Einführender Vortrag zum 1. Korintherbrief
Kapitel 12-14
Kapitel 12
In Kapitel 12 beschäftigt sich der Apostel folglich mit einer ausführlichen Übersicht über diese geistlichen Kräfte. Er zeigt, dass das entscheidende Kennzeichen dessen, wozu der Geist Gottes anleitet, darin besteht, Jesus nicht einfach als den Christus zu bekennen, sondern als den Herrn. Er nimmt den einfachsten, aber unbedingt notwendigen Boden ein – den Boden der Autorität des Herrn. Das beobachten wir in Vers 3: „Deshalb tue ich euch kund, daß niemand, im Geiste Gottes redend, sagt: Fluch über Jesum! und niemand sagen kann: Herr Jesus! als nur im Heiligen Geiste.“ Unmöglich kann der Geist denjenigen verunehren – ja, im Gegenteil, Er muss Ihn ehren –, der sich zur Verherrlichung Gottes erniedrigte. „Es sind aber Verschiedenheiten von Gnadengaben, aber derselbe Geist; und es sind Verschiedenheiten von Diensten, und derselbe Herr; und es sind Verschiedenheiten von Wirkungen, aber derselbe Gott, der alles in allen wirkt“ (V. 4–6). Dies alles hatten die Korinther vergessen. Sie waren mit menschlichen Gedanken erfüllt. Vor ihren Blicken standen Personen, wie zum Beispiel kluge Juden oder tüchtige Nichtjuden. Sie hatten aus den Augen verloren, dass Gott in ihrer Mitte wirkte. Der Apostel stellt heraus, dass es sich zwar um verschiedene Dienste und verschiedene Gaben, die dem einen oder dem anderen gegeben sind, handelt, dennoch sollten sie zum gemeinsamen Besten ausgeübt werden. Er veranschaulicht die Natur der Kirche (Versammlung) im Bild eines Leibes mit seinen verschiedenen Gliedern, die alle die Interessen des ganzen Körpers fördern und den Willen des Hauptes ausführen. „Denn auch in einem Geiste sind wir alle zu einem Leibe getauft worden“ (V. 13). Der Heilige Geist bildet nicht nur viele Glieder, sondern auch „einen Leib“.
Dementsprechend konfrontiert Paulus mit diesem göttlichen Endzweck den Missbrauch der geistlichen Kräfte durch die Korinther – ihre Unabhängigkeit voneinander, die Unordnung bei den Frauen, ihre Selbstverherrlichung und dergleichen, von denen wir im 14. Kapitel die Einzelheiten sehen. Er legt ihnen nachdrücklich nahe, dass die unscheinbarsten Körperteile, jene, die am wenigsten gesehen werden, oft bedeutungsvoller sind als alle anderen. So sind auch beim natürlichen menschlichen Leib einige der lebenswichtigsten Organe nicht einmal sichtbar. Was wird aus einem Menschen ohne Herz, Leber oder Lunge? So gibt es auch im geistlichen Leib Glieder, die außerordentlich wichtig sind und trotzdem nicht gesehen werden. Die Menschen neigen jedoch dazu, jene am meisten zu schätzen, die am protzigsten erscheinen. So tadelt Paulus das ganze Wesen und den Geist der korinthischen Eitelkeit. Gleichzeitig besteht er bis zum letzten auf ihren Platz des Segens und der Verantwortlichkeit. Nach allen ihren Fehlern, zögert er nicht zu sagen: „Ihr aber seid Christi Leib“ (V. 27). Diese Art des Umgangs mit Seelen ist in den gegenwärtigen Tagen sehr schwach geworden. Die Gnade wird so wenig gekannt, dass der erste Gedanke, der sich unter gottesfürchtigen Menschen erhebt, lautet: „Was sollten wir sein?“ Die Grundlage und die Waffe des Apostels Paulus besteht indessen darin: „Was sind wir durch die Gnade Gottes?“ „Ihr aber seid Christi Leib, und Glieder insonderheit. Und Gott hat etliche in der Versammlung gesetzt.“ Er hatte nicht die geringste Absicht, dies zu leugnen. Beachten wir hier die bedeutsame Anwendung des Ausdrucks „Versammlung“. Es konnte sich nicht um die örtliche Versammlung handeln, da es in Korinth keine Apostel gab. Welche Vorkehrungen durch die Vorsehung es draußen in der Welt auch geben mochte, Paulus blickt auf die Versammlung Gottes hier auf der Erde. Es geht um die Versammlung als ganze. Die Versammlung in Korinth war, wie jede echte Versammlung, eine Art Repräsentant der Kirche in ihrer Gesamtheit. Hier geht es um die Kirche Gottes auf der Erde und nicht um die Kirchen, obwohl der letztgenannte Ausdruck auch seine Bedeutung hat.
So dürfen wir also die Kirche (Versammlung) als das betrachten, was sie bald in ihrem verherrlichten und absolut vollkommenen Zustand sein wird. Wir begegnen ihr auch in einer örtlichen Versammlung. Daneben gibt es noch den sehr wichtigen Gesichtspunkt, den wir niemals vergessen dürfen, nämlich die Kirche als göttliche Einsetzung in ihrer Gesamtheit auf der Erde. Unbestreitbar setzt sie sich zusammen aus Gliedern Christi. Dennoch ist es sein Leib, die Versammlung als Ganzes, in welcher Gott hienieden wirkt. Das ist der Grund, warum wir in unserem Brief keine Evangelisten und Hirten erwähnt finden, denn es geht hier nicht um die Frage, was benötigt wird, um Seelen in die Versammlung hineinzubringen oder dort weiterzuführen. Paulus betrachtet die Kirche als ein Gebilde, welches schon als Zeugnis von der Macht Gottes vor den Menschen dasteht. Daher war es keineswegs notwendig, bei jenen Gaben zu verweilen, welche der Liebe Christi zu seiner Kirche entspringen und dieselbe pflegen. Sie wird als ein Gefäß der Kraft gesehen, welches die Herrlichkeit Gottes hienieden hochzuhalten hat und dafür verantwortlich ist. Darum werden Sprachen, Wunderwerke, Heilungen und äußerliche Machtentfaltungen ausführlich dargestellt.
Kapitel 13
Wir wechseln indessen mit Kapitel 13 zu einem anderen und noch wichtigeren Thema – zu jenem, selbst für das Wort Gottes, wundervoll ausführlichen Bild, zu der vollkommenen und schönen Entfaltung der göttlichen Liebe. Wenn die Korinther jedenfalls auf Gaben versessen waren, so hatten sie sich nicht nach der besten ausgestreckt. Sogar wenn wir die beste Gabe für uns wünschen – es gibt noch etwas Besseres; und das Beste ist die Liebe. Diese wird also in der bewundernswertesten Weise vorgestellt, und zwar in dem, was sie ist, und in dem, was sie nicht ist. Damit wollte Paulus die falschen Begehren der Korinther und den üblen Geist, der sich unter ihnen selbst bei der Ausübung ihrer Gaben zeigte, korrigieren. So wird das, was wie eine Unterbrechung des Gedankengangs aussieht, zu einer sehr weisen Einschiebung zwischen Kapitel 12, welches uns die Austeilung der Gaben und ihre Wesenszüge vorstellt, und Kapitel 14, welches von der richtigen Ausübung derselben in der Versammlung Gottes spricht. Es gibt nur eine einzige sichere Triebkraft für die Ausübung einer Gabe, nämlich die Liebe. Ohne Liebe neigt sogar eine geistliche Gabe dazu, ihren Besitzer aufzublähen und jenen Schaden zuzufügen, die ihr Gegenstand sind.
Kapitel 14
Daher beginnt Kapitel 14 mit den Worten: „Strebet nach der Liebe; eifert aber um die geistlichen Gaben, vielmehr aber, daß ihr weissaget.“ Und warum? Das Weissagen schien unter den Korinthern etwas verachtet worden zu sein. Wunderwerke und Sprachenreden wurden vorgezogen, weil sie ihren Besitzern eine gewisse Wichtigkeit gaben. Solche Wunder überraschten die Menschen und zogen jenen die Aufmerksamkeit zu, welche mit einer offensichtlich übermenschlichen Kraft versehen waren. Doch der Apostel setzte fest, dass die Gaben, welche den Einsatz geistlichen Verständnisses benötigen, einen weit höheren Platz einnehmen. Paulus konnte mehr in Sprachen reden als sie alle. Es braucht auch wohl kaum hinzugefügt zu werden, dass er mehr Wunder bewirkt hat als irgendeiner von den Korinthern. Trotzdem schätzte er die Weissagung als das Höchste ein. Wir dürfen nicht denken, dass diese Gabe einfach vom Predigen durch einen Menschen spricht. Weissagen heißt nicht predigen. Darüber hinaus ist Weissagen auch nicht einfach Lehren. Zweifellos ist es eine Art von Lehren; aber es ist auch ein gutes Teil mehr. Weissagen ist jene geistliche Anwendung des Wortes Gottes auf das Gewissen, welche die Seele in Gottes Gegenwart stellt und dem Hörer wie aufstrahlendes Licht die Gedanken Gottes offenbar macht. Es gibt viel schätzenswertes Lehren, Ermahnen und Anwenden des Wortes, welches nicht diesen Charakter des Weissagens trägt. Solche Tätigkeiten gibt es durchaus. Aber sie stellen die Seele nicht in die Gegenwart Gottes. Sie liefern nicht jene absolute Sicherheit davon, dass Gottes Gedanken über dem Zustand eines Herzens aufblitzen und dasselbe vor Ihm richten. Ich rede jetzt nicht von den Unbekehrten, obwohl das Weissagen sowohl bei diesen als auch bei Bekehrten seine Wirkung entfalten kann. Unmittelbar angesprochen wurde hier natürlich das Volk Gottes. Wir sehen indessen im Verlauf unseres Kapitels auch den Ungläubigen, wie er in die Versammlung kommt, auf sein Angesicht fällt und anerkennt, dass Gott wahrhaftig unter ihnen war. Das ist die eigentliche Wirkung. Der Mensch fühlt sich in der Gegenwart Gottes gerichtet.
Es ist nicht nötig, auf alles einzugehen, was dieses Kapitel uns vorstellt. Wir sollten jedoch gut beachten, dass wir hier Danksagen und Preisen sowie Singen und Beten erwähnt finden. Sowohl das Weissagen als auch das Übrige werden als zu einer christlichen Versammlung gehörend dargestellt. Was nicht unmittelbar zur Erbauung dient, wie z. B. das Reden in einer Sprache, wird untersagt, es sei denn, ein Ausleger ist anwesend. Ich bezweifle sehr, dass es noch irgendeine Neuoffenbarung gab, nachdem die Heilige Schrift vollständig geschrieben war. Wenn wir annehmen, dass nach dem Abschluss dessen, was wir den biblischen Kanon nennen, etwas Neues göttlich offenbart wurde, schmälern wir Gottes Absicht in demselben. Aber wir können seine Güte gut verstehen, wenn Er hin und wieder besondere Offenbarung gab, bevor der letzte Teil seiner Gedanken in einer bleibenden Form für die Kirche (Versammlung) niedergeschrieben war. Das liefert indessen keine Rechtfertigung dafür, nach einer neuen Offenbarung auszuschauen, seitdem das Neue Testament vollständig ist. Aus dieser Tatsache ersehen wir eindeutig, dass die Bedeutung des Kapitels für uns gewisse Abänderungen erfahren muss. Falls also gilt, dass gewisse Kennzeichen nach dem Willen Gottes weitgehend ein Ende gefunden haben (z. B. Wunder, Sprachen oder Offenbarungen), dann sollten wir solche Wirkungen des Geistes offensichtlich nicht mehr erwarten. Aber diese Wahrheit setzt keinesfalls die christliche Versammlung beiseite oder die Verpflichtung, dasjenige nach dem Willen Gottes auszuüben, was der Heilige Geist immer noch ausdrücklich schenkt. Und zweifellos lässt Er alles andauern, was in dem gegenwärtigen Zustand seines Zeugnisses und seiner Kirche hienieden nützlich und zu Gottes Verherrlichung ist. Wenn es nicht so wäre, sänke die Kirche auf das Niveau einer menschlichen Institution ab.
Am Ende des Kapitels wird ein sehr wichtiger Grundsatz niedergelegt. Es ist sinnlos, wenn Menschen die gewaltige Macht Gottes als Entschuldigung anführen für irgendwelche Unordnung. Darin besteht der große Unterschied zwischen der Macht Gottes und der Macht der Dämonen. Die Macht eines Dämons ist normalerweise unbeherrschbar. Ketten, Fesseln, die ganze äußerliche Kraft des Menschen versagen vollkommen, einen Menschen zu binden, der von Dämonen erfüllt ist (vgl. Mk 5). Bei dem Geist Gottes ist das anders. Wo immer die Seele mit dem Herrn wandelt, ist die Kraft des Geistes Gottes stets mit seinem Wort verbunden und dem Herrn Jesus unterworfen. Niemand darf zu Recht behaupten, dass ihn der Heilige Geist treibt, wenn er dieses oder jenes tut, was nicht der Heiligen Schrift entspricht. Gegen die Bibel gibt es keine Rechtfertigung; und je mehr die wirkende Kraft von Gott ist, desto weniger wird ein Mensch wünschen, jenen vollkommenen Ausdruck der Gedanken Gottes beiseitezusetzen. Alles soll demnach anständig und in Ordnung geschehen – eine Ordnung, welche die Schrift vorgeben muss. Das einzige Ziel, welches von Gott in Hinsicht auf uns gestützt wird, besteht in unserer Auferbauung und nicht in Selbstentfaltung.