Einführender Vortrag zum 2. Korintherbrief
Kapitel 1
Dies bringt Paulus sofort überreich zum Ausdruck: „Gepriesen sei ... Gott“; denn sein Herz, überwältigt vom Kummer beim Schreiben seines ersten Briefs, konnte nun mit den Worten beginnen: „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Erbarmungen und Gott alles Trostes, der uns tröstet in all unserer Drangsal, auf daß wir die trösten können, die in allerlei Drangsal sind“ (V. 3–4). Dabei war es gleichgültig, ob letztere durch schweres Versagen hervorgerufen wurde. Auf jeden Fall führte sie bei ihnen zu einer tiefen Beschämung und, wie damals, bei ihm zu großem Leid. Aber jetzt überwindet der Trost bei Weitem jeden Kummer, „auf daß wir die trösten können, die in allerlei Drangsal sind, durch den Trost, mit welchem wir selbst von Gott getröstet werden.“ Aus treuem Herzen weist Paulus hier sofort wieder auf die Leiden Christi hin. „Gleichwie die Leiden des Christus gegen uns überschwenglich sind, also auch durch den Christus unser Trost überschwenglich ist. Es sei aber, wir werden bedrängt, so ist es um eures Trostes und Heiles willen“ (V. 5–6).
Der Unterschied in dieser Hinsicht zum Philipperbrief, auf den ich schon hingewiesen habe, ist bemerkenswert. Dort bewirkten die Erlösten ihre eigene Seligkeit (vgl. Phil 2,12). Daher war der Apostel in einem gewissen Sinn vollständig aus ihren Umständen ausgeschlossen. Er lässt sie erkennen, dass er sich nicht in derselben Weise in ihre Angelegenheiten mischen will. Ihr geistlicher Zustand erforderte es nicht. Zweifellos ist das ein Unterschied. Er beruhte allein darauf, dass sie in der Gnade gegründete Menschen waren. Im Korintherbrief war mehr erforderlich. In beiden Briefen entfaltete Paulus die Gnade. Doch der Unterschied beruhte zum weitaus größten Teil auf dem Wert, den der Name des Herrn unter den Philippern hatte. Es war ein Beweis von dem ausgezeichneten Zustand dieser Gläubigen, dass der Apostel ein solches vollkommenes Vertrauen zu ihnen haben konnte, auch als er, äußerlich gesehen, weit von ihnen entfernt war. Die räumliche Distanz war groß; und es bestand wenig Aussicht, die Philipper bald besuchen zu können.
Zu den Korinthern vermochte er anders zu reden. Er war ihnen verhältnismäßig nahe und hoffte, wie er uns im letzten Teil des Briefs mitteilt, ein drittes Mal zu ihnen zu kommen. Nichtsdestoweniger verwebt er seine eigene Erfahrung mit der ihrigen in einer Art und Weise, welche ein Herz, das ein Gefühl dafür hatte, wunderbar gnadenvoll empfinden musste. „Es sei aber, wir werden bedrängt“, sagt er, „so ist es um eures Trostes und Heiles willen, das bewirkt wird im Ausharren in denselben Leiden, die auch wir leiden ...; es sei wir werden getröstet, so ist es um eures Trostes und Heiles willen“ (V. 6–7). Ist das nicht die Rechenart des Glaubens? Was immer über sie kam – es geschah zu ihrem Trost. Kamen Leiden? Der Herr würde sie in Segen für sie verwandeln. Und falls es sich um Freude und Trost handelte – waren diese nicht erst recht zu ihrem Segen? Gleichzeitig teilt er ihnen mit, welche Drangsal ihn selbst betroffen hatte. Und in welch schöner Weise nutzt er diese! Unabhängig von der Macht Gottes, die ihn aufrecht erhalten hatte, als von ihrer Seite nichts kam, das ihn trösten konnte, sodass sie vielmehr die Angst seiner Seele vermehrten, zeigt er jetzt, nachdem die Gnade in ihren Herzen wirkte, wie abhängig er sich von ihren Gebeten fühlte. Wie wahrhaft schön ist die Gnade, und wie wenig entspricht sie dem Wesen des Menschen!
Wie gesegnet ist es, das Wirken Gottes, welches absolut vollkommen ist, nicht nur in Ihm selbst zu sehen, sondern auch in einem normalen Menschen, der genauso wie wir fühlte und dieselbe Natur in demselben Zustand in sich hatte, die beständig soviel Unheil in Bezug auf Gott bewirkt hat! Zur gleichen Zeit ist ein solcher Mann wie dieser Knecht Gottes ein Mittel, um uns in einer anderen Form weitere Beweise davon zu liefern, dass die Macht des Geistes Gottes alle Grenzen übersteigt und sogar in einem armen menschlichen Herzen die größten sittlichen Wunder hervorrufen kann. Zweifellos hätten wir einen großen Verlust, wenn wir diese Wirksamkeit in ihrer unübertrefflichen Vollkommenheit nicht in Christus kennen würden. Doch welch ein Mangel wäre es, wenn wir nicht auch diese Wirkung der Gnade dort kennen würden, wo wir keine liebenswürdige menschliche Natur ohne Flecken außen und Makel der Sünde im Innern vorfinden – ja, wo alles Natürliche nur böse und nichts anderes sein konnte! Dort wirkte trotzdem die Kraft des Heiligen Geistes im neuen Menschen und erhob den Gläubigen vollständig aus dem Bereich des Fleisches. So war es bei dem Apostel.
Zudem gab es eine Antwort der Gnade in ihren Herzen, obwohl sie vergleichsweise wenig ausgebildet war. Offensichtlich musste vieles in ihnen zurechtgerückt werden. Doch sie befanden sich auf dem richtigen Weg. Das war eine Freude für das Herz des Apostels; und so ermutigte er sie sofort, indem er ihnen mitteilte, wie wenig sich sein Herz von ihnen abgewandt hatte. Er liebte es, sich mit ihnen zu verbinden, anstatt fern von ihnen zu stehen. „Indem auch ihr durch das Flehen für uns mitwirket, auf daß für die mittelst vieler Personen uns verliehene Gnadengabe durch viele für uns Danksagung dargebracht werde. Denn unser Rühmen ist dieses: das Zeugnis unseres Gewissens, daß wir in Einfalt und Lauterkeit Gottes ...“ (V. 11–12). Ihm wurde das Gegenteil vorgeworfen. Als Mann mit einer bemerkenswerten Weisheit und großem Unterscheidungsvermögen musste er die Kehrseite dieser Eigenschaften erfahren, welche letztere immer im Gefolge haben. Damit meine ich: Sie führten sie auf seine eigenen Fähigkeiten und seinen natürlichen Scharfsinn zurück. Auf diese Weise wurde die echte Kraft des Geistes Gottes einfach dem Fleisch zugeschrieben.
Man warf ihm auch Unschlüssigkeit, wenn nicht sogar Unaufrichtigkeit vor, denn er hatte seine Absicht, Korinth zu besuchen, beiseitegesetzt. Zunächst einmal nimmt Paulus diesen Vorwurf in einem Geist der Selbstverleugnung auf sich, indem er seinen Blick auf die Herrlichkeit Christi richtet. Angenommen ihre Unterstellung war richtig, angenommen Paulus war genauso ein wankelmütiger Mann, wie es seine Feinde andeuteten, indem er gesagt hatte, dass er kommen würde, und er kam nicht – was dann? Auf jeden Fall trug seine Predigt nicht diesen Charakter. Das Wort, welches Paulus predigte, war nicht „ja und nein“ (V. 19). In Christus gab es nur „ja“ und kein „nein“. Dort gibt es weder Absage noch Unterlassung. Dort ist alles, um eine Seele in Christus zu gewinnen, zu trösten und aufzuerbauen. In Christus Jesus, dem Herrn, wird die Gnade nicht verleugnet. Alles ist in Ihm gesichert. Nichts fehlt, um den Traurigen zu trösten, den Hartherzigen anzuziehen und den Zweifelnden zu überzeugen. Nehmen wir den verdorbensten Menschen – woran mangelt es, um ihn auf den höchsten Platz der Segnung und der Freude Gottes hinzuführen, und zwar nicht nur der Hoffnung nach, sondern sogar jetzt schon durch den Geist Gottes angesichts aller Widersacher? Das war der Christus, den Paulus zu verkündigen liebte. Durch Ihn kamen Gnade und Wahrheit. Zumindest Er war genau das, was Er redete. Wer oder was war demnach so vertrauenswürdig? Und diese Wahrheit wird in kraftvollster Weise vorgestellt. „Denn so viele der Verheißungen Gottes sind“, sagt der Apostel, „in ihm ist das Ja und in ihm das Amen“ (V. 20). Es handelt sich nicht um eine einfache, buchstabengetreue Erfüllung der Verheißungen. Das wird nicht gesagt und entspräche auch keineswegs den neu eingeführten Segnungen. Stattdessen finden alle Verheißungen Gottes, egal, um welche es sich handelt, in Ihm das „Ja“ und in Ihm das „Amen“ zu Gottes Herrlichkeit durch uns. Sie alle werden in Christus in jeder Beziehung verwirklicht.
War ewiges Leben verheißen? In Ihm war das ewige Leben in seiner höchsten Form. Denn was wird das ewige Leben im Tausendjährigen Reich sein im Vergleich zu dem, welches sich ehemals und jetzt in Jesus befindet? Das ewige Leben wird im Tausendjährigen Reich wirklich eingeführt werden und hervorstrahlen. Aber in Christus besitzt der Gläubige es jetzt schon – in seiner unumschränkten Vollkommenheit. Nehmen wir die Vergebung der Sünden! Wird jene Entfaltung göttlicher Barmherzigkeit, die für den schuldigen Sünder so notwendig und kostbar ist, im Tausendjährigen Reich überhaupt in einer Weise gekannt, wie sie Gott jetzt in Christus enthüllt und zu uns gesandt hat? Nimm, was du willst – z. B. himmlische Herrlichkeit! Finden wir darin nicht Christus in all seiner Vollkommenheit? Es spielt folglich keine Rolle, wohin wir blicken. „So viele der Verheißungen Gottes sind, in ihm ist das Ja und in ihm das Amen.“ Hier steht nicht, dass es in uns verwirklicht ist. Offensichtlich gibt es viele Verheißungen in Hinsicht auf uns, die noch nicht erfüllt sind. Satan hat seine Stellung bezüglich der Beherrschung der Welt nicht verloren, sondern sogar durch die Kreuzigung des Herrn Jesus Christus eine höhere erworben. Der Glaube darf jedoch in jener Tat, welche ihm diesen Vorteil brachte, das Vorzeichen seines ewigen Untergangs sehen. Jetzt ist das Gericht dieser Welt (Joh 12, 31). Der Fürst dieser Welt ist gerichtet; doch das Urteil wurde noch nicht vollstreckt. Anstatt durch das Kreuz entthront zu werden, gewann Satan in der Welt jene bemerkenswerte Stellung und jenen hohen Titel. Trotzdem: Welchen Erfolg der Teufel auch scheinbar haben mag und welche Verzögerungen in der Erfüllung der Verheißungen Gottes auftreten mögen – „in ihm ist das Ja und in ihm das Amen, Gott zur Herrlichkeit durch uns.“
Doch dem Apostel reichte dieses Argument noch nicht aus. Nachdem er ihnen das Wort, welches er predigte, beschrieben hatte, wollte er, dass die Korinther wussten, was ihm unendlich kostbarer war als sein eigenes Ansehen. Er teilte ihnen jetzt mit, dass er, um sie zu schonen, nicht nach Korinth gekommen war. Das sollte eine Zurechtweisung sein, daher schrieb er in zartfühlendster Weise. Sie war die liebliche Folge der göttlichen Liebe in seinem Herzen. Er zog es vor abzuwarten oder sich anderswohin zu wenden, anstatt die Korinther in ihrem augenblicklichen Zustand zu besuchen. Wenn er jetzt zu ihnen gekommen wäre, hätte er eine Rute mitbringen müssen; und dieser Gedanke war ihm unerträglich. Er wollte ausschließlich mit Freundlichkeit zu ihnen kommen. Er wollte niemanden tadeln und nicht von schmerzvollen und demütigenden Dingen reden müssen, obgleich dies in Wahrheit für ihn noch demütigender gewesen wäre, weil er sie liebte. Wie Eltern die Schande ihrer Kinder weit mehr fühlen, als diese selbst es empfinden könnten, genauso war es auch bei dem Apostel hinsichtlich derer, die er gezeugt hatte im Evangelium. Er liebte die Korinther von Herzen trotz aller ihrer Fehler und wollte eher ihre unwürdigen Verdächtigungen eines wankelmütigen Geistes, dafür dass er sie nicht sofort besuchte, ertragen, als mit Tadel über ihren schlechten und stolzen Zustand zu ihnen zu kommen. Er wollte ihnen Zeit lassen, damit er mit Freuden zu ihnen reisen konnte.