Einführender Vortrag zum Römerbrief
Kapitel 4
Das Dargelegte umfaßt indessen nicht den ganzen Umfang des Heils. Darum lesen wir nichts von der Errettung als solcher im 3. Kapitel. Dort wird die notwendigste aller Wahrheiten als Fundament des Heils niedergelegt, nämlich die Sühne und wird Gott in seinen Wegen mit den Gläubigen des Alten Testaments gerechtfertigt. Er war über ihre Sünden hinweggegangen. Zur damaligen Zeit konnte Er sie nicht vergeben. Das wäre nicht gerecht gewesen; und die Glückseligkeit des Evangeliums besteht gerade darin, dass letzteres nicht allein ein Ausdruck der Barmherzigkeit, sondern vor allem der göttlichen Gerechtigkeit ist. Es wäre nicht gerecht in irgendeinem Sinn gewesen, die Sünden zu vergeben, bevor sie nicht wirklich von jemand getragen worden waren, der für sie leiden konnte und gelitten hat. Das ist jedoch inzwischen geschehen; und auf diese Weise hat Gott sich vollkommen hinsichtlich der Vergangenheit gerechtfertigt. Aber dieses große Werk Christi konnte sich nicht einfach auf die Rechtfertigung Gottes beschränken. Andere Gesichtspunkte finden wir auf unterschiedliche Weise in verschiedenen Teilen der Heiligen Schrift dargestellt, wie ich im Vorbeigehen erwähnen möchte, um damit zu zeigen, welchen Punkt wir nun erreicht haben. Gottes Gerechtigkeit hinsichtlich der Sünden in der Vergangenheit ist jetzt offenbar geworden, welche Er wegen seines „Hingehenlassens“ damals nicht ins Gericht gebracht hat; und wir erkennen seine Gerechtigkeit noch auffallender in der gegenwärtigen Zeit, wenn Er dieselbe in der Rechtfertigung des Glaubenden offenbart.
Das ist jedoch nicht alles; und die Einwände des Juden geben dem Apostel die Gelegenheit, noch voller das Wesen Gottes zu enthüllen. Zog ersterer sich auf Abraham zurück? „Was wollen wir denn sagen, daß Abraham, unser Vater, nach dem Fleische gefunden habe? Denn wenn Abraham aus Werken gerechtfertigt worden ist, so hat er etwas zum Rühmen, aber nicht vor Gott“ (V. 1–2). Bildete der Jude sich ein, dass das Evangelium Abraham und Gottes Handeln mit ihm zu wenig beachtet? Keineswegs, sagt der Apostel. Abraham ist ein Beweis vom Wert des Glaubens bei der Rechtfertigung vor Gott. Abraham glaubte Gott, und dies wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet. Damals und dort gab es kein Gesetz, denn Abraham starb lange vorher, bevor Gott vom Sinai herab sprach. Er glaubte Gott und seinem Wort, was Gott besonders zur Kenntnis nahm; und sein Glaube wurde zur Gerechtigkeit gerechnet. Diese Wahrheit wird kräftig bestätigt durch das Zeugnis eines weiteren großen Namens in Israel (David in Psalm 32): „Denn Tag und Nacht lastete auf mir deine Hand; verwandelt ward mein Saft in Sommerdürre. Ich tat dir kund meine Sünde und habe meine Ungerechtigkeit nicht zugedeckt. Ich sagte: Ich will Jahwe meine Übertretungen bekennen; und du, du hast vergeben die Ungerechtigkeit meiner Sünde. Deshalb wird jeder Fromme zu dir beten, zur Zeit, wo du zu finden bist; gewiß, bei Flut großer Wasser – ihn werden sie nicht erreichen. Du bist ein Bergungsort für mich; vor Bedrängnis behütest du mich; du umgibst mich mit Rettungsjubel. Ich will dich unterweisen und dich lehren den Weg, den du wandeln sollst; mein Auge auf dich richtend, will ich dir raten.“
Auf dieselbe Weise widerlegt der Apostel auch alle Einwände, die sich auf die Anordnungen Gottes beziehen, insbesondere auf die Beschneidung. Abraham wurde nicht nur ohne Gesetz gerechtfertigt, sondern auch unabhängig von jenem großen Zeichen von der Abtötung des Fleisches. Obwohl die Beschneidung mit Abraham begann, hatte sie offensichtlich nichts mit seiner Gerechtigkeit zu tun. Bestenfalls war sie das Siegel auf seine Gerechtigkeit aus Glauben, die er in seinem unbeschnittenen Zustand hatte. Demnach konnte die Beschneidung weder die Quelle noch das Mittel zu seiner Gerechtigkeit sein. Alle Gläubigen dürfen ihn infolgedessen – auch wenn sie unbeschnitten sind – als ihren Vater für sich beanspruchen, indem ihnen versichert wird, dass auch ihnen Gerechtigkeit zugerechnet wird. Außerdem ist Abraham der Vater der „Beschneidung“ in ihrem höchsten Sinn nicht allein für die Juden, sondern auch für die gläubigen Nichtjuden. So stärkt die Beschäftigung mit Abraham nur die Stellung der „Vorhaut“, welche glaubt, und nimmt den Juden ihren größten Anlass zum Rühmen. Der Hinweis auf ihren inspirierten Bericht über Abraham wendet sich zu einem Beweis von der Folgerichtigkeit der Wege Gottes, wenn Er durch Glauben rechtfertigt. Daher wird die „Vorhaut“ nicht weniger gerechtfertigt als die „Beschneidung“.
Wir finden indessen in Kapitel 4 noch mehr. Der Apostel entnimmt dem Leben Abrahams noch einen dritten Gesichtspunkt. Das ist die Verbindung der Verheißung mit der Auferstehung. Wir lesen nicht nur von der Aufhebung des Gesetzes und der Beschneidung; wir erkennen auch eine positive Seite. Das Gesetz bewirkt Zorn, denn es ruft Übertretung hervor. Die Gnade bestätigt die Verheißung dem ganzen „Samen“, und zwar nicht nur deshalb, weil sie den Heiden und Juden in gleicher Weise offensteht, sondern auch weil Gott ein Auferwecker der Toten ist. Was könnte Gott mehr verherrlichen? Abraham glaubte Gott, als es sowohl ihm als auch Sara unmöglich geworden war, dem Lauf der Natur nach ein Kind zu bekommen. Darum wird die lebengebende Macht Gottes herausgestellt – natürlich eingebettet in eine geschichtliche Darstellung eines Lebens auf der Erde und seiner daraus folgenden Nachkommenschaft. Dennoch ist sie ein sehr treffendes und wahres Bild der Macht Gottes zugunsten des Gläubigen – ein Symbol von der lebengebenden Kraft Gottes in einer noch gesegneteren Form. Diese Analogie zu jenen Personen, die in alter Zeit auf einen verheißenen Erlöser warteten, führt uns auch zu einem wichtigen Unterschied. Dieser besteht in der Tatsache, dass Abraham Gott glaubte, bevor er einen Sohn hatte, indem er vollkommen überzeugt war, dass Gott auch auszuführen vermag, was Er verheißt. Darum ist es ihm auch zur Gerechtigkeit gerechnet worden. Wir hingegen glauben an den, der Jesus, unseren Herrn, aus den Toten auferweckt hat. Es ist schon geschehen. Hier geht es nicht um unseren Glauben an Jesus, sondern an Gott, der bewiesen hat, wer Er ist, indem Er den aus den Toten auferweckte, „welcher unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist“ (V. 25).
Das stellt eine ganz entscheidende Wahrheit und besondere Seite des Christentums vor unsere Blicke. Letzteres ist nicht ein System von Verheißungen, sondern vielmehr eine Verheißung, die in Christus erfüllt wurde. Es ist notwendigerweise nicht auf die Gabe eines Heilands gegründet, der nach der Barmherzigkeit Gottes einst auftreten wird, um unsere Sünden zu tragen. Nein, inzwischen ist Er offenbart sowie das Werk geschehen und von Gott angenommen. Das dürfen wir daran erkennen, dass Gott selbst eingegriffen hat, indem Er Ihn aus den Toten auferweckte. Diese herrliche und bedeutungsvolle Tatsache wird den Seelen eindringlich nahegebracht. Tatsächlich stellen wir fest, dass die Apostel überall in der Apostelgeschichte auf diese Wahrheit sehr großes Gewicht legen. Hätten wir nur Römer 3, könnten wir den vollen Frieden mit Gott, wie wir ihn besitzen, nicht genießen. Wir mögen eine wirklich feste Verbindung zu Jesus kennen; das führt aber nicht notwendigerweise zu einem bewussten Frieden mit Gott. Eine Seele mag empfinden, dass das Blut Christi einem noch tieferen Bedürfnis entspricht; aber auch dies allein gibt noch keinen Frieden mit Gott. In einem solchen Zustand wird häufig das, was in Jesus gefunden wird, sozusagen missbraucht, um einen Unterschied zu machen zwischen dem Heiland auf der einen Seite und Gott auf der anderen. Ein solches Verhalten ist immer verderblich für den Genuß der vollen Segnung des Evangeliums. Es gibt indessen keinen anderen Weg, auf dem Gott eine Grundlage für den Frieden mit Ihm selbst legen konnte, der gesegneter ist als der, den Er gegangen ist. Jetzt besteht keine Frage mehr hinsichtlich der Sühne. Dieses Wissen in Bezug auf Gott benötigt ein Sünder zuerst. Das fanden wir vollständig in Römer 3. Hier in unserem Kapitel lesen wir außerdem von der wirksamen Macht Gottes, welche den aus den Toten auferweckt hat, der um unserer Sünden willen dahingegeben und zu unserer Rechtfertigung auferweckt wurde. Das ganze Werk ist vollbracht.