Einführender Vortrag zum Römerbrief
Kapitel 5
Jetzt wird die Seele zum ersten Mal als schon gerechtfertigt und im Besitz des Friedens mit Gott gezeigt. Das schildert den Zustand des Herzens und nicht die notwendige oder unmittelbare Frucht von Römer 3, obwohl er auf der Lehre von sowohl Römer 4 als Römer 3 beruht. Ohne beide Wahrheiten kann es keinen festen Frieden mit Gott geben. Eine Seele mag unbezweifelbar wirklich mit Gott in eine Verbindung gebracht worden sein und sich dadurch möglicherweise sehr glücklich fühlen. Doch das nennt die Bibel nicht „Frieden mit Gott“. Demnach lesen wir hier zum ersten Mal vom Heil in seinen großartigen Ergebnissen, welche in den Versen 1–11 unseres Kapitels vorgestellt werden: „Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus.“ Das ist der Eintritt in eine Stellung der Gunst – einer uneingeschränkten Gunst (vergl. Fußnote). Wie wir bemerken, wird der Gläubige nicht unter das Gesetz gestellt, sondern unter die Gnade, welche dem Gesetz genau entgegengesetzt ist. Die Seele ist in den Frieden mit Gott hineingestellt und findet ihren Platz in der Gnade Gottes. Darüber hinaus rühmt sie sich „in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes.“ Das ist sowohl Lehre als auch Wirklichkeit. Es ist also nicht einfach eine Berufung. So wie wir durch unseren Herrn Jesus Christus Zugang zur Gnade haben, in der wir stehen, so dürfen wir uns wirklich in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes rühmen. Wir werden wahrscheinlich bei der Betrachtung der Kapitel 3 bis 5 bemerkt haben, dass heutigentags nichts als die Tauglichkeit für die Herrlichkeit Gottes genügen kann. Unsere Stellung als Geschöpf steht außer Frage. Das war vorbei, als der Mensch sündigte. Nachdem Gott sich jetzt im Evangelium geoffenbart hat, geht es nicht mehr darum, was zum Menschen auf der Erde passt, sondern was für die Gegenwart der Herrlichkeit Gottes würdig ist. Nichtsdestoweniger erwähnt der Apostel in unseren Versen keineswegs ausdrücklich den Himmel. Dieser Hinweis wäre dem Charakter unseres Briefs nicht angemessen, anders jedoch die Herrlichkeit Gottes. Wir wissen alle, wo diese sich befindet und wo sie für einen Christen sein muss.
In dieser Weise werden also die Ergebnisse der Handlungsweise Gottes enthüllt. Zuerst erfahren wir von der allgemeinen Stellung des Gläubigen unserer Zeit in jeder Hinsicht, und zwar in Beziehung zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Darauf lesen wir vom irdischen Weg der Erlösten. Der Apostel zeigt, wie sogar die Schwierigkeiten auf unserem Pfad zu Gegenständen eines besonderen Rühmens werden. Das ist natürlich nicht ihre unmittelbare und ihnen innewohnende Wirkung, sondern das Ergebnis für die Seele aufgrund einer geistlichen Beschäftigung mit den Übungen. Der Herr bewirkt uns den Nutzen der Leiden; und wir beugen uns den Wegen und den Zielen Gottes darin. Daher führen die Trübsale zu einer reichen und fruchtbaren Erfahrung.
Darauf folgt ein weiterer und zudem krönender Teil des Segens: „Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch Gottes durch unseren Herrn Jesus Christus, durch welchen wir jetzt die Versöhnung empfangen haben“ (V. 11). Es sind also nicht nur die Segnungen in ihrem unmittelbaren Charakter oder indirekt durch ihre Wirkungen an uns, sondern der Geber ist auch selbst unsere Freude, unser Ruhm und unsere Herrlichkeit. Die geistlichen Folgen sind schon gesegnet für die Seele – wieviel mehr der Zugang zum Ursprung, aus der sie alle fließen! Dies ist demnach auch die unentbehrliche Quelle der Anbetung. Die Früchte werden hier nicht weiter ausgebreitet. Tatsächlich ist die Freude in Gott die notwendige Grundlage, damit Preis und Anbetung als einfältige und spontane Bewegungen des Herzens aufsteigen. Diese werden uns im Himmel vollkommen erfüllen. In unserem Brief gibt es keine vollkommenere Freude als diese und nichts Erhabeneres.
An diesem Punkt betreten wir einen sehr wichtigen Teil des Briefs, bei dem wir ein wenig verweilen müssen. Es geht nicht mehr um die Schuld des Menschen, sondern um seine Natur. Folglich beschäftigt sich der Apostel nicht wie in den früheren Kapiteln des Briefs mit unseren Sünden außer als Beweise und Symptome der Sünde. Deshalb verfolgt der Geist Gottes von Kapitel 5,12 an zum ersten Mal die Natur des Menschen zurück bis zum Haupt der menschlichen Rasse. Damit gelangen wir zu dem Gegensatz zwischen ihm und dem anderen Haupt, dem Herrn Jesus Christus. Wir lesen jetzt nicht von Ihm als demjenigen, der unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz getragen hat. Stattdessen ist Er hier die Quelle und das Haupt einer neuen Familie. Daher ist, wie im zweiten Teil unseres Kapitels gezeigt, Adam als Haupt durch Ungehorsam charakterisiert, der den Tod in die Welt gebracht hat als gerechte Strafe für Sünde. Auf der anderen Seite sehen wir den, von dem Adam ein Bild ist, Christus, den gehorsamen Menschen, der Gerechtigkeit in die Welt gebracht hat, und zwar auf eine einzigartig gesegnete Weise – nämlich zur „Rechtfertigung des Lebens“ (V. 18). Davon haben wir bisher nichts gehört. Wir lasen von Rechtfertigung sowohl durch das Blut als auch kraft der Auferstehung Christi. Aber die „Rechtfertigung des Lebens“ reicht weiter als das Ende von Kapitel 4, obwohl sie in der Auferstehung Christi enthalten ist. Nun erfahren wir, dass das Evangelium sich nicht nur mit der Schuld derer beschäftigt, welche von demselben angesprochen werden. Es redet auch von einem gewaltigen Werk Gottes, das den Menschen auf einen neuen Platz vor Gott stellt – tatsächlich ebenfalls wegen seines Glaubens. Dabei wird der Gläubige von allen Folgen gereinigt, in denen er als Mensch im Fleisch sich hienieden vorfindet.
Bezüglich dieser Lehre wird in der Christenheit viel gefehlt. Das liegt nicht daran, dass irgendein Teil der Wahrheit verborgen liegt. Es ist ein verhängnisvolles Brandmal jenes „großen Hauses“ (2. Tim.), dass sogar den grundlegendsten Wahrheiten größtes Unrecht angetan wird; und hinsichtlich der Lehre vor uns sieht es so aus, als sei sie völlig unbekannt. Ich hoffe, dass die Geschwister in Christus Nachsicht mit mir haben, wenn ich so große Bedeutung darauf lege, diese Wahrheit sorgfältig zu beachten. Es geht darum, dass die Seelen völlig in ihr gegründet sind; denn sie spricht von der richtigen Stellung eines Christen infolge des Todes und der Auferstehung Christi. Sie sollte allerdings nicht zu leichtfertig angenommen werden. Wir setzen ständig voraus, dass häufig besprochene Lehren, auch wirklich verstanden werden. Die Erfahrung zeigt indessen schnell, dass dem nicht so ist. Selbst jene, welche einen Platz der Absonderung zum Herrn außerhalb dessen suchen, was die Seelen dem Verderben entgegentreibt, werden nichtsdestoweniger tief von dem Zustand jener Christenheit beeinflusst, in der wir uns befinden.
In unseren Versen geht es also keinesfalls um Begnadigung oder Vergebung. Zuerst weist der Apostel darauf hin, dass der Tod in die Welt gekommen ist und dass das nicht eine Folge des Gesetzes war. Es gab ihn schon vorher. Die Sünde war schon in der Welt zwischen Adam und Mose, und zwar ohne Gesetz. Das umschließt, wie wir eindeutig sehen, die gesamte Menschheit. Mit diesem weitreichenden Thema beschäftigt Paulus sich hier. Der Gegensatz zwischen Christus und Adam betrachtet den Menschen allgemein gesehen und somit auch den Christen. Und, ach, der Mensch befand sich zweifellos in Sünden vor dem Gesetz, während der ganzen Zeit des Gesetzes und auch danach. Somit stützt sich der Apostel offensichtlich in seinem Vergleich auf die breiteste Grundlage, obwohl wir noch mehr finden werden.
Ein Jude mochte nun einwenden, dass es dem Grundsatz nach ungerecht sei – dieses Evangelium, diese Botschaft, von welcher der Apostel erfüllt war. Warum sollte ein einziger Mann eine solch große Wirkung auf so viele, ja, alle Menschen, ausüben? „So nicht!“, antwortet der Apostel. „Warum erscheint dir dies seltsam und unglaubhaft? Es liegt doch vor Augen (und das Wort, vor dem wir alle uns beugen, bestätigt dies), dass die Sünde eines einzigen Menschen unbestreitbar allgemeines Verderben und den Tod in die Welt gebracht hat. Auch wenn du noch so stolz auf das bist, was dich von anderen Menschen unterscheidet, kannst du doch kaum Sünde und Tod als das für dich Normale bezeichnen, noch zu dem Gesetz in eine passende Beziehung bringen. Es geht um die ganze Menschheit und nicht um Israel allein.“ Nirgendwo wird diese Wahrheit so überzeugend bewiesen wie im 1. Buch Mose; und der Apostel ruft durch den Geist Gottes ruhig und doch unwiderlegbar die jüdischen Schriften als Zeugen auf, um das zu bekunden, was die Juden so eifrig leugneten. Ihre eigenen Schriften sagen eindeutig, wie nichts sonst es könnte, dass alles Elend, welches wir jetzt in der Welt finden, und die Verdammung, die über der menschlichen Rasse hängt, das Erbe eines einzigen Mannes und in Wirklichkeit die Frucht einer einzigen Tat ist.
Wenn es nun für Gott gerecht war (und wer vermag es abzustreiten?), die gesamte Nachkommenschaft Adams um eines Mannes, ihres gemeinsamen Vaters, willen dem Tod zu unterwerfen, wer könnte dann die umfassende Wirksamkeit der Rettungstat eines einzigen Mannes leugnen? Wer könnte Gott desjenigen berauben, woran Er Wohlgefallen findet, nämlich der Freude, durch jenen einen Menschen, wovon Adam ein Bild ist, andere in die Freiheit zu führen? Daher stellt Paulus die von jedem Israeliten anerkannte und unbestreitbare Wahrheit von der allgemeinen Verwüstung auf der ganzen Erde durch einen einzigen Menschen jener einen Person gegenüber, welche (nicht allein Begnadigung, sondern auch wie wir finden,) ewiges Leben und Freiheit gebracht hat. Diese Freiheit erhalten wir jetzt in der freien Gabe des Lebens. Sie wird zur Freude der Seelen niemals enden, auch wenn letztere sich ihrer erst in Vollkommenheit erfreuen können, wenn sie auch den Leib erfasst, der jetzt noch seufzt. Das geschieht um des Heiligen Geistes willen, der in ihm wohnt.
Hier wird uns demnach ein Vergleich zwischen den beiden großen Häuptern – Adam und Christus – und die unermessliche Überlegenheit des Zweiten Menschen gezeigt. Dieser beinhaltet nicht einfach Begnadigung von vergangenen Sünden, sondern auch die Befreiung von der Sünde und bald von allen ihren Folgen. Der Apostel spricht jetzt von unserer Natur. Das ist der entscheidende Punkt. Dieses Problem beschäftigt eine erneuerte, gewissenhafte Seele vor allem; denn sie ist überrascht, das tiefgründige Böse in ihrem Fleisch und ihren Gedanken immer noch vorzufinden, nachdem sie doch die große Gnade Gottes in der Gabe Christi erfahren hat. Wenn Gott solch ein Erbarmen mit mir gehabt hat, wenn ich so wahrhaftig und vollkommen gerechtfertigt worden und wirklich ein Gegenstand der ewigen Gunst Gottes bin – wie kann es sein, dass ich ständig das Böse in mir empfinden muss? Warum bin ich immer noch in Banden und Elend durch das unaufhörlich wirkende Böse meiner Natur, über welches ich überhaupt keine Gewalt zu haben scheine? Kann Gott mit seiner Macht davon nicht befreien? Die Antwort auf diese Fragen wird in diesem Abschnitt unseres Briefs (das ist ab der Mitte von Kapitel 5) gegeben.
Nachdem er also zunächst die Quellen und den Charakter der Segnung im Allgemeinen, soweit es die Befreiung betrifft, dargestellt hat, fasst der Apostel am Ende des Kapitels das Ergebnis zusammen: „Auf daß, gleichwie die Sünde geherrscht hat im Tode, also auch die Gnade herrsche durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben“ (V. 21). Sein Thema ist also die jetzige Rechtfertigung des Lebens durch Jesus Christus, unseren Herrn. Das findet in den beiden folgenden Kapiteln seine Anwendung.