ernste Schlussfolgerung: „In welchen der Gott dieser Welt den Sinn der Ungläubigen verblendet hat, damit ihnen nicht ausstrahle der Lichtglanz des Evangeliums der Herrlichkeit des Christus, welcher das Bild Gottes ist. Denn wir predigen nicht uns selbst, sondern Christum Jesum als Herrn, uns selbst aber als eure Knechte um Jesu willen. Denn der Gott, der aus Finsternis Licht leuchten hieß, ist es, der in unsere Herzen geleuchtet hat zum Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi“ (V. 4–6).
Das ist das Evangelium der Herrlichkeit Christi. Es besagt nicht nur, dass wir ein himmlisches Anrecht haben, wie uns Kapitel 15 des ersten Briefs lehrt. Dort war der höchste vor uns gestellte Gesichtspunkt der, dass wir „die Himmlischen“ genannt werden und dass wir bald „das Bild des Himmlischen tragen“ sollen (V. 48–49). Der zweite Brief steht zwischen diesen beiden Endpunkten des Anrechts und seines Genusses infolge der verändernden Wirkung der Beschäftigung mit Christus in seiner Herrlichkeit in der Höhe. Hierdurch wird Raum gelassen für Praxis und Erfahrung auf dem Weg zwischen unserer Berufung und unserer Verherrlichung. Aber der Lauf zwischen diesen beiden Endpunkten schont keineswegs die menschliche Natur; denn Paulus zeigt uns hier: „Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, auf daß die Überschwenglichkeit der Kraft sei Gottes und nicht aus uns“ (V. 7). Gott macht uns diese Wahrheit fühlbar. Er hilft bei der praktischen Umgestaltung. Und durch welche Mittel? Indem Er uns in alle Arten von Schwierigkeiten und Leiden führt, um das Fleisch zunichte zu machen! Denn wenn der menschlichen Natur erlaubt wird, ihr Leben zu zeigen, wird die Offenbarung des Schatzes verhindert; ihre Verurteilung hingegen lässt das Licht hinausscheinen. Das ist es also, was Gott bewirkt. Es erklärt auch so manches auf dem Weg des Apostels, welches die Korinther in ihrem Zustand nicht begreifen konnten; und diese Wahrheit konnte, wo sie angenommen und im Geist angewandt wurde, zur Förderung der Absichten Gottes mit ihnen beitragen. „So denn wirkt der Tod in uns, das Leben aber in euch“ (V. 12). Welche Gnade und welch eine gesegnete Wahrheit! Aber beachte auch den Weg, auf dem dieser Prozess abläuft! „Allenthalben bedrängt, aber nicht eingeengt; keinen Ausweg sehend, aber nicht ohne Ausweg; verfolgt, aber nicht verlassen; niedergeworfen, aber nicht umkommend; allezeit das Sterben Jesu am Leibe umhertragend, auf daß auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werde. Denn wir, die wir leben, werden allezeit dem Tode überliefert“ (V. 8–11). Er spricht von der Verwirklichung. Alles muss zu dem großen Ziel beitragen, sogar solche Umstände die am verhängnisvollsten aussehen. Gott setzte seinen Knecht dem Tod aus. Dieses offenbarte umso wirkungsvoller jenes Zerbrechen, welches ständig stattfand. „So denn wirkt der Tod in uns, das Leben aber in euch. Da wir aber denselben Geist des Glaubens haben (nach dem, was geschrieben steht: Ich habe geglaubt, darum habe ich geredet), so glauben auch wir, darum reden wir auch, indem wir wissen, daß der, welcher den Herrn Jesus auferweckt hat, auch uns mit Jesu auferwecken und mit euch darstellen wird; denn alles ist um euretwillen“ (V. 12–15). Für den Fall, dass die Drangsal längere Zeit anhalten sollte, spricht der Apostel dann zur Ermunterung ihrer Herzen, so wie es seinem Empfinden entsprach, von einer „Leichte unserer Drangsal.“ Er wusste sehr gut, was eine Prüfung ist. „Denn das schnell vorübergehende Leichte unserer Drangsal bewirkt uns ein über die Maßen überschwengliches, ewiges Gewicht von Herrlichkeit, indem wir nicht das anschauen, was man sieht, sondern das, was man nicht sieht; denn das, was man sieht, ist zeitlich, das aber, was man nicht sieht, ewig“ (V. 17–18).
Kapitel 5
Das führt zur richtigen christlichen Einschätzung sowohl des Todes als auch des Gerichts gemessen an Christus. Paulus blickt jetzt fest auf alle jene Umstände, welche möglicherweise das natürliche Herz erschrecken könnten. Ein Christ mag durch den Tod gehen müssen. Es gibt für ihn jedoch kein Gericht mehr. Nichtsdestoweniger übt das Bewusstsein von diesem Gericht einen großen Einfluss auf ihn aus, da es ja wirklich kommen wird, wenn auch nicht für ihn selbst, dann doch für andere. Dinge, die uns gar nicht betreffen, können einen mächtigen Einfluß auf die Seele ausüben und zu einer tiefen Quelle der Anbetung und einem machtvollen Ansporn im Dienst werden. Das Empfinden davon, was das Gericht bedeutet, kann jetzt umso mehr gefühlt werden, da wir von seiner Last befreit sind. Wir vermögen daher viel eingehender und mit mehr Ruhe im Licht Gottes darüber nachzusinnen, indem wir sein unaufhaltsames Herannahen und seine umwälzende Macht an solchen, die Christus nicht besitzen, sehen. Folglich sagt Paulus: „Wir wissen, daß, wenn unser irdisches Haus, die Hütte, zerstört wird, wir einen Bau von Gott haben, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, ein ewiges, in den Himmeln. Denn in diesem freilich seufzen wir, uns sehnend, mit unserer Behausung, die aus dem Himmel ist, überkleidet zu werden“ (V. 1–2).
Aber wir sollten nicht vergessen, dass er nicht versäumt (denn sein Herz war keinesfalls bezüglich des Zustands einer jeden Person in Korinth beruhigt), ernst hinzuzufügen: „So wir anders, wenn wir auch bekleidet sind, nicht nackt erfunden werden“ (V. 3). Er war sich nicht sicher, ob nicht einige unter den Korinthern gefährdet waren, indem sie keinen Heiland hatten. Einige Menschen geben diesem Vers eine ganz andere Wendung und machen ihn zum Ausdruck des Trostes und nicht der Warnung. Aber ein solcher Gesichtspunkt beraubt uns der wahren Reichweite des Satzes. Die übliche Übersetzung und die naturgemäße Auslegung scheinen mir völlig richtig zu sein. Der Vers lautet nicht: „Da wir bekleidet sind, werden wir nicht nackt erfunden.“ Eine solche Übersetzung enthielte keine würdige Lektion für eine Seele. Die Lesarten weichen voneinander ab; doch ich denke, dass jene richtig ist, welche der allgemeinen Lesart entspricht. Der Apostel möchte jede Seele warnen. Wenn auch an jenem Tag, der kommen wird (nämlich bei der Auferstehung des Leibes), alle Seelen nicht mehr ohne Leib, sondern „überkleidet“ sein werden, gibt es dennoch einige, die trotz ihrer „Bekleidung“ „nackt erfunden werden.“ Die Gottlosen werden dann nicht weniger bekleidet sein als die Erlösten, die dann schon lange auferstanden oder verwandelt sind. Auch ihre Leiber werden von den Toten auferweckt wie die der Gerechten. Aber wenn die Ungerechten in der Auferstehung vor dem großen weißen Thron stehen, wie entblößt werden sie dann sein?! Was wird es an jenem Tag bedeuten, keinen Christus zu besitzen, der uns bekleidet?
Nach einer so heilsamen Warnung an solche, die das Wissen überbewerten, indem sie das Gewissen unberücksichtigt lassen, wendet sich der Apostel zu jener Fülle des Trostes, welche er den Heiligen mitteilen konnte. „Denn wir freilich, die in der Hütte sind, seufzen beschwert“ (V. 4). Er wollte keinesfalls Leid und Schwachheit leugnen. Er wusste, was Leiden sind und was es bedeutet, bekümmert zu sein, weit mehr als irgendeiner von ihnen. „Denn wir freilich, die in der Hütte sind, seufzen beschwert, wiewohl wir nicht entkleidet, sondern überkleidet werden möchten.“ Es geht demnach nicht einfach darum, dass wir von dem gegenwärtigen Schauplatz mit seiner Trauer und seinen Übungen weggenommen zu werden wünschen. Wir dürfen niemals ungeduldig werden. Das Verlangen, bei Christus zu sein, ist durchaus richtig; doch wenn wir unter dem, was uns mit Schande und Schmerzen verbindet, aufsässig sind, dann handeln wir nicht Christus gemäß. Es gilt also: „Wiewohl wir nicht entkleidet, sondern überkleidet werden möchten.“ Das war sein brennender Wunsch: Überkleidet zu werden, „damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben.“ Er suchte folglich nicht das Sterben, sondern gerade umgekehrt: Paulus wollte, dass jenes Sterbliche, das noch in ihm wirkte, durch denjenigen verschlungen werde, der das ewige Leben und auch unser Leben ist.
„Der uns aber eben hierzu bereitet hat, ist Gott“ (V. 5). Hier geht es nicht darum, dass Er etwas für uns bereitet hat, sondern dass Er uns bereitet hat. Das ist ein bemerkenswerter Ausdruck der Gnade Gottes in Verbindung mit seinem unfehlbaren Vorsatz in Christus. „Der uns aber eben hierzu bereitet hat, ist Gott, der uns auch das Unterpfand des Geistes gegeben hat.“ Er gibt uns demnach sogar jetzt schon einen Vorgeschmack von jener Segnung und Herrlichkeit, die für uns bereitliegen. „So sind wir nun allezeit gutes Mutes“ (V. 6). Beachte eine solche Sprache! Denke daran, dass des Apostels Worte unser Teil beschreiben, und zwar im Angesicht von Tod und Gericht! „So sind wir nun allezeit gutes Mutes.“ Wir begreifen leicht, dass wir hier einen Mann vor uns haben, dessen Auge ausschließlich auf Christus und seine Liebe gerichtet ist, wenn er sagt: „Wir sind aber gutes Mutes“, und das, obwohl er auch auf das blickte, was selbst das festeste Herz auf eine harte Probe stellte. Es wäre sicherlich unvernünftig gewesen, nicht von diesen Umständen überwältigt zu sein, gäbe es nicht eine solche Wirksamkeit des Heiligen Geistes, wie sie der Apostel sich in ihren Früchten in seiner Seele erfreute. Doch er genoss sie tiefgehend. Aber was noch mehr ist – er stellt dieses als den gemeinsamen Genuss aller Christen vor. Es war nicht ausschließlich eine Frage seiner eigenen persönlichen Gefühle. Gott gab ihm diese Erfahrung, damit er sie mit allen Erlösten Gottes teile. „So sind wir nun allezeit gutes Mutes“, schreibt er, „und wissen, daß, während einheimisch in dem Leibe, wir von dem Herrn ausheimisch sind (denn wir wandeln durch Glauben, nicht durch Schauen); wir sind aber gutes Mutes und möchten lieber ausheimisch von dem Leibe und einheimisch bei dem Herrn sein. Deshalb beeifern wir uns auch, ob einheimisch oder ausheimisch, ihm wohlgefällig zu sein. Denn wir müssen alle vor dem Richterstuhl des Christus offenbar werden.“
Das ist wieder an ihrem Platz eine wichtige Wahrheit; und ihre Wirkung ist sehr eindrucksvoll. Sie bewirkt eine tiefe Besorgnis bezüglich der Verlorenen und ein Bewusstsein von unserem Offenbarwerden vor Gott schon jetzt. Damit will ich nicht sagen, dass wir nicht in Bälde wirklich offenbar werden; denn das muss vollkommen geschehen. Wenn wir jedoch im Gewissen vor Gott jetzt schon offenbar sind, ist augenscheinlich, dass nichts mehr übrig bleibt, was das geringste Unbehagen bei unserem Offenbarwerden vor dem Gerichtshof Christi hervorrufen könnte. In Wahrheit gilt: Wenn die Offenbarung vor unserem Herrn eine Quelle der Beunruhigung für den Erlösten sein kann (und sie sollte tatsächlich das Herz in eine ernste Stimmung versetzen), so bin ich überzeugt, dass die Seele einen echten und bedeutenden Segen verlieren würde, wenn sie irgend die Möglichkeit hätte, jenem Offenbarwerden auszuweichen. Es spielt auch keine Rolle, in welchem Grad dieses Offenbarwerden jetzt schon im Gewissen erfolgt, denn es kann bis dahin noch nicht vollständig sein; und unser Gott will, dass wir auch in dieser Hinsicht genauso wie in jeder anderen vollkommen gemacht werden. Soweit wir selbst beteiligt sind, wird dieses Ziel aus verschiedensten Ursachen nicht erreicht. Zum Beispiel wirkt noch Selbstliebe in den Herzen der Erlösten. Es gibt Dinge, die einen Schleier über das Auge legen, sodass unsere Seelen abstumpfen. Ach! Wir wissen das nur zu gut!
Das Ergebnis unseres Offenbarwerdens vor dem Richterstuhl Christi besteht darin, dass wir erkennen, wie wir erkannt worden sind. Das bedeutet, dass Er in absoluter Vollkommenheit das vor uns stellt, was wir jetzt entsprechend dem Ausmaß unseres Geistlichseins erkennen können. Nun, was ist die Wirkung, wenn wir zu einer größeren Erkenntnis unserer selbst gelangen und zu einem tieferen Bewusstsein von dem Platz eines Christen in Christus? Stets eine wahre Segnung und eine größere Freude an Christus! Bedeutet es nicht viel, weniger von uns selbst zu halten? Den anderen höher zu achten als uns selbst? Und uns auf diese Weise täglich immer tiefer in die Gnade des Herrn Jesus zu versenken? Ist das nicht das Ergebnis? Wird die vollkommene Erkenntnis unserer selbst nicht zu einem Gewinn statt einem Verlust?
Gleichzeitig ist es gewiss sehr ernst, wenn jedes Geheimnis zwischen dem Herrn und uns ausgebreitet wird. Es ist ernst für einen jeden, in das Licht gestellt zu werden bezüglich der Wege, zu denen wir verführt worden sind und Schwierigkeiten und Kummer über andere gebracht haben und durch die wir den Namen des Herrn verunehrten. Das ist in sich selbst ergreifend und betrübend. Satan sollte uns eigentlich niemals verführen können. Er mag die Heiligen anklagen, doch sie sollten in keinem Fall von ihm verführt werden können. Er verführt die Welt und verklagt die Brüder. Ach, wir wissen, dass wir in Wirklichkeit durch Unwachsamkeit seiner Tücke zugänglich sind. Das macht es aber keinesfalls weniger demütigend für uns, wenn wir in seine Falle tappen und er einen zeitweiligen Vorteil über uns gewinnt. Seine Absichten sind uns nicht unbekannt. Aber diese Kenntnis an sich bewahrt uns nicht immer und auch nicht in jedem Fall. Es gibt Niederlagen. Der Richterstuhl des Christus wird alles aufdecken. Dort wird alles Verborgene offenbar und nichts als die Frucht des Geistes ewigen Bestand behalten.
Nichtsdestoweniger stellt der Blick auf jenen Richterstuhl nicht unmittelbar die Erlösten vor das Auge des Apostels, sondern die Welt in ihrem Verderben. Der Friede in seinem Geist war so völlig und die Befreiung, die Christus für alle Erlösten vollbracht hat, so reich und sicher, dass sein Herz sofort entbrannte hinsichtlich derer, die eine ewige Verderbnis herausfordern. Paulus dachte an die Menschen, über die der Richterstuhl nichts als hoffnungslosen Ausschluss aus der Gegenwart Gottes und seiner Herrlichkeit bringen kann.
Beiläufig sei hier angemerkt, dass wir alle offenbar werden müssen, sowohl die Erlösten als auch die Sünder. Der Ausdruck enthält eine Besonderheit, die meiner Ansicht nach entscheidend davon spricht, dass nicht nur die Erlösten gemeint sind. Einwände, die sich auf das Wort „wir“ gründen, sind kraftlos. Das Wort „wir“ steht zweifellos in den apostolischen Briefen normalerweise für die Erlösten, aber nicht ausschließlich. Der Zusammenhang entscheidet. Seien wir versichert, dass alle solche Regeln irreführend sind. Hätte ein verständiger Christ jemals aus der Heiligen Schrift alle die Richtschnüre des Kritizismus in der Welt abgeleitet? Wir dürfen ihnen nicht einen Augenblick lang vertrauen. Warum sollten wir unsere Zuversicht auf Derartiges setzen? Überlieferte Formeln oder menschliche Kunstfertigkeit reichen nicht aus, um uns das Wort Gottes verständlich zu machen. Ich muss bekennen: In dem Moment, wenn die Menschen sich auf allgemeine Gesetze, nach welchen die Heilige Schrift ausgelegt werden soll, stützen, scheinen sie sich mir am Rand des Irrtums zu bewegen oder dazu verdammt zu sein, in einer Wüste der Unwissenheit zu wandern. Wenn wir wirklich lernen wollen, müssen wir diszipliniert sein; und wir müssen die Dinge so lesen und hören, wie Gott sie aufgeschrieben hat. Dabei handeln wir gut und weise, wenn wir alle menschlichen Nebenwege und Abkürzungen meiden, um den Sinn dessen, was Gott offenbart hat, herauszufinden. Nicht nur die Gelehrten der mittelalterlichen Theologie oder der modernen Spekulation sind da in Gefahr. Niemand von uns befindet sich jenseits der Notwendigkeit, über das Ich zu wachen und einfältig auf den Herrn zu blicken.
Hier liefern also der Gedankengang des Apostels und die Genauigkeit der Sprache in unserem Abschnitt überzeugende Hinweise (sowohl im Geist als auch im Buchstaben), dass wir alle, seien wir Erlöste, seien wir Sünder, vor Christus offenbar werden. Das heißt nicht, dass dieses unbedingt zur selben Zeit oder zum selben Zweck erfolgt. Aber alle müssen zu irgendeiner Zeit vor seinem Richterstuhl erscheinen. Lautete die Sprache: „Wir müssen alle gerichtet werden“, dann müsste das „wir“ auf die Unbekehrten beschränkt bleiben. Während nur letztere in das Gericht kommen, werden die Gläubigen und die Ungläubigen in gleicher Weise offenbar gemacht. Das Ergebnis dieser Offenbarung wird für den Gläubigen Fülle an Ruhe und Freude an den Wegen Gottes sein. Das Ergebnis der Offenbarung für den Ungläubigen ist ein völliges Dahinschmelzen jeder Entschuldigung oder Heuchelei, welche ihn auf der Erde täuschen konnten. In der Herrlichkeit des Herrn kann sich kein Fleisch rühmen; und der Mensch wird ganz und gar überführt vor dem Richter aller Dinge stehen. So ist die Wahl der Ausdrucksweise in unseren Versen, wie in der Heiligen Schrift üblich, absolut vollkommen und nach meiner Meinung ausreichend überzeugend, dass die Offenbarung hier allgemeingültig ist. Diese Sichtweise hat ihre Auswirkungen auf den Knecht Christi, der den Schrecken des Herrn kennt, und ruft ihn auf, die Menschen zu „überreden“. Was ist damit gemeint? Es bedeutet einfach, das Evangelium allen Menschen zu predigen.
Gleichzeitig fügt der Apostel hinzu: „Wir empfehlen uns selbst euch nicht wiederum, sondern geben euch Anlaß zum Ruhm unserthalben“ (V. 12). Denn er hatte sein Vertrauen zum Ausdruck gebracht, dass er ihren Gewissen offenbar werde, und auch unmissverständlich dargelegt, wie unumschränkt wir vor Gott offenbar sind. „Denn sei es, daß wir außer uns sind, so sind wir es Gott; sei es daß wir vernünftig sind – euch“ (V. 13). Danach stellt er die nötigende Kraft der Liebe Christi vor. Und warum? Weil er beim Umherschauen auf die Menschen und die Dinge, die auf der Erde zu ihnen gehören, nichts als „Tod“ geschrieben fand! Der ganze Schauplatz war ein einziges ungeheures Grab. Natürlich dachte er dabei nicht an die Heiligen Gottes. Im Gegenteil, inmitten dieses allgemeinen Todes, soweit es den Menschen betraf, freute er sich, einige Lebende zu sehen. Deshalb verstehe ich seine Aussage, „daß einer für alle gestorben ist und somit alle gestorben sind“ (V.14) als Hinweis darauf, dass sie wirklich durch die Sünde gestorben sind; und wegen des Gegensatzes scheint mir klar zu sein: „Er ist für alle gestorben, auf daß die, welche leben [das sind die Erlösten, die Gegenstände der Gunst Gottes], nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben ist und ist auferweckt worden“ (V. 15). Welche Wirkung entfaltete dies? Vor seiner Seele stand jetzt nicht ausschließlich der allgemeine Tod aller, sondern auch das Leben einiger durch die Gnade und durch den Tod und die Auferstehung Christi. Mit dieser Wahrheit vor Augen stellte er allerdings jetzt nicht den Gegensatz zwischen der neuen Schöpfung und all dem, was ihr vorausgegangen ist, heraus – ja, den Gegensatz zwischen den messianischen Hoffungen als solchen zu jener höheren Herrlichkeit, welche er jetzt geltend machte. Selbst ein lebendiger Messias konnte dem nicht entsprechen, was seine Seele über sich selbst in Übereinstimmung mit der Herrlichkeit Gottes gelernt hatte. Natürlich erfreute er sich an der Hoffnung seiner Nation. Es ist eine Seite, wenn wir das würdigen, was Gott bald für diese Erde tun wird. Eine andere ist es jedoch, wenn wir das nicht zu schätzen wissen, was Gott jetzt geschaffen und in einem auferstandenen Christus in der Höhe offenbart hat, der einst verworfen war und für uns starb. Folglich wird die eine Herrlichkeit die Verheißungen und Wege des Triumphes Gottes über Mensch und Satan enthüllen. Eine andere hingegen, welche die erstere bei Weitem übertrifft, wird von jener Person offenbart, die nicht nur der Messias, sondern viel mehr ist (unter anderem in unserer Zeit der himmlische Mensch). Sein Tod ist nach der Gnade Gottes das Gericht über unsere Sünden und für uns ein Ende dieses ganzen Schauplatzes. Daher sind wir völlig frei gemacht vom Menschen und den gegenwärtigen Dingen – ja, sogar von den kostbarsten Hoffnungen für diese Erde.
Was könnte besser sein, als dass ein Messias kommt, um den Menschen in dieser Welt zu segnen? Das ist jedoch nicht die Segnung eines Christen. Nach dem Alten Testament erwartet er zwar ihre Erfüllung auf der Erde. Aber jetzt sehen wir den Messias tot und auferstanden und durch den Tod in die himmlische Herrlichkeit eingegangen. Das ist die Herrlichkeit für den Christen. „Daher kennen wir von nun an niemand nach dem Fleische“ (V. 16). Diese Wahrheit versetzt die Erlösten in eine gemeinsame Stellung der Erkenntnis. „Daher kennen wir von nun an niemand nach dem Fleische; wenn wir aber auch Christum nach dem Fleische gekannt haben ...“ Mit einem lebenden Messias und sämtlichen Erwartungen, die mit Ihm und seinem Kommen auf die Erde verbunden sind, hat ein Christ nicht mehr unmittelbar zu tun. Das bedeutet keinesfalls, dass der Messias als solcher nicht zurückkommen wird. Unser Lebensbereich und das Wesen unserer eigenen Beziehungen beruhen jedoch auf Tod und Auferstehung; unsere Beziehungen werden im Himmel gesehen. In dieser Weise behandelt der Apostel das Thema. Er blickt auf Christus in seinem Verhältnis zu uns als einen, der von dieser Erde und aus der niedrigeren Schöpfung weggegangen ist in die himmlischen Örter. Dort und in einem solchen Charakter kennen wir Ihn. Mit „Ihn kennen“ meint der Apostel jene besondere Form der Wahrheit, die uns angeht, und die Art und Weise, in welcher wir in echte, lebendige Verbindung zu Ihm gebracht sind. Der von uns gekannte Mittelpunkt der Einheit als Gegenstand für unsere Seelen ist Christus als auferstanden und verherrlicht. Für irgendeinen anderen Gesichtspunkt, wie strahlend und herrlich er auch sei, gilt: „So kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr also. Daher, wenn jemand in Christo ist ...“
Das bedeutet nicht einfach, auf Christus zu blicken. Auch die Erlösten des Alten Testaments freuten sich, seinen Tag zu sehen (Joh 8,56). Das ist etwas ganz anderes, als in Christus zu sein. Es gibt Leute, die beschäftigen sich mit der Schrift in einer plumpen und unklaren Weise. Für ihre Augen ist alles das Gleiche. Ich hoffe indessen, dass das für uns hier nicht gilt. Zweifellos sind wir heutigentags in Christus, indem wir auf Ihn blicken. Das war aber nicht immer so. Nehmen wir die Jünger in den Tagen des Weges Christi auf der Erde – waren sie damals in Christus? Sicherlich nicht! In ihnen wirkte göttlicher Glaube. Unzweifelhaft waren sie „wiedergeboren“. Ist das aber dasselbe, wie in Christus zu sein? „In Christus sein“ bedeutet, dass die Erlösung geschehen ist und dass der Heilige Geist uns eine bewusste Stellung in Christus in seinem auferstandenen Charakter geben kann und gegeben hat. Das „In-Christus-Sein“ beschreibt den Gläubigen der Jetztzeit und nicht den aus der Zeit des Alten Testaments.
„Daher, wenn jemand in Christo ist, da ist eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden. Alles aber von dem Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Jesum Christum und hat uns den Dienst der Versöhnung gegeben: nämlich daß Gott in Christo war, die Welt mit sich selbst versöhnend“ (V. 17–19). So gibt es also auch einen gesegneten und angemessenen Dienst. Das Gesetz gebot dem Menschen einen gewissen Abstand von Gott. Es setzte diesen voraus und handelte entsprechend. Sogar wenn ein armes Tier den Berg berührte, musste es gesteinigt werden (Heb 12, 20). Schließlich kam Gott hernieder, um in Gnade dem Menschen zu begegnen, so wie dieser ist; und der Mensch verwarf Gott, offenbart im Fleisch. Dadurch wurde jedoch gleichzeitig die Erlösung bewirkt und der Mensch ohne Sünde zu Gott gebracht. Christus war es, der beides erfüllte. Er brachte Gott zu dem Menschen hernieder und brachte in seiner Person den Menschen hinauf zu Gott. In dieser Stellung befinden wir uns. Jetzt geht es nicht allein darum, dass Gott zu dem Menschen herabgestiegen ist. Er offenbart sich uns Christen weder in dieser Art noch bildet sie das ganze Ausmaß seiner Offenbarung. Der Herr Jesus Christus ist in den Himmel hinaufgestiegen, und zwar nicht als Einzelperson, sondern als Haupt einer Familie. Er konnte die Stellung des Hauptes nicht einnehmen, bevor alles Böse vollständig entfernt worden war. Er wollte uns sein eigenes Angenommensein vor Gott geben. Er nahm seinen besonderen Platz ein, um durch das Tragen unserer Sünden die sittliche Herrlichkeit Gottes wiederherzustellen. Aber so wie Er auf die Erde gekommen war – heilig und fleckenlos –, so ging Er auch wieder zu Gott zurück. Er hatte durch sein eigenes Blut die Sünden anderer, die an Ihn glauben, ausgelöscht. Nicht nur ein Messias war geboren, der Führer Israels, sondern es gilt auch: „Gott war in Christus.“
Beachte auch, dass nicht geschrieben steht: „Gott ist in Christus“, sondern: „Gott war in Christus.“ Hier ist eine Beschreibung dessen, was offenbart wurde, als der Herr auf der Erde war. Doch wenn es ein Fehler ist zu sagen: „Gott ist“, dann ist es ein noch größerer, den wir nur zu häufig in Büchern – alten und modernen gleicherweise – finden, nämlich dass Gott die Welt versöhnt habe. Das bedeutet diese Aussage nicht. Unsere Übersetzung ist durchaus richtig; der Kritizismus, der hier zu verbessern vorgibt, ist falsch. Es wird niemals gesagt, dass die Welt für Gott versöhnt sei. Christus war ein gesegnetes und Ihm entsprechendes Bild Gottes; und Gott war in Ihm, indem Er die Überlegenheit seiner Gnade hienieden enthüllte. Zweifellos hatte sein Gesetz seinen angemessenen Platz. Gott in Gnade indessen steht notwendigerweise über dem Gesetz. Als Mensch, jedenfalls als Mensch aus Israel, wurde Jesus unter dem Gesetz geboren. Das war jedoch nicht im Geringsten ein Aufgeben der Rechte Gottes – und noch weniger seiner Gnade. Gott hatte sich in Liebe den Menschen genähert, und zwar in der anziehendsten Weise. Er wandelte ein und aus unter ihnen, nahm kleine Kinder auf seine Arme, betrat Häuser, wenn man Ihn bat, unterhielt sich auf dem Weg, zog Gutes tuend umher und heilte alle, die vom Teufel bedrückt wurden, denn Gott war mit Ihm (vgl. Apg 10,38). Er suchte nicht nur die verlorenen Schafe Israels. Wie konnte eine solche Gnade auf die Juden beschränkt bleiben? Gott hatte weitgehendere Gedanken und Empfindungen. Mochte daher ein heidnischer Hauptmann kommen oder eine Samariterin oder sonst jemand – wer war nicht willkommen? Denn „Gott (war) in Christo, die Welt mit sich selbst versöhnend, ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnend.“
Voller Gnade und Wahrheit wollte Er bezüglich dieser oder jener Übertretung nicht einmal eine Frage stellen. An der Schuld des Menschen gab es keinen Zweifel. Fragen diesbezüglich entsprachen indessen nicht dem göttlichen Weg Christi. Der Gott aller Gnade hatte andere und viel wirksamere Ziele in seiner Hand. Er wollte erretten, aber zur gleichen Zeit das Gewissen mehr üben als jemals zuvor; denn es wäre ein großer Verlust für einen erweckten Sünder, wenn er nicht die Möglichkeit hätte, die Partei Gottes gegen sich selbst zu nehmen. Das ist der wahre Weg der Buße in der Seele und ihre Wirkung. Doch Gott war in Christus, um die Welt bezüglich all dieser Dinge – ja, gerade wegen dieser Dinge – mit sich zu versöhnen. Es ging nicht darum, sich mit der Welt wegen ihrer Übertretungen zu beschäftigen. Und was ist jetzt, nachdem der Herr weggegangen ist? Er „hat in uns das Wort der Versöhnung niedergelegt.“ Er ist weggegangen, aber nicht die Botschaft der Barmherzigkeit, um derentwillen Er gekommen war. Der Messias als solcher verschwindet für eine Zeit; dafür bleibt die Frucht jener gesegneten Kundmachung Gottes in Christus an eine böse Welt. „So sind wir nun Gesandte für Christum, als ob Gott durch uns ermahnte; wir bitten an Christi Statt: Laßt euch versöhnen mit Gott!“ (V. 20). Aber wie kann dieses geschehen? Auf welcher Grundlage können wir eine solche Aufgabe angehen? Nicht, weil der Geist Gottes in uns ist, so wirklich das auch sein mag, sondern wegen der Sühne! Der Grund dafür ist die Erlösung durch Christi Blut. „Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm“ (V. 21).